von Bernd Kleber

Über der alten Kochmaschine, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr warm geworden war, hing das Leinentuch mit dem Spruch: Eigen Herd ist Goldes wert. Elfriede saß in ihrer Wohnküche und schüttelte den Kopf, als würde sie ununterbrochen verneinen. Ihre Hände ruhten in ihrem Schoß. Die Küchenlampe mit dem hellblauen Glasschirm schickte diffuses Licht in den Raum. Das Fenster schwarzdunkel und zugemauert. Was war passiert?

Elfriede war mit ihrem Einkaufsbeutel nach Hause gekommen, immer nur so viel sie tragen konnte, „Morgen ist ja auch noch ein Tag“. Da war ihr gleich aufgefallen, dass die Sonne keinen Weg durch die Küche in den Korridor fand. Sie hatte den Beutel fallen gelassen und war in die Wohnküche geeilt. Elfriede stand starr mitten im Raum, den Mund geöffnet und betrachtete das Dunkel vor sich. Ihr Blick tastete das Fenster ab, zaghaft, als könnten sich ihre Augen am Gesehenen verbrennen. Graue grobporige Betonsteine türmten vor dem Fenster. Elfriede runzelte die Stirn, schritt näher. Selbst, als sie die Fensterflügel öffnete und mit dem Fingerknöchel gegen die Wand klopfte, blieben es Steine.

„Die spinn´ doch total. Dürfen die dit überhaupt? Da hat man die Nazizeit überlebt und dann ditte!“, schimpfte sie nun. Sie lief auf und ab und sortierte sich ein Abendessen. Schnitt eine Scheibe Brot mit der Maschine, musste fest kurbeln, der Laib war hart. Sie legte die Stulle auf ein Brettchen. Stellte neben den Kräuterquark die Glasglocke mit Butter und kullerte zwei Radieschen und eine Tomate dazu. Das Wasser im Kessel brodelte und sie goss sich einen Kräutertee auf. Als sie saß, griff sie nach den Papieren. Vierzehn Seiten, überschrieben mit „Ablösevertrag“! Fett war eine Summe eingetragen: 30.000 Euro. Die würde sie bekommen, wenn sie den Vertrag unterschrieb und aus der Wohnung zog.

Sie sah sich um. Da reckte sich der Hocker, auf dem ihr Großer zu Kinderzeiten von ihr abgeseift wurde und darunter schlummerte die Emailleschüssel, in der er gebadet hatte. Da thronte das Küchenbuffet, das sie 1958, bei Langhorns gekauft hatten. Da kauerte der Wäschekorb, auf dem ihre Tochter Luise so gerne gesessen hatte.

Einundneunzig war sie nun, dreimal Oma, viermal Uroma. Und jetzt sollte sie ausziehen. Das ist die Wohnung, in der sie geboren war. Dort wo der Wäschekorb jetzt seinen Platz behauptete, quetschte sich einst ihr Bett, in dem sie mit ihrer Schwester geschlafen hatte. Oft wurden sie geweckt, weil mitten in der Nacht die Sirenen zum Fliegeralarm heulten. Dann ging es bis zum Morgengrauen ab in den Keller! All das überlebt!

Und wie sie gestrahlt hatte, als die Hausverwaltung in die Speisekammer eine Dusche einbaute. Sie durfte sich die Fliesen aussuchen, himmelblau. Otto war da schon tot. Krebs!

Nun war der Häuserblock verkauft und sie die letzte Mieterin in dem Aufgang. Alle waren ausgezogen, sogar Emmi Müller, mit der sie als Kind die Schulbank teilte. „Elfi, it hat doch keenen Sinn, wir zieh´n sowieso den Kürzern, nimm det Geld. Hier komm´ Luxuswohnungen rin, jede Etasche nur eene Wohnung machen die draus. Die jeben dir am Ende gar nischt mehr und klajen uff Räumung. Nebenan haben se schon anjefangen, den neuen Block zu bauen, der direkt ans Haus anschließt. Deine Küchenseite wird zujemauert.“

Elfriede schüttelte nur den Kopf. Das tat sie oft. Auch als ihre Kinder die Seniorenresidenz vorgeschlagen hatten, und sie könne doch die Ablöse dort gut einsetzen. Vollverpflegung, Friseur im Haus, immer Gemeinschaft und Geselligkeit, wäre immer versorgt. Sogar Möbel dürfe sie mitnehmen. Aber sie verneinte wieder.

„Kommt ja überhaupt nich´ in Fraje. Meene Taje sind jezählt, ick sterbe da, wo ick jeborn wurde. In meener Küche! Aus und basta!“ Sie hatte wieder laut vor sich hingesprochen, die Worte wiederholt, an die sie sich erinnerte.

Auf dem Weg zur Toilette hörte sie ein Rauschen. Elfriede blieb im Korridor stehen und kippte den Kopf. Das Geräusch kam vom Hausflur. Was denn nun wieder? Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass die Bauarbeiter längst Feierabend hatten, 21.50 Uhr.

Sie schlich zur Wohnungstür und öffnete sie einen Spalt. Das Brausen war jetzt sehr laut, zischend und bedrohlich. Dann schritt sie auf den Absatz. Ihre Socken wurden sofort nass. Sie blickte auf einen Wasserfall, der sich auf sie zustürzte. Wo kam denn all das Wasser her? Es sah quelllebendig aus, als fehlten nur springende Lachse auf ihrem letzten Weg in die Heimat, abzulaichen und zu sterben. So träumte sie einige Sekunden, beobachtete sich kräuselnde Wasserbahnen, die sich an ihr vorbei, sie umspülend und weiter das Treppenhaus hinunterschossen. Eilig lief sie in ihre Wohnung zurück, holte zwei Küchenhandtücher und stopfte sie kniend vor die Wohnungstür, denn im Korridor wurde es feucht. Dann griff sie zum Telefon und wählte eine Nummer, die neben dem Apparat groß auf einem Notizblock prangte.

„Hagen, ja bitte!“, brummte eine Stimme in den Hörer.

„Ja, hallo Herr Hagen, Elfriede Schuster hier. Wissen Se ejgentlich, dass ick immer mal zu den Niagarafällen wollte und nie dat Geld dafür hatte? Und nun zischen die an meener Tür direkt vorbei und erjießen sich ins Parterre. Romantisch! Ick danke Ihnen vielmals!“ Dann legte sie auf, ohne auf eine Reaktion zu warten.

„Der spinnt doch wohl, sind ja Methoden wie in eener Bananenrepublich! Denkt, er bekommt ma so hier raus. Denkst´e Puppe!“ Sie lachte laut auf.

Am nächsten Morgen, sie hatte erholsam geschlafen, lief sie als Erstes zur Wohnungstür, schob mit dem Fuß die Handtücher beiseite und öffnete. Kein Wasser mehr. Der Spuk war vorbei. Sie grinste und schloss die Tür wieder. Dann ging sie pfeifend in die Küche und füllte den Teekessel. Die Melodie, die sie pfiff, ließ sie strahlen: Heut’ ist ein wunderschöner Tag. Die Sonne lacht uns so hell …

Nach ihrer Morgentoilette, einer Tasse Kaffee sowie einer Scheibe Weißbrot mit selbstgemachter Kirschmarmelade, zog sie ihre Schuhe an, griff Mantel und Tasche. Fertig! Wer rastet, der rostet. Einkauf!

Sie brauchte Milch, Kaffee und Kartoffeln. „Dat wird heut een schwerer Einkaufsbeutel, Elfi. Aber Du schaffst dit. Kannst ja absetzen und Pause machen“, bedachte sie laut vor sich hin. In der Küche zog sie die Übergardinen vor das dunkle Fenster und sah nun auf Kaffeemühlen und Bohnen, die sich als Muster dort fanden. „Wann hab ick die jekauft? … ähm, war Luise schon da? … Ja! … also muss dit ´63 jewesen sein. Tolle Qualität war dit damals.“

Sie zog das hellgraue Kostüm an und die dunklen Pumps, griff den Beutel, verstaute die kurze Harke und verließ die Wohnung. Als sie die Tür ins Schloss zog, fiel ihr auf, wie laut es schallte. „Ja, so is dit, wenn man allene im Haus lebt. Hausbesitzer!“, sie kicherte und schritt die Treppe hinab.

Auf der Straße empfing sie Baulärm und Staub. Sie bewegte sich bis an den Straßenrand, drehte sich um, besah sich das Nachbarhaus, das da in die Höhe gewachsen war und nun ihr Küchenfenster verdeckte. „Wat für´n Scheißklotz!“, wetterte sie und lief kopfschüttelnd weiter.

Auf dem Friedhof angekommen, kniete sie sich auf den leeren Einkaufsbeutel, entfernte Blätter, die auf dem Grab lagen und harkte die Fläche zwischen der kleinen Buchsbaumhecke frei. Die Blumen in der Vase sortierte sie ein wenig. Die Harke diente ihr als Stütze als sie sich wieder langsam in den Stand erhob, dann strich sie ihren Rock glatt. „Otto, du kannst dir jar nich vorstellen, wat bei uns Zuhause los is. Die wollen ma raushaben und allit neu bauen, ick bin die Letzte im Haus, jestern haben se irgendwo Wasser anjestellt, wollten ma wohl Angst machen und in de Küche wird nie wieder die Sonne scheinen. Aber ick bleib dort, bis ick heimjeholt werde und wir uns wiedasehn. Mich kriejen die nich kleen!“, sie lächelte, winkte zum Abschied und trabte den Hauptweg hinunter dem Ausgang entgegen. Dabei nickte sie immer wieder zu den Gräbern links und rechts.

Im Lebensmittelmarkt traf sie die Tochter von Emmi, ihre Freundin Hilde. Die fragte und hob dabei die Hand vor den Mund: „Elfi, sach ma, wat issen bei dir da los, steht dit neue Haus nicht direkt vor deiner Küche? Dit jeht doch nich!“

„Ja, ja, der Hagen will ma rausjrauln, hat jestern ´n Wasserfall im Hausflur fabriziert, aber da musser schwerere Geschütze uffahrn, ick hab nich nur den Kriech überlebt.“

„Aber, Elfi, zieh doch in unser Haus, sind doch nur vier Hausnummern weiter, Parterre neben dem netten Grejor is ne Wohnung frei. Eineinhalb Zimmer, Küche, Bad. Schlafzimmer zum Hof raus. Ick würd ma so freuen, ick kann dit für dich klarmachen. Und meenen Benjiro frag ick mal, wie dit mit so ner Petition funktioniert, dit ist ja dieses neumodische Genderrifizierung oder wie dit heeßt, wat die da mit dir machen! Oder du jehst zum Mieterverein!“

„Nee, lass ma Hilde, dit is wirklich nett von dir. Ick bleib da, wo ick hinjehöre, keenen Tapetenwechsel mehr. Eenen alten Baum ver-flanzt man nich. Bis zum letzten Atemzug findet man mich im Schoß meener Heimstatt! Tschüssi meene Hilde!“

Sie hatte es eilig, der Beutel schnürte in ihrer Hand. Im Schreibwarenladen „Pepi“ kaufte sie auch etwas ein. Als Elfriede die Straße wieder betrat, lächelte sie breit.

Später in der Nacht, als nur die eine Gaslaterne spärlich die Straße beleuchtete und die Strahler des Bauschildes, alle anderen Leuchten waren durch den Bau abgestellt worden, schlich eine schmale Gestalt aus dem Haus, indem nur noch Elfriede lebte. Die Gestalt hatte die Kapuze eines Hoodies tief in die Stirn gezogen, man konnte die Gesichtszüge nicht erkennen. Sie positionierte sich und warf kleine Farbbeutel in verschiedenen Tönen gegen das Bauplakat der Firma Hagen. Zwischen jedem Wurf lachte sie auf und rief „Jawoll!“. Irgendwann sah das Plakat aus wie ein zeitgenössisches Gemälde des Expressionismus mit senkrechten Farbverläufen, kein Buchstabe mehr zu erkennen. Als die Person scheinbar keine Farbbeutel mehr hatte, verschwand sie mit einem flatternden Einkaufsbeutel pfeifend im Haus: „Heut´ ist ein wunderschöner Tag …“

V3/9943