Von Marcel Porta

Nach Verwesung rochen die Sägespäne, warum war ihm das vorher noch nie aufgefallen? Wohl deshalb, weil er noch nie so dicht mit ihnen in Berührung gekommen war. Doch jetzt lag er mit der Nase drin und bekam kaum noch Luft. Verflixt, wie hatte das passieren können?

 

Tausend Mal hatten sie diesen Sprung schon geübt und vorgeführt. Nie hatte es auch nur ein winziges Zögern gegeben, kein Zittern und kein Nervenflattern. Doch diesmal war Toni irgendwie rutschig gewesen. Sie hatten sich berührt, aber er war abgeglitten und in die Tiefe gestürzt. Der Aufschrei der Zuschauer hallte noch immer in seinem Ohr, und das plötzliche Abbrechen des Trommelwirbels hatte er ebenfalls wahrgenommen, bevor er auf dem erstaunlich harten Boden aufschlug. Wie hatte er es nur geschafft, am Netz vorbei zu fallen? Und wieso war Toni so glatt gewesen?

 

Hier lag er jetzt, roch dieses eklige Sägemehl, und wunderte sich, warum ihm nichts wehtat. Sollte er sich wirklich bei diesem Sturz nicht verletzt haben? Konnte schon sein, er hatte in seinem Artistenleben vor allem Fallen gelernt, das war mal sicher.

Doch plötzlich wurde er in seinen Grübeleien gestört:

 

„Na, das war ja wohl nichts. Besser kannst du das nicht?“

 

Langsam hob Freddy den Kopf und musterte den Fremden, der vor ihm stand. Hatte Ludwig einen Neuen eingestellt? Einen zusätzlichen Clown brauchten sie doch überhaupt nicht. Und schon gar keinen, der so lustig aussah. Clowns mussten traurig aussehen, nur dann konnten ihre Späße die Menschen zum Lachen verführen. Ernst und traurig, das wusste jeder, der vom Fach war.

Der hier grinste ihn breit an und machte sich über seinen Fehlgriff lustig.

 

„So eine blöde Frage. Glaubst du, wir sind in der ganzen Welt als die großen Brüder Fraselli bekannt, weil wir so wunderschön und publikumswirksam abstürzen können?“

„Mir schien es aber gar nicht so elegant, du sahst mehr einem fallenden Kartoffelsack ähnlich als einem der fliegenden Frasellis.“

„Blöder Kerl, was suchst du überhaupt hier. Mit deinen losen Sprüchen wirst du in diesem Zirkus keinen Job bekommen.“

„Lustig, dass du es erwähnst, aber ich habe bereits einen Job gefunden.“

„Mit diesen dümmlichen Kleidern und der rissigen Schminke? Nie im Leben, nicht bei Ludwig und schon gar nicht als Clown.“

 

Der fremde Mann lachte und ein wenig Schminke bröckelte von seinem Gesicht ab.

 

„Willst du es wieder versuchen? Den letzten Sprung noch einmal ausführen? Ich gebe dir noch eine Chance, Freddy.“

„Ha, da brauche ich dich doch nicht dafür. Ich klettere auch ohne deine Erlaubnis wieder da rauf und zeige allen, dass der fliegende Freddy sich von so einem kleinen Stürzchen nicht unterkriegen lässt.“

„Na dann mal los, ich warte hier unten auf dich.“

 

Etwas mühsam erhob sich Freddy, klopfte sich den Staub und die letzten Sägespäne vom Trikot. Sprosse für Sprosse erklomm er die Leiter zur zweiten Plattform. Frenetischer Jubel des Publikums begrüßte ihn, und als er in die Menge winkte, hob es ihm das Herz. Ja, so ein kleiner Sturz konnte ihm nichts anhaben, er war immer noch der Liebling der Massen.

 

Beherzt ergriff er das Trapez, ein schneller Blick zu Toni, ein kurzes Nicken als Zeichen der Bereitschaft, und elegant sprang er von der Plattform, schwang sich ein, während Toni sich bereit machte, ihn zu fangen. Solch ein Fiasko durfte es nicht noch einmal geben.

 

Im genau richtigen Moment ließ er die Stange los, flog durch die Luft, vollführte den doppelten Salto, der ihr Markenzeichen war, und griff nach Tonis Händen, die im richtigen Moment am richtigen Platz waren.

Doch was war das? Er hatte daneben gegriffen, nicht einmal berührt hatte er Toni diesmal. Wie konnte das passieren? Noch einmal flog er am Netz vorbei und landete hart auf dem Boden, lag mit dem Gesicht in den Sägespänen.

 

Der fremde Clown lachte, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen und sich  Rinnen in der Schminke schufen. Er konnte sich fast nicht mehr beruhigen, schlug sich auf die Schenkel und japste nach Luft.

 

„Er hat es nicht gemerkt, hat es wirklich nicht gemerkt. Ein Mordsspaß, das. Schau dir doch deine Hände mal genau an, du Simpel, geht dir nicht endlich ein Licht auf?“

 

Wütend über dieses Gelächter in der Stunde seiner größten Blamage wollte Freddy auf ihn losgehen, doch als er aufgesprungen war und seine Hände in Boxermanier vors Gesicht hielt, sah er es. Sie waren … durchsichtig. Wie konnte das sein? Was war da passiert?

 

Erst jetzt dämmerte ihm, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zuging. Das musste mit diesem seltsamen, unsympathischen Clown zusammenhängen, der sich immer noch vor Lachen bog. Seine lustige Clownsmaske hatte sich trotz oder eher wegen des hämischen Lachens zu einer Fratze verzerrt.

 

Freddy ließ die Fäuste sinken. Plötzlich hatte er verstanden. Alles. Fiona! Und Tonis gierige Blicke, wenn Freddy sie mit auf sein Zimmer nahm.

 

© Marcel Porta, 2017

Version 2