Von Ingo Pietsch

Der Applaus war überwältigend. Fast zwanzigtausend Menschen waren außer sich.

Phantastische Licht-, Nebel- und Soundeffekte zauberten eine unvergleichbare Show auf die Bühne.

Und mitten drin im Blitzlichtgewitter etlicher Kameras und Handys: Der einzigartige Mason Magica.

Er vereinte Zauberei und Magie in Perfektion miteinander. Ob Gedankentricks oder das mehrfache Durchsägen einer Assistentin. Alle würden noch in Monaten über diese Erlebnisse berichten.

Eineinhalb Stunden dauerte der Auftritt des Entertainers schon. Der große Höhepunkt rückte immer näher und Mason überlegte, ob er es wirklich durchziehen sollte.

Er hatte es schon oft geprobt, aber nur mit sich selbst, nie mit dem Publikum. Heute war die große Premiere. Und wenn es gelingen sollte und davon ging er aus, würde er in die Geschichte eingehen.

Beschwichtigend bewegte er seine Arme und es wurde leise im Saal. Vereinzelt huschten Scheinwerfer über die Zuschauer.

Mason stand im Rampenlicht. Er senkte den Kopf, hob ihn langsam wieder und atmete tief ein, um sich auf das Bevorstehende zu konzentrieren.

„Ladies und Gentlemen! Ich bitte um ihre ganze Aufmerksamkeit. Ich benötige jetzt ihre ganze mentale Energie, um den nächsten Trick durchzuführen. Was ich jetzt versuchen werde – nein, nicht versuchen, sondern tatsächlich meistern werde, ist, nicht mich, sondern Sie als ganzes Publikum verschwinden zu lassen. Ich werde Sie für einen kurzen Moment an einen Ort transportieren, der außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegt. Vielleicht ist es ein anderer Planet oder sogar eine andere Dimension. Aber Sie müssen mir versprechen, ihre Plätze nicht zu verlassen und in dem Moment, wo der Transport stattfindet, kurz die Luft anzuhalten. Es ist nicht gefährlich, bedarf aber äußerster Konzentration. Wer dem nicht gewachsen ist oder Angst hat, den möchte ich bitten, den Saal zu verlassen.“

Die Anwesenden murmelten vernehmlich. Mason sah sich um und entdeckte ein paar Menschen, die tatsächlich gingen.

Entspannende Musik untermalte die Gesten, die Mason nun ausführte: Er streckte die Arme aus und formte einen Kreis, der das ganze Publikum einschloss.

„Ich möchte, dass Sie die Augen schließen und sich nur noch auf meine Stimme konzentrieren. Ich zähle jetzt von drei rückwärts bis eins, danach befinden Sie sich in dem übergeordneten Raum. Sie können dann die Augen öffnen und diese andere, wunderbare Welt mit mir zusammen entdecken. Zwar nur sehr kurz, aber Sie werden sich ein Leben lang daran erinnern. Drei, zwei, eins. Jetzt!“

Ein Schmerz durchzuckte Mason, als er seine gesamte Kraft aufbot, um diese riesige Menschenmenge zu transportieren. Das Licht um ihn erlosch und er war nicht im Stande sich zu bewegen. Er fühlte, hörte und sah nicht mehr, was um ihn herum geschah. Eine schier unendlich lange Zeit verging. Plötzlich war es wieder hell.

Mason hatte immer noch den Kreis geformt und starrte mit schreckgeweiteten Augen auf die leeren Stuhlreihen vor sich.

 

Drei Stunden früher:

„Das ist nicht dein Ernst!“ Lloyd funkelte wütend das Masons Spiegelbild an. Der schminkte sich gerade für seinen großen Auftritt.

Er drehte sich in seinem Sessel herum und sagte ganz ruhig zu seinem Manager: „Doch, das ist mein voller Ernst. Lloyd, ich habe den Trick schon tausend Mal geübt, da kann überhaupt nichts schief gehen.“

Lloyd fuhr sich durch die Haare: „Du weißt aber noch, dass es da viele Fehlversuche gab.“

Er brauchte nicht zu erwähnen, was alles schief gelaufen war.

Mason hatte irgendwie ein Talent dafür entwickelt, einen Spalt in eine andere Realität zu öffnen. Erst hatte er mit leblosen Gegenständen experimentiert; sie dorthin transferiert und wieder zurückgeholt. Das gleiche dann mit kleinen Tieren. Aber die andere Seite war unberechenbar. Ein Metallwürfel war zerbeult, ein Blumenstrauß verwelkt und ein Frosch als Kaulquappe wiedergekommen.

Mason lernte, eine mentale Energieblase um alles zu legen, was er bewegte, damit es unverändert zurückkam. Auch eine Videokamera hatte er durchgeschickt. Und sie hatte eine wundervolle Welt jenseits aller Vorstellungskraft aufgezeichnet, in der alle Regeln der Physik und Chemie außer Kraft gesetzt waren.

Irgendwann unternahm Mason einen Selbstversuch und dann einen zweiten und dritten. Und es fiel ihm immer leichter hin- und her zuspringen.

Er blieb immer länger dort, bis er feststellte, dass er nicht allein war.

Immer, wenn er einen bestimmten Zeitpunkt überschritten hatte, griff etwas Undefinierbares nach ihm. Es brauchte wahrscheinlich eine gewisse Spanne, bis es ihn entdeckt hatte und Jagd auf ihn machte.

Dieses Wesen wollte ihn möglicherweise dort behalten oder seine Kräfte dazu benutzen, von dem unwirklichen Ort zu fliehen. Vielleicht war es dort eingesperrt worden.

Doch Mason war so fasziniert von dieser Welt, dass er nicht mit dem Reisen aufhören konnte. Und so kam es, wie es kommen musste: In einem unaufmerksamen Moment erwischte ihn das Wesen und seine Energieblase brach für einen Sekundenbruchteil zusammen. Er schaffte es nur mit Mühe und Not, wieder in die Realität zu wechseln und behielt davon eine weiße Haarsträhne auf seinem schwarzen Haar zurück, die sich vom Scheitel bis zum Hinterkopf zog.

Mason zeigte sich unbeirrt: „Ich werde das durchziehen. Mit oder ohne deine Hilfe.“

Lloyd wandte sich zum Gehen: „Was, wenn etwas schief geht? Denk an die Gefahren! Oder du wirst dich zum Gespött aller Leute machen. Das garantiere ich dir! Wir haben dieses Geschäft zusammen aufgebaut und du wirfst einfach alles so mir nichts dir nichts weg.“

„Ich weiß, was ich tue und ich bin der beste Magier, der je gelebt hat!“

„Ich hoffe für dich, dass du dich nicht irrst.“ Lloyd knallte die Tür hinter sich zu.

Lloyd war wahrscheinlich einfach nur eifersüchtig. Er hatte diese andere Welt ja nie betreten. Angeblich war es ihm nicht sicher genug.

Aber er war sein Manager und Freund. Diese Nummer aber musste er gegen jede Vernunft akzeptieren.

 

Das Licht, das Mason blendete, kam nicht von einem Strahler, sondern von der Sonne, die durch ein Loch in der Decke in den Saal herein schien.

Mason ließ die Arme sinken. Er hatte keine Ahnung, was in den letzten Sekunden passiert war.

Die Stuhlreihen waren mit Vogeldreck und Putz bedeckt. Die Polster zerschlissen und ausgeblichen.

„Was zum?“, mehr brachte der Magier nicht heraus.

„Wer stört meinen Schönheitsschlaf?“, fragte eine alte raue Männerstimme.

Mason schirmte seine Augen mit einer Hand vorm Sonnenlicht ab und konnte zunächst nichts entdecken, bis raschelnd ein Zeitungspapierhaufen in Bewegung geriet und zu Boden fiel.

Darunter kam ein bärtiger, verlebter Kerl in schäbiger Kleidung zum Vorschein.

„Wo bin ich hier?“, fragte Mason.

Als der Typ sich aufgerappelt hatte, stürzte er zum Bühnenrand: „Mason, bist du das?“

Mason kniete sich nieder, erkannte den Mann aber nicht.

„Ich bin es, Lloyd. Ich habe all unser Geld dafür ausgegeben, um diesen Saal zu kaufen, weil ich wusste, dass du irgendwann zurückkehrst. Ich habe die ganze Zeit hier auf dich gewartet, weil ich die Hoffnung einfach nicht aufgeben wollte. Du siehst noch genauso aus wie damals, als du verschwunden bist.“ Lloyd standen Tränen in den Augen und er umarmte seinen Freund.

Mason war völlig verwirrt: „Was ist denn passiert? Ich war doch nur ein paar Sekunden weg. Und wo sind die ganzen Leute?“

Lloyd trat einen Schritt zurück: „Sekunden? Du warst dreißig Jahre verschwunden. Und das Publikum ist bis jetzt nicht wieder aufgetaucht.“

Was habe ich nur getan?, fragte sich Mason traurig.