Von Monika Heil

 

Zehn Wochen hatte der Mimikkurs auf der Schauspielschule gedauert. Zehn Varianten hatten sie gelernt und geübt. Immer und immer wieder. Heute wollte er sie alle ausprobieren. Oder, na ja, fast alle.

 

***

 

Pünktlich neun Uhr eröffnete der Vorsitzende die Sitzung. Arno Silberstein saß in aufrechter Haltung auf seinem Platz. Der Stuhl neben ihm blieb leer. Einen Anwalt brauchte er nicht. Er wusste, worauf es in den nächsten Stunden ankam. Selbstbewusst schaute er in die Kameras. Während die Fotografen vom Tageblatt und der Rundschau den Raum verließen, setzte sich Mia Federer, Praktikantin beim Kurier, neben Ilse Silberstein. Arno beobachtete erfreut, dass seine Mutter und ihre Platznachbarin miteinander tuschelten während die junge Frau sich eifrig Notizen machte.

 

Nach der Eröffnung mit den üblichen Verfahrensabläufen rief der Richter den ersten Zeugen auf. Der Staatsanwalt übernahm die Befragung. Zuerst wandte er sich an Arno Silberstein.

»Die Anklage wirft Ihnen vor, den hier anwesenden Zeugen, Ihren Jugendfreund Günter Wollenweber und …«

»Bekannten, nicht Freund«, warf Arno mit finsterer Miene ein.

»Günni und er waren als Kinder unzertrennlich«, flüsterte Ilse Silberstein. Mia schrieb es auf.

»Arroganter Typ«, murmelte sie in ihren Block.

Arschloch, dachte der Staatsanwalt und fuhr unbeirrt fort:

»und zehn weitere Freunde« – jetzt lächelte er ironisch –

»um jeweils mehrere zehntausend Euro betrogen zu haben. Was können Sie uns dazu sagen?«

Arno setzte Variante zwei ein – gewinnendes Lächeln, das allerdings in den Mundwinkeln stecken blieb.

»Herr Vorsitzender, Herr Staatsanwalt, ich hatte das Glück, durch meine umfassenden Kenntnisse im Bankwesen in kurzer Zeit sehr viel Geld zu verdienen. Herr Wollenweber und seine Freunde nutzten unsere Bekanntschaft gnadenlos aus. Sie wollten an meinen Aktivitäten partizipieren. Sie baten, nein, sie flehten mich geradezu an, ihnen ein paar Tipps zu geben, denn auch sie hätten gern eine Villa im Prominentenviertel und einen Porsche vor der Tür stehen gehabt. Ich tat ihnen den Gefallen und führte ihre Wünsche aus. Dass der Zeitpunkt äußerst ungünstig lag, ist nicht meine Schuld. Sie waren wie die Lemminge, sie folgten mir bei jedem meiner Schritte zur Geldvermehrung. Sie waren unersättlich.«

Die Abscheu vor so viel Gier der anderen war deutlich in seinem Gesicht zu lesen.

»Herr Wollenweber«, wandte sich der Staatsanwalt nun an den Zeugen.

 

Arno Silberstein folgte dem Dialog mit gelangweilter Miene. Erst als sein Blick sich mit dem seiner Mutter kreuzte, erreichte ein kurzes Lächeln seine Augen. Alles wird gut, sollte es signalisieren. Und daran glaubte er zu diesem Zeitpunkt selbst ganz fest. Er schaute zu den wenigen Zuschauern im Saal. Argwohn und Ablehnung, wohin er schaute. Die sind ja nur neidisch, dachte er und zupfte demonstrativ an den weißen Manschetten seines Designerhemdes bis die brillantbesetzten Manschettenknöpfe blitzten.

»Auch meine Mutter hat ihre Ersparnisse Arno im guten Glauben anvertraut, dass er ihre bis dahin spärliche Altersvorsorge aufbessern und sie sich irgendwann den Aufenthalt in einem schönen Seniorenheim leisten könnte.« Als Arno das hörte, konnte er sich ein ironisches Grinsen nicht verkneifen. Nicht nur Günni, auch seine inzwischen altersdemente Mutter waren unersättlich gewesen. Ich hätte meine Mutter nie in ein Heim gegeben, sagte er sich. Jetzt allerdings ging es nicht anders, er hatte wichtigere, zwingend notwendige Pläne. Drei Millionen lagen auf den Bahamas, zwei Millionen war die Villa wert, die er auf Rominas Namen auf dieser entzückenden kleinen Insel in der Karibik gekauft hatte. Sie wartete auf ihn. Sehnsüchtig. Seine Gedanken drifteten ab. Die Erinnerung an ihre erotischen Eskapaden wirbelten durch seine Gedanken und spiegelten sich in seinem Gesicht. Sein Blick vernebelte sich, bis ihn die nächste Frage des Richters in die Gegenwart zurückholte.

»Angeklagter, bereuen Sie Ihre Taten?«

Arno zuckte zusammen. Auch das hatte er gelernt. Reue, Zerknirschung, Stoff der vierten Woche, erinnerte er sich. Er atmete tief durch.

»Was soll ich bereuen, Herr Vorsitzender? Dass ich heute durch den Strudel der Ereignisse selbst ein armer Mann bin? Ja, das bereue ich zutiefst. Doch ich kann es nicht ändern. Hätte ich die Macht und das Geld, ich würde es diesem Herrn dort und seiner Mutter gern ersetzen, auch wenn ich nicht die Schuld trage an ihrem Verlust. Ich habe kein Geld mehr. Das Schicksal hat es mir genommen.«

Jetzt setzte er seine theatralische Leidensmiene ein. Variante sechs.

»Arschloch«, dachte nun auch der vorsitzende Richter.

»Schleimer«, murmelte jemand im Publikum.

»Mein armer Junge«, schluchzte seine Mutter in der ersten Reihe. Mia fiel vor Abscheu fast der Stift aus den Händen.

 

Die beiden nächsten Zeugen wurden aufgerufen. Karl-Otto und Regina Fischer, Nachbarn seiner Mutter. Punkt zwölf Uhr verkündete der Richter die Mittagspause. Eine Stunde. Zwei weitere Befragungen waren für den Nachmittag angesetzt. Es lief alles nach Plan. Der Richter war so freundlich, ihn das Mittagessen in der Gerichtskantine einnehmen zu lassen. Selbstverständlich unter der Aufsicht zweier Beamter. Heute gab es Spaghetti und Tomatensoße. Dazu natürlich Mineralwasser. Arno Silberstein rümpfte die Nase und freute sich auf Hummer und  eine Flasche Château Cheval Blanc, beides zehntausend Kilometer von hier entfernt. Morgen, morgen, summte es in seinen Ohren. Variante eins – freundliche, offene Kommunikation – brauchte er nicht einmal abrufen. Die Unterhaltung mit den beiden Beamten war sehr anregend. Natürlich ging es im wesentlichen um Geld und Anlagen.

 

***

 

Er wischte sich die Lippen an seiner Papierserviette ab, trank einen Schluck und entschuldigte sich mit dem bewusst kindlich klingendem Satz: »Entschuldigung, ich muss mal schnell für kleine Jungs.« Die jungen Beamten nickten freundlich und setzten ihr Gespräch fort.

 

Der Wagen seines zur Zeit einzigen, besten Freundes Miroslav Stenjenkow stand mit laufendem Motor vor der Tür. Die Fahrt zum Flughafen war nur sehr kurz. Die Privatmaschine des russischen Oligarchen Milos Wortenkowitsch war startbereit. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen winkte Arno Silberstein dem nicht vorhandenen Publikum auf dem Flugfeld zu und stieg ein.

 

Gelernt ist gelernt, dachte er grinsend und klatschte sich lachend auf die Schenkel. Da kam ihm noch eine gute Idee. »Das wäre doch ein super Titel für meine Memoiren«, murmelte er und schloss die Tür. Morgen wird meine Flucht in allen Gazetten stehen und Deutschland diskutiert mal wieder über eine Justizpanne, sinnierte er kurze Zeit später und schenkte sich ein Glas Champagner ein.

 

Version 2