Von Julia Würfel

Schneller. Er muss schneller laufen. Doch seine Beine gehorchen ihm nicht mehr, er hält kurz an. Keuchend stützt er seine Hände auf die Oberschenkel. Wie ein Verdurstender nach Wasser lechzend saugt er gierig Luft in seine Lungen. Seine Beine pochen. Er muss sein Gehirn ablenken. Niemals hätte er sich darauf einlassen sollen. Sein Kopf wummert als würde jemand mit dicken Holzstöcken ständig darauf einhämmern.

Eine kurze Pause muss er sich gönnen. Auf der saftigen Wiese neben dem schmalen Trampelpfad schimmern farbenprächtige Frühlingsblumen in der Abendsonne.

Gegen Linas‘ Schönheit wäre selbst diese Blumenwiese zu einem mickrigen Haufen Unkraut verblasst. Wieder schießen die Gedanken an sie wie Harpunen in seinen Kopf, verhängen sich irreversibel darin und quälen ihn mit bitterlichen Selbstzweifeln. Halt suchend wandert sein Blick hinab zu seinen abgewetzten Schuhen. Dabei nimmt er nur die schroffen Steinchen wahr, die sich neben seinen Füßen unregelmäßig auf dem erdigen Boden verteilen.

 

Mit bereits 27 Jahren widersprechen seine bisher nicht vorhandenen Erfahrungen mit Frauen jeglicher gesellschaftlichen Konformität.

Es war an der Zeit gewesen.

Vermutlich.

Auf keinen Fall.

Er hätte niemals auf Richard hören sollen.

„Betrachte es als Experiment“, hatte Richard ihn ermuntert und ihm tags darauf Lina vorgestellt.

 

Ein grober Kieselstein rutscht unter seiner Sohle weg und holt ihn zumindest physisch wieder in die Realität zurück. Sein Gedankenkarussell schwirrt unaufhörlich weiter und formt sich zu einem erdrückenden Sog aus ihm unbekannten Gefühlen.

 

„Lass uns hierhin gehen“, hatte Lina bestimmt vorgeschlagen, nachdem die Begrüßung bereits erfolgreich gescheitert war. Eine kraftvolle Umarmung mit Schulterstoß war bei der ersten Verabredung mit einer Frau wohl unangebracht. Schwungvoll riss Lina an dem goldenen Griff der Glastür und eröffnete ihm einen Blick auf die exklusive Lokalität. Der Boden aus feinem Birkenholz schimmerte in dem Licht des riesigen Kronleuchters, welcher direkt über der mitten im Raum platzierten Bar baumelte.  Symmetrisch um die schwarz lackierte Bar gereiht standen Hocker aus hellem Holz. Auch der Rest des Raumes war in schlichtem, skandinavischem Design gehalten. Wie selbstverständlich streifte Lina ihren cremefarbenen Mantel ab, befreite ihren zierlichen Hals von dem weißen Kaschmirschal und klatschte ihre Klamotten auf seine hilflosen Hände. Eine blonde Haarsträhne löste sich dabei aus ihrem streng festgesteckten Haarknoten. Hastig strich sie die Strähne hinters Ohr. Gehorsam hängte er die Klamotten in die Garderobe, wobei er vor Nervosität über den Schirmständer stolperte und ihn mit seinem Fuß gerade noch vor dem Umfallen retten konnte.

Lina entschied sich für einen Tisch mitten im Raum. Er fühlte sich unwohl inmitten von ihn anstarrenden Leuten.

„Schön hier“, log er.

„Ich liebe diesen Laden“, posaunte sie, ohne seine Lüge zu entlarven. Ihren Rücken kerzengerade durchgestreckt, griff sie sich die einzige Karte und er beobachtete wie ihre mandelbraunen Augen die Seite hinab wanderten. Dann blieb ihr Blick an einem Fleck hängen, ihre Oberlippe kräuselte sich zu einem lustvollen Lächeln.

Sie sah zu ihm auf: „Wollen wir uns eine Vorspeise teilen? Ich hab gar keinen großen Hunger.“ Innerlich ermahnte er seinen knurrenden Magen sich zu beruhigen, zwang seine Mundwinkel sich seitlich nach oben zu biegen und sagte ein bisschen zu überschwänglich: „Ja natürlich, gerne.“ Noch während die Worte aus seinem Mund stolperten, erschrak er über sich selbst. Lina trug ein schwarzes enges Kleid , das knapp die obere Hälfte ihrer Oberschenkel bedeckte. Während sie die Speisekarte vor sich hielt, lugte der mit feinen Spitzen verzierte Ausschnitt des Kleides hervor und ließ ihn einen verheißungsvollen Blick auf ihr prall gefülltes Dekolletee erhaschen.  Mit einem nicht zu überhörenden Knall klappte Lina die Karte zu. Er fühlte sich ertappt. Verlegen räusperte er sich, jegliches Gesprächsthema war außer Reichweite. Ihre Arme verschränkt auf dem Tisch abgestützt betrachtete sie ihn prüfend. Er kam sich vor wie in einem Röntgenapparat.

 

Die massiven Bäume, die die Wiese am Wegrand säumen, spenden ihm Schatten. Obwohl der glühenden Ball der Abendsonne schon über die Hälfte hinter dem Horizont verschwunden ist, tut der Schatten gut. Die spitzen Nadeln der Tannen funkeln in der Sonne. Bei dem Gedanken an ihre durchbohrenden Blicke schaudert er.

 

Um Lina’s stechendem Blick auszuweichen starrte er auf die Tischplatte. Der Kellner stellte zwei Drinks vor seinen Augen ab, die Bestellung hatte sie wohl ohne ihn aufgegeben. Wahrscheinlich aus Langeweile, begann Lina zu erzählen. Von ihrem aufregenden Leben als Stewardess bei einer wohlhabenden Fluggesellschaft, ihrem Loft im angesagtesten Viertel der Stadt und ihrem Exfreund, einem steinreichen Banker mit Zweitwohnsitz in Dubai. Die Worte sprudelten nur so zwischen ihren wellenförmigen Lippen hervor. Bis sie schließlich innehielt. Er hatte es befürchtet. Die Gegenfrage.

Er schluckte schwer.

Seine Kreativität kam ihm zu Nutzen und ließ ihn als erfolgreichen Vorstand eines großen Automobilunternehmens erstrahlen. Sein rostiges Fahrrad tauschte er in seiner Fantasie gegen drei noble Firmenwagen und einen feuerroten Porsche. Ihre Augen begannen zu leuchten, wie sie es bei einem plumpen Labormitarbeiter eines Chemiekonzerns niemals getan hätten.

Der Kellner brachte das Essen. Außer den Champions mochte er nichts von dem mit Gemüse überhäuften Teller vor ihm. Tapfer stopfte er sich das Zeug in den Mund. „Ich liebe Gemüse“, säuselte Lina mit süßlicher Stimme. Sofort nickte er bestätigend. Sein Magen lechzte nach einem Grillteller mit fettigen Pommes und schmieriger Barbecuesauce.  

Wieder stellte Lina ihm Fragen zu seinem Vermögen, wobei er bei den Antworten seiner grenzenlosen Fantasie freien Lauf ließ. Mit voller Authentizität verpackte er sich selbst zu einem reizvollen Geldpaket. Gierig verschlang sie seine Worte. Verblendet von seinen kunstvoll ausgeschmückten Wohlstandversprechen, bemerkte sie nicht die Fiktion. Von ihrer Naivität getrieben, verstrickte er sich immer mehr in seinen Lügen. Ihre Schönheit ließ seine Fantasie blühen und in ungeahnte Richtungen sprießen. Sich selbst hatte er schon lange verloren, das machte ihm Angst. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus.

Als sie für einen Moment auf die Toilette verschwand, legte er ausreichend Geld auf den Tisch, riss von innen hastig den Goldgriff der Glastür auf und rannte einfach los. Fort aus dem futuristischen Lokal, weg von einer von Geld besessenen Schönheit, raus aus der Stadt. Hinein in den rötlich schimmernden Abendhimmel.

 

Das Experiment , der Versuch die bisher fest verschlossene Tür zu seinem Herzen aufzuschließen, ist gescheitert. Er kann weiter laufen, weg vor der Stadt, vor dem Lokal und vor Lina.

Doch nicht mehr vor sich selbst.