Von Kassandra Mertiny

 Er besaß eine beachtliche Menge an Seidenkrawatten in allen Farben. Die maßgeschneiderten Hemden und Anzüge hingen säuberlich aufgereiht in seinem Schrank. Die rahmengenähten Schuhe standen gleich darunter. In den kleinen Fächern lagen Krawattennadeln und die Manschettenknöpf – klein, aber edel. Links im Schrank die Kaschmirpullover. Er kannte sich aus. Hatte jahrelang die Kleidung seiner Kommilitonen aus gutem Haus analysiert. Jede Marke, jeden Knopf. Den Sitz ihrer Mäntel. Auswendiggelernt wie Vokabeln. Professor Dr. Wiegmann. Universität Bayreuth. Bürgerliches Recht. Stilsicher. Immer wie aus dem Ei gepellt. Umweht von klassischem Chanel. Männerduft „Allure“. Ein Mann wie aus einem Katalog.

Vielleicht ein wenig steif. Ein wenig maskenhaft. Es gab sogar kurze Momente, wo seine sorgfältig eingeprägten Small-Talk-Sätze nicht trugen. Wo einen die Leere ansprang zwischen den Worten. „Die Westküste Italiens ist besonders schön um diese Jahreszeit.“, tönte es aus ihm. Oder „Schauen Sie sich unbedingt das Turiner Grabtuch an.“ oder „Als ich für ein halbes Jahr in New York studiert habe, waren die Theateraufführungen im Central Park ein großartiges Highlight.“ –

Aber nun war er in der Klemme. Professor Dr. Wiegmann. Dass sein Kollege dazu fähig sein konnte, hatte er nicht erwartet. Nur weil er die Professur bekommen hatte. Er hatte ja nicht ahnen können, dass sein Studienkollege Max ihn beschuldigen würde, seine Doktorarbeit abgeschrieben zu haben. Und nun stand er hier. Der Dekan verschränkte die Arme. Die Kollegen von der Fakultät schwiegen betreten. „Und?“, fragte der Dekan. Er schwitzte in seinem dunkelgrauen Maßanzug. Seine Hände umklammern seinen Kugelschreiber. Gesicht entspannen! dachte er. Stirnfalten locker lassen. Lächeln. Aber nur leicht. Ganz leicht. Positiv denken! – „Aber meine Herren!“, sagte er „Das glauben sie doch nicht wirklich.“ –

Der Dekan schaute streng. Kniff die Augen zusammen. „Dann können sie sich ja ganz entspannt der Überprüfung stellen.“ – Der Schweiß durchfeuchtete das teure Hemd. Begann das Jackett zu durchdringen. Bald würden Flecke in den Achseln sichtbar werden. Wieso kam das jetzt ans Licht? Das war zehn Jahre her. Was konnte er tun? Was? Er lächelte leicht. „Kein Problem“, hörte er sich sagen. Der Stift entglitt seinen feuchten Händen und fiel zu Boden.

 

Am nächsten Tag fand die Vorlesung „Bürgerliches Recht“ nicht statt. Auch am folgenden Tag nicht. Ebenso wie die große Übung und das Seminar. Professor Dr. Wiegmann blieb verschwunden und mit ihm seine Seidenkrawatten, Hemden und Anzüge. Die Schuhe, die Krawattennadeln und die Manschettenknöpfe. Er hinterließ eine leere Wohnung. So als ob es ihn nie gegeben hätte. Vielleicht war er nur eine Idee gewesen. Nur ein Gedanke seiner selbst.