Von Denise Fiedler

Der Dachboden war gepflegt wie der Rest des Hauses. Markus stand in der Tür, die Hände in den Hosentaschen, starrte er auf das Sammelsurium aus Vergangenheit.

Regale zierten die Wände, gespickt mit Kisten unterschiedlicher Größe, alle mit der zierlichen Schrift seiner Mutter versehen.

Zielstrebig steuerte sie eine an. Die Locken hüpften dabei auf und ab, als gehörten sie einem Mädchen und nicht einer Frau, die auf die Sechzig zuging.

»Schmeißt du eigentlich auch mal etwas weg?«, fragte er.

»Ich bin grad am Aussortieren.« Ihre Stimme war gedämpft. Kopfüber wühlte sie in der Kiste. Sie hob eine Hand und deutete in eine Ecke. »Zweites Regal, ganz unten.«

Er musste nicht lange überlegen, welche Box sie meinte.

Heinz stand in Druckbuchstaben drauf, weniger filigran, fast lieblos hingekritzelt.

Mit klammen Händen zog er die Kiste hervor. Jede Menge Krempel, ein paar Fotografien. Eine zeigte den Vater, wie er grinsend einen Fang präsentierte, eine andere vor dem Weihnachtsbaum, mit Markus auf dem Schoß. Unter den Bildern ein Hut mit breiter Krempe, daneben der Aaltöter.

Markus schluckte. Das Werkzeug ähnelte in der Form einem Ypsilon, mit einem tödlichen Dorn, der bei Druck hervorschnellte. In seiner Erinnerung war er schwerer.

»Hah!« Seine Mutter hielt triumphierend eine kleine Spieluhr hoch. Sie drehte an dem Aufzieher und die Melodie von „Guten Abend, gute Nacht“ erfüllte den Raum.

»Die hat dir schon beim Einschlafen geholfen.«

Markus verzog das Gesicht. »Nadine ist erst im dritten Monat.«

»Ich habe neulich in einer Zeitschrift gelesen, dass man eine Spieluhr auf den Bauch legen soll. Das ist gut für das Baby.«

Den Blick von ihr abgewandt, verdrehte er die Augen. Er wusste, dass eine Diskussion sinnlos war.

»Schau, ob du irgendetwas von den Dingen gebrauchen kannst. Der Rest landet in der Tonne.« Sie ging an ihm vorbei. Ihren Schritten auf der Treppe lauschend, verharrte er. Früher hatte er das oft getan, bis tief in die Nacht hinein. Erst als die Tür zum Schlafzimmer ins Schloss fiel und die Matratze unter ihrem Gewicht knatschte, wagte er

einzuschlafen, in der Hoffnung, dass sie am nächsten Morgen noch da war.

Er stand auf und folgte ihr.

Die Küche war erfüllt vom Duft frisch aufgebrühten Kaffees. In den Schränken klirrte es, als seine Mutter das Geschirr herausholte.

»Am Samstag komme ich euch besuchen. Ich möchte gerne die Kinderzimmermöbel kaufen. Ich hab da auch schon ein paar Ideen, die wollte ich mit Nadine besprechen.«

Markus nickte. Seit Wochen gab es nur noch das Thema Baby. Sein Magen krampfte sich zusammen, nicht das erste Mal in letzter Zeit. Er drückte den Dorn des Aaltöters nach vorne.

Sie setzte sich ihm gegenüber, nippte an der Tasse. Manikürte Nägel, immer adrett. Ihre Augen fixierten ihn, schienen in seine Seele schauen zu wollen, in einer Art, wie es nur eine Mutter vermochte.

»Du bist nicht wie er, das weißt du.«

Er atmete tief ein. »Ich weiß.«

Mit den Fingern trommelte er auf der Tischplatte. »Triffst du dich dienstags nicht immer mit deiner Nachbarin?«

Kurz schürzte sie die Lippen, schien zu überlegen, dann nickte sie. »Ja, aber erst heute Abend.«

Das Schweigen war erdrückend. Die Stille nur durchbrochen vom Rauschen der A40. Ein Geräusch, das er vermisste, seit er in einen anderen Stadtteil gezogen war. Wie oft hatte er die Augen geschlossen und sich vorgestellt, es wäre das Meer, das rief.

Er löste sich von diesem Gedanken und schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Ich muss los. Ich möchte nicht, dass Nadine mit dem Essen auf mich warten muss.« Er nahm einen Schluck aus der Tasse, griff nach der Spieluhr und dem Aaltöter, drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Stirn und eilte hinaus.

Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Einen Moment hielt er inne, sog die Luft ein. Es roch nach Regen.

Das Auto stand nur wenige Meter entfernt. Seine Finger umspannten das Lenkrad.

»Du bist nicht wie er.«

Wie war er denn?

Hustend startete der Wagen. An der Kreuzung zögerte Markus. Anstatt nach Hause zu fahren, wählte er die entgegengesetzte Richtung.

Er parkte an einem Feld, den Rest würde er zu Fuß gehen.

Nur wenige Menschen waren unterwegs. Ein Mann, der seinen Hund hetzte. Wahrscheinlich wollte er vor dem Regen zu Hause sein. In einiger Entfernung das Zelt eines Anglers.

Markus Schuhe hinterließen tiefe Abdrücke in der Erde. In dunkler Gelassenheit schlängelte sich der Fluss durch die Landschaft.

Fließendes Wasser hatte einen eigenen Geruch, den er nie ganz benennen konnte. Irgendwie süß, aber auch leicht modrig, nicht so abgestanden wie ein Teich.

Die ersten Tropfen fielen.

Aale fängt man am besten in der Nacht, je dunkler, umso besser, hörte er die Stimme des Vaters. Dann jagen sie. Man kann aber auch am Tag Glück haben, wenn es bedeckt ist, nach dem Regen, wenn die Würmer ins Gewässer gespült werden.

Erinnerungen waren seltsam, der Klang der Worte schien sich tief in ihnen eingebrannt zu haben.

 

Er setzte sich ans Ufer. Dachte sich zurück, als er hier mit dem Vater saß. Der Versuch eines Zehnjährigen, am Leben eines Mannes teilzuhaben. Eines Mannes, der auf Weihnachtsfotos immer in die Ferne sah, während alle anderen fröhlich in die Kamera lachten.

Beim Angeln war das anders, dann leuchteten seine Augen, wenn er von Ködern sprach und Montagen. Lauf- oder Festbleimontagen für Aale, Unterwasserposen, wenn man einen größeren Fisch an Land ziehen wollte. Dinge, deren Bezeichnung Markus damals gleich wieder vergaß, nachdem sie ausgesprochen waren. Dabei wollte er es, wollte die Nähe, die dieses Wissen versprach. Das Leuchten in den Augen des Mannes, der tagein, tagaus an ihrem Tisch saß, mit ihnen aß, mit ihnen fernsah, hin und wieder fortging und mit einem Fisch wiederkam.

Er begleitete den Vater, in Gummihose und Stiefeln, beobachtete, wie die Montage aufgebaut, die Köder zurechtgelegt wurden. Zitternd, die Hände wie zum Gebet vor dem Mund gefaltet, um den warmen Atem darauf zu verteilen.

Sie sprachen kein Wort. Erst, als einer anbiss. Sein Vater schmiss den Aal vor Markus Füßen. »Pack ihn dir!«, rief er, aber der Aal flutschte immer wieder durch die kindlichen Hände.

»Er ist zu glitschig!«

Grob stieß er ihn zur Seite, dann fixierte sein Vater den Aal mit dem Aaltöter. Als der Dorn die Wirbelsäule durchstach, wendete Markus sich ab, unterdrückte einen Würgereiz, während der Vater den Fisch ausweidete.

Danach legte er Markus die Hand auf die Schulter. Die Welt schien den Atem anzuhalten.

»Dieser Fisch war bereit, zu sterben.«

»Woher weißt du das?«

»Siehst du die Farbe? Die weiße Unterseite? Er war bereit für seine große Reise.«

»Welche Reise?«

»Zu seinem Geburtsort, um sich zu paaren und zu sterben.«

»Das heißt, Aale sterben, wenn sie Kinder kriegen?«

Sein Vater starrte ihn an, die bekannte Leere in den Augen, die er immer in der Gegenwart seiner Familie zeigte. Wie die Augen des Aals, dessen Blut im Boden versickerte. »Ja, sie sterben.« Die Hand löste sich von Markus Schulter, und die Welt machte einen tiefen Atemzug.

 

War es das? Hatte sein Vater das Leben so empfunden?

Mit den Händen in den Taschen ging Markus am Ufer entlang. Der Regen drang durch seine Kleidung, aber es war ihm egal. Er suchte in den Erinnerungen nach dem Bild des Vaters. Zu Hause am Tisch, die Bewegungen schienen einstudiert, das höfliche Geplänkel geheuchelt. Als wäre der Vater nie wirklich da gewesen. Ein Geist, eine seelenlose Hülle. Aber konnte etwas, das nie da war, verschwinden?

Markus war der Beweis, dass sein Vater existiert hatte, so wie die Glasaale die Existenz ihrer Eltern bewiesen, wenn sie in Scharen die Binnengewässer erreichten.

Doch irgendwann schloss sich wieder der Kreis, mit dem Erwachsensein kam die große Reise.

»Warum sind Aale so glitschig?« Hatte er einmal den Vater gefragt.

»Wegen dem Wasserwiderstand, so gleiten sie leichter hindurch. Außerdem mögen sie es nicht, wenn man sie festhält.«

Ja, er hatte ihn nicht halten können. Wenige Tage später verschwand der Vater. Kein Lebewohl, kein Zeichen.

Anfangs vermutete die Polizei einen Unfall, aber die Suche am Fluss blieb ergebnislos.

Ein Nachbar wollte ihn gesehen haben, nachts im Regen, von der anderen Straßenseite das Haus beobachtend.

Auf Jahre des Zweifels folgte die Gewissheit, dass er nie wiederkehren würde.

Aale verließen ihre Heimat, kehrten zurück zu ihren Geburtsort, um zu laichen und zu sterben.

Würde Markus in Hamburg fündig werden? Doch er spürte, wie glitschig diese Hoffnung war, so glitschig, wie der Fisch, den er nicht halten konnte.

Völlig durchnässt stieg er ins Auto. Er griff nach der Spieluhr auf dem Beifahrersitz. Die kleine Kiste war durchzogen von Kratzern. Spuren der Vergangenheit. Er fuhr über die Unebenheiten, drehte den Aufzieher und ließ die Melodie erklingen. Gab es einen Weg, den Kreis zu durchbrechen, oder war sein Wesen vorbestimmt? Er dachte an seine Mutter, wie sie nachts geweint, tagsüber gehungert hatte. Die Frau, die sie heute war.

Für den genetischen Code braucht man zwei aus einer Art, aber ihre war stets eine andere. Nie blickten Glasaugen aus ihrem Gesicht, immer lag Wärme darin.

Er biss die Kiefer zusammen und startete den Wagen.

Ich bin kein Aal.

Nadine erwartete ihn bereits. Sie kam auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange. Wie immer hielt sie ihn ein wenig länger fest, als nötig gewesen wäre. Warmer Atem auf seiner Brust. Er rutschte nicht aus ihrem Griff, drückte sie stattdessen an sich.

»Meine Mutter besucht uns am Samstag.«

Er strich über ihren flachen Bauch.

Sie lächelte, dann fiel ihr Blick auf den Gegenstand in seiner Hand.

»Was ist das?«

Er drehte den Aaltöter, betrachtete ihn von allen Seiten.

Manchmal muss man loslassen, um etwas Neues zu beginnen.

»Nur etwas, das ich aussortieren möchte.« Er öffnete den Spülenschrank und warf den Aaltöter in den Müll.