Von Ingo Pietsch

Laura riss die Wohnungstür auf und rannte die Treppe hinunter. Sie hasste diesen Altbau. Viel zu hohe ungemütliche Wände. Ständig musste sie sich ermahnen,  die ausgetretenen Stufen vorsichtig zu nehmen.

Doch war dies das Letzte, an das sie dachte.

Eben saß sie noch mit ihrem Freund gemütlich eingekuschelt vor dem Fernseher und jetzt war sie auf der Flucht.

Vor wem oder was eigentlich? Eigentlich hatte sie es schon lange vermutet, aber gerade, vor nicht mal zwei Minuten hatte sich Hassan verplappert.

Er war fremdgegangen. Nicht nur einmal.

Laura hasste sich. War sie ihm nicht gut genug? War sie vielleicht nicht hübsch genug?

Sie schlug sich mit der Hand an den Kopf. Warum machte sie sich Vorwürfe? Er hatte den Fehler begangen!

Als sie ihn gerade fragenlos angestarrt hatte, besaß er auch noch die Frechheit ihr vorzuschlagen, auch mal mit jemanden anderem zu schlafen. Das wäre vielleicht eine neue Erfahrung für sie. Außerdem beteuerte er ihr, dass sein Seitensprung keinerlei Bedeutung habe und dass er sie immer noch liebte.

Liebe. Liebte sie ihn oder war sie ihm nur hörig?

Laura war verwirrt. Sie wusste es nicht. Ihre Gedanken waren total durcheinander.

Sie rutschte kurz vor dem Treppenabsatz weg und verlor das Gleichgewicht.

Gerade noch konnte sie ihr Gesicht zur Seite drehen, riss ihre Arme hoch und prallte mit dem ganzen Körper gegen die Wand. Sie schürfte sich ihre Unterarme und die rechte Wange an dem rauen Putz auf.

Sie wollte sich kraftlos zu Boden fallen lassen, doch Hassan stand plötzlich hinter ihr und drückte sie fester gegen die Wand, sodass ihr Gesicht noch mehr schmerzte. Sie roch seinen vertrauten Atem, eine Mischung aus Knoblauch, kaltem Zigarettenrauch und billigem Pfefferminzkaugummi, der ihr noch nie widerlicher vorgekommen war, als in diesem Moment.

„Ich will dir nicht wehtun! Komm wieder mit nach oben und wir reden in Ruhe darüber! OK?“, hauchte er ihr ins Ohr.

Seine raue Stimme brachte sie zum Schmelzen. Das konnte nicht sein! Er beherrschte sie vollkommen!

Laura wollte sich wegdrücken, doch er hielt auch ihre Arme umklammert und sie konnte sich nicht befreien.

Sie war wütend auf ihn, aber ein anderer Teil von ihr spürte mit einem Mal Erregung.

Ihr Zorn wandelte sich, und sie begann, ihn schon im Unterbewusstsein zu verzeihen.

Sie drehte sich um und sah in seine braunen Augen. Ihr Begehren spiegelte sich darin wieder.

Erst küssten sie sich leidenschaftlich und dann zog er sie an einer Hand hinter sich her.

Vergessen waren die letzten Minuten, vergessen seine Fehltritte. Auch die Wunde in ihrem Gesicht spürte sie schon nicht mehr.

 

„Laura, du musst dieses Schwein verlassen!“, sagte Lauras Freundin Hannah und nippte an ihrem Cappuccino.

„Ich kann nicht, ich liebe ihn.“ Laura befühlte ihre geschwollene Wange.

Hannah sah sie an: „Ja, Liebe tut weh. Und sie geht durch den Magen. Deswegen liebe ich Schokolade.“

Lauras Kakao war schon kalt geworden, ehe sie auch nur einen Schluck getrunken hatte. Sie stand völlig neben sich und sagte, ohne darüber nachzudenken: „Und deswegen bekommst du auch keinen Mann ab.“

Hannah wusste sehr wohl, dass sie mollig war und entgegnete deshalb: „Ich sehe mal über deine Bemerkung hinweg, da ich davon ausgehe, dass du nicht mehr im Vollbesitz deiner geistigen Kräfte bist. Er nutzt dich aus und lässt sich von dir aushalten. Und sag jetzt nur nicht, ich wäre eifersüchtig. Aber das bin ich. Er sieht wirklich gut aus.“ Sie blickte verträumt in ihre Tasse.

Hannah hatte Recht. Laura drehte ihren Kopf zum Nebentisch. Hier war ihr erstes Date gewesen. Sie war sofort ihn verguckt. Seine schwarzen gelockten Haare, der dunkle südländische Teint, die perfekt weißen Zähne, die coole Lederjacke.

Er wirkte wie ein schüchterner Junge und in nächsten Moment schon, war er der erfahrende Mann.

Laura wurde mit einem Schlag bewusst, dass sie eigentlich nicht mehr als Durchschnitt war und ihn nie hatte halten können.

Und trotzdem war da wieder dieses Begehren. Ihre Wangen glühten auf.

„Woran denkst du?“, fragte Hannah argwöhnisch.

„An unser erstes Date hier. Ich habe die Rechnung bezahlt. Angeblich hatte er sein Portmonee vergessen. Eigentlich habe ich immer alles bezahlt.“ Laura ließ kraftlos ihre Schultern sinken.

„Hat er nicht irgendeinen Job, um sein Studium zu finanzieren oder bezahlen das seine Eltern? Ihr habt euch doch in der Uni kennengelernt.“

„Ich dachte auch, er würde studieren. In Wirklichkeit hatte er nur einen Freund dort besucht. Seine Eltern haben kein Geld und mögen mich nicht.“ Laura trank ihren kalten Kakao zur Hälfte aus.

„Und was macht er dann den ganzen Tag, außer einen guten Eindruck zu hinterlassen? Hilft er wenigstens im Haushalt mit?“ Hannah tat ihre Freundin leid.

Nachdenklich sagte Laura: „Nein, er spielt den halben Tag Playstation und trifft sich abends mit seinen Freunden. Ich glaube die rauchen Schischah oder so. Obwohl er mir versprochen hat, nicht mehr zu rauchen. Er sagt, er brauche seine Freiheiten.“

„Er benutzt dein Auto und du fährst mit dem Bus!“, Hannah war empört.

„Ist ja nicht weit bis zur Uni.“

„Hörst du dir eigentlich mal selber zu? Der Typ ist ein Schmarotzer! Schmeiß ihn raus!“

„Und wo soll ich dann hin?“, Laura war verunsichert.

Hannah holte tief Luft, setzte sich gerade hin und meinte: „Das ist deine Wohnung! Der wird sicher was finden. Lass mich raten, er zahlt wahrscheinlich nicht mal Miete.“

Mit jedem Wort, das Hannah sprach, zerbrach Lauras Welt ein Stückchen mehr. Sie war ja so blind gewesen!

Auf einmal hörte sie ihre Mutter sagen: „Such dir einen netten jungen Deutschen und gründe eine Familie! So ein Abenteuer ist schneller vorbei, als du glaubst.“

„Erde an Laura! An was denkst du gerade?“

„An meine Mutter.“

Hannah zog ihre Augenbrauen hoch. „Wie deine Mutter wollte ich aber nicht klingen.“

Laura lachte zum ersten Mal seit langer Zeit: „Das war positiv gemeint!“

Hannah stimmte mit ein: „Das will ich aber auch gemeint haben.“

 

Laura schloss die Tür auf. Sie hatte sich die Worte, mit denen sie Hassan verlassen wollte, tausendfach vorgesagt, bis sie sie auswendig konnte.

Sie murmelte sie immer noch vor sich hin, als sie ins Wohnzimmer ging.

Freudestrahlend sprang Hassan vom Sofa auf. „Hallo, Schatz! Heute Abend gehen wir in die Disco. Ich lade dich auch ein! Ich habe dir auch schon was Passendes rausgesucht. Du musst dich nur noch umziehen. Ich mach mich nur eben frisch.“

Sprachlos blieb sie einfach stehen. Hassan hatte ihr ein Minikleid in die Hände gedrückt. Vergessen waren die einstudierten Sätze. Traurig schüttelte sie den Kopf. Sie schaffte es einfach nicht allein.

 

In der Disco war es stickig und tierisch laut.

Laura sah überall Hannah vor ihrem geistigen Auge, wie sie mahnend den Zeigefinger bewegte.

Eine gut aussehende Frau kam auf die beiden zu. Laura schätzte, dass sie Türkin war. Sie sah Hassan ähnlich, vielleicht war sie eine Verwandte.

Sie gab Hassan Küsschen auf die Wangen.

„Ist das deine Halbschwester, bei der du wohnst?“, rief sie laut, damit es beide hören konnten.

Hassan beugte sich vor und sagte ihr irgendwas ins Ohr.

Erstaunt sprach sie mit Laura, als wäre es das Selbstverständlichste: „Wenn du mal Lust hast, können wir ja was zu dritt probieren.“

Laura hatte kapiert.

Wieder bestand ihre Rettung in der Flucht.

Sie rannte und rannte, bis sie in einer dunklen Seitenstraße außer Atem stehenblieb. Die Kälte zerrte an ihrem Körper, denn das Mini-Kleid bedeckte nicht sonderlich viel.

Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte.

Hinter ihr ertönten schnelle Schritte. Ängstlich drehte sie sich um und erkannte Hassan.

„Laura, tut mir leid. Ich dachte du wolltest auch mal was Neues versuchen.“

Laura sah Hannah, wie sie Hassan würgte. Das war nicht echt, doch es verschaffte ihr die nötige Kraft: „Verschwinde, ich hasse dich!“

„Nein, du liebst mich“, entgegnete er sanft, aber bestimmt.

Er ging ihr entgegen, während sie einfach so dastand. Der Mut verließ sie schon wieder.

Zwei grölende Männer kamen in die Straße und unterhielten sich lautstark. Sie waren ganz dicht hinter Hassan.

Der beschleunigte seine Schritte. Er fasste Laura am Arm. „Los, lass uns verschwinden!“

„Ich will nicht!“

„Hey, bedroht dich der Typ?“, fragte einer der Männer.

Hassan schubste Laura auf den Bürgersteig und wollte weg.

Die Männer nahmen die Verfolgung auf, ehe Laura irgendetwas erwidern konnte.

Sie waren schneller als Hassan. Er wurde zu Boden gerissen.

Laura zitterte am ganzen Körper und versteckte sich zwischen den parkenden Autos.

Sie konnte im Halbdunkel erkennen, wie Hassan von hinten festgehalten und mit Faustschlägen eingedeckt wurde.

Er schrie nicht einmal, weil sie ihm die Luft aus der Lunge prügelten.

Laura hielt sich vor blankem Entsetzen die Ohren zu, damit sie das hässliche Lachen der Männer nicht hören musste und ging wieder in Deckung.

Sie schüttelte panisch den Kopf. Irgendetwas musste sie doch tun können. Hilfe holen, war ihr erster Gedanke.

Laura blickte wieder hoch.

Hassan lag verkrümmt auf der Erde, während er mit Tritten traktiert wurde.

Die Männer waren außer Atem und sahen sich um. Dann rannten sie davon.

Laura sprang auf und kniete sich neben den stöhnenden Hassan.

Sie streichelte ihm die blutverklebten Haare. „Es wird alles wieder gut“, sagte sie mit nicht ganz fester Stimme.

Sie kramte in ihrer Handtasche und zog ihr Handy hervor.

Sie wollte den Notruf wählen. War das ein Wink des Schicksals? Hatte Hannah wirklich mit alldem Recht, was sie gesagt hatte? War dies der Augenblick, Hassan zu verlassen? Oder musste sie ihm jetzt mehr beistehen als bisher?

Laura wurde schwindelig. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Nervös begann sie zu tippen. 1, dann wieder die 1. und dann…, drückte sie wieder die 1 –  Die Kurzwahl für Hannah.

„Hallo Laura! Und, hast du Schluss gemacht?“, wollte Hannah wissen.

Laura konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.

Hassan röchelte: „Tina?“

Laura antwortete: „Ja, das habe ich. Kommst du später noch vorbei?“ Geistesabwesend verließ sie den schwerverletzten Hassan.