Von Lea Naum

Professor Doktor Gonzel sitzt auf dem Klo im Untergeschoß des Kongresszentrums. Sein Darm ist in Aufruhr. Bei Stress neigt sein Verdauungstrakt zu hektischer Überaktivität. Anders ausgedrückt: Professor Gonzel hat eine Scheißangst! Der Auslöser stolziert wie ein Gockel genau über ihm durch das Foyer. Dr. Krallenbecher!

Als Professor Gonzel vor acht Jahren die Leitung des Instituts übernahm, gehörte Krallenbecher zum lebenden Inventar. Das einzige, was Gonzel in der ganzen Zeit von ihm zu Gesicht bekam, war sein Name auf der Gehaltsliste. Unsichtbar wie ein Maulwurf wühlt Krallenbecher seit 32 Jahren im Keller des Instituts. Dort hat er sein Labor. Es ist so etwas wie der Heilige Gral. Einmal wäre Krallenbecher mit seinen Forschungsergebnissen beinahe Nobelpreisträger für organische Chemie geworden. Beinahe ist zwar auch vorbei, doch die Nominierung brachte ihm Glanz und dem Institut einen nie versiegenden Strom von Forschungsgeldern. Krallenbecher gedieh mit der Zeit zum lebenden Mythos, obgleich – oder vor allem, weil – keiner so recht weiß, was da unten vorgeht. Den Genius mit banalen Fragen zu behelligen, verbietet sich von selbst. Zu groß die Gefahr, er könne sich kontrolliert oder bedrängt fühlen und sich andernorts vergraben.

 

Vor ungefähr einem halben Jahr tauchte Krallenbecher urplötzlich aus den Tiefen des Untergeschosses in Gonzels Büro im vierten Stock auf. Er blinzelte stark und rümpfte unentwegt die Nase, als sei das sonnige Büro ein wahrhaft übler Ort. Dann entfuhr ihm ein grunzeliger Rülpser und er stieß mit einem tiefen Schnaufer zwei Sätze aus: »Der Durchbruch ist geschafft. Ich lade zum Kongress ein!« Nach dieser Ankündigung kratzte er sich mit beiden Händen ausgiebig unter den Achseln. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und entschwand. Ein gülleartiger Geruch hing noch Tage nach diesem Ereignis im Raum.

 

Beim Gedanken an das, was folgte, brodelt es erneut in Gonzels Gedärm. Eine Flut von Telefonaten, Mails und Faxen aus aller Welt brach über ihn herein. Very nice, wonderful, exzellent und significatif schrieben Akademien, Institute und Pharmafirmen. Gonzel simulierte Stolz, betonte die Außerordentlichkeit der Forschungsergebnisse und deren ungeahnte Tragweite. Er bedankte sich für das immense Interesse, durfte Details des Bahnbrechenden nicht vorwegnehmen und freute sich schon fulminant auf den eminent bedeutsamen Kongress. Zwischendurch versuchte er mehrmals, zum Heiligen Gral im Keller vorzustoßen. Stets stand er vor verschlossener Tür. Nicht mal der Hausmeister verfügte über einen Schlüssel zur stählernen Brandschutzpforte.

 

Die Tür zur Herrentoilette wird geöffnet. Gonzel hört Schritte vor seiner Kabine. Just in diesem Moment entweicht seinem Gedärm überschüssige und durchdringend aromatisierte Luft. Ihm schießen Schweißperlen auf die Stirn. Reflexartig zieht er die Beine hoch. Er trägt teure und sehr auffällige Schuhe. Er könnte identifiziert werden. Peinlicher geht es nicht! Gonzel hört den Ohrenzeugen seiner Darmtätigkeit pinkeln. Der Wasserhahn quietscht, es plätschert, ein Papierhandtuch wird aus dem Spender gerissen, zerknüllt und in den Abfallbehälter geworfen. Die Tür klappt.

 

Gonzel ist wieder allein mit seinen Darm- und Gehirnwindungen. Beide arbeiten fieberhaft an einer Lösung. Der Darm hat sie bereits. Das Hirn müht sich noch ab. Er kann sich unmöglich im Foyer blicken lassen. Vielleicht hat Krallenbecher vor der Presse schon Einzelheiten zu seinen Forschungsergebnissen ausgeplaudert. Sie würden ihn als Institutsleiter nach seiner Einschätzung fragen, nach seinem Beitrag zu dieser Arbeit und nach Wer-weiß-was noch! Er stünde da wie ein Trottel. Ahnungslos und unfähig! Gonzels Bauch krampft sich schmerzhaft zusammen. Genau das ist die Lösung! Er ist krank! Er bleibt einfach auf dem Klo! Wenigstens bis zum Beginn von Krallenbechers Präsentation.

 

Die Kröte hockt auf dem Labortisch, den man auf dem Podium aufgebaut hat, und starrt in die Kamera. Auf der Leinwand hat sie die Dimension eines Sauriers. Ihre schuppigen Warzen sind groß wie Fußbälle und die Augen haben das Ausmaß eines Treckerrades. Krallenbecher erscheint neben der Leinwandkröte wie ein winziger Gnom. Als die Kröte ihr Maul öffnet und ihre Treckerradaugen in Krallenbechers Richtung dreht, sieht es für einen Augenblick so als, als fixiere sie ihn mit bösem Blick. In diesem Moment tauchen Krallenbechers Finger auf der Leinwand auf. Wie Riesenwürmer umschlingen sie die Kröte. Weg ist sie! Die Leinwand zeigt nur noch ein paar braune Kratzer auf grauem Grund.

 

Krallenbecher hält die Kröte wie eine Trophäe in die Höhe und ruft: »So! Sie alle haben das Tier jetzt gesehen! Eine ganz normale Erdkröte, eine gewöhnliche Bufo bufo-Komplex! Wuff! Schnurch!« Er wirkt einen Moment verwirrt, fängt sich aber sofort wieder. »Entschuldigung, das ist mir jetzt so rausgerutscht.« Krallenbecher holt tief Luft. »Und nun das Entscheidende, meine Damen und Herren! In einem ersten Schritt werde ich alle Erbinformationen in den Zellen dieses Tieres löschen!« »Ohh…« und »Ahh…«, im vollbesetzten Saal. Krallenbecher hebt beschwichtigend die Hände. Seine rechte umschließt immer noch die Bufo, deren Beine in der Luft zappeln. »Und in einem zweiten Schritt, meine Damen und Herren – … krääzsch, miauuuu … werde ich diese Kröte mit den Erbinformationen eines Hundes ausstatten!« Raunen im Saal.

 

Krallenbecher rückt seine Versuchsanordnung in den Bereich der Kamera. Auf der Leinwand erscheinen jetzt zwei Plastikkästen. Auf dem Labortisch sehen sie aus, wie Trockner aus dem Nagelstudio. Auf der Leinwand gleichen sie Iglus. Krallenbecher steckt die Kröte in das erste Behältnis. Blaues Licht hüllt die Bufo ein. Jeder kann sehen, dass das Tier augenblicklich vergisst, dass es hocken kann. Es kippt zur Seite und wirkt wie tot. Krallenbecher kratzt sich mit beiden Händen den Bauch, kräuselt die Nase und zieht die Oberlippe hoch. Er macht einen kleinen Hopser, wackelt mit dem Hintern, packt die Kröte und steckt sie in das andere Gerät. Gelbe Strahlen! Die Kröte rappelt sich hoch und schüttelt sich kurz. Dann springt sie aus dem Apparat. Sie schaut sich um und schnüffelt ein wenig auf dem Labortisch umher. Dann hebt sie ihr rechtes Hinterbein und pinkelt an den Verwandler! Tosender Applaus. Die Wissenschaftler springen von ihren Stühlen auf. Sie rufen »Wahnsinn«, »Genial« und applaudieren ohne Unterlass.

 

In diesem Augenblick reißt Gonzel die Saaltür auf. »Bravo, Bravo … «, schreit er aus vollem Hals in den Saal und klatscht wie besessen. Niemand nimmt Notiz von ihm, denn just in dem Moment verschwindet der Krötenköter von der Leinwand. Verwirrung. Stille. Dr. Krallenbecher sucht hektisch den Labortisch ab. Plötzlich ein Schrei! Frau Professor Mecklinger springt kreischend von ihrem Platz in der ersten Reihe auf. »Ihhh, die Kröte … igitt … sie war auf meinem Schoß … pfui Teufel … ich hasse solche Viecher …«. Dr. Malmgrön neben ihr fasst sie am Oberarm und versucht sie zu beruhigen. »Es ist doch jetzt ein Hund, verehrte Frau Professor! Ein Hund! Sie mögen doch Hunde, soweit ich weiß!«

 

Krallenbecher, in der Hoffnung den flüchtigen Probanden zu entdecken, hat indes die Kamera auf Frau Professor Mecklinger gerichtet. Ihr von Ekel verzerrtes Gesicht erscheint auf der Leinwand. Sie starrt Dr. Malmgrön böse an und bleckt dabei die Zähne. Alle können an dem grünen Zipfelchen zwischen ihren Schneidezähnen sehen, dass sie vom Buffet im Foyer die Spinatröllchen hatte. Der Frau Professor ist das egal. Sie knurrt und kräuselt ihre Nase. Im Saal ist es totenstill.

 

»Geben Sie ihr ein Leckerchen«, flüstert Dr. Krallenbecher vom Podium aus Dr. Malmgrön zu. »Ein Leckerchen! Schnell!« Malmgrön guckt entgeistert. »Na machen Sie schon … irgendwas werden Sie doch haben«, raunt Krallenbecher flehentlich. Dr. Malmgrön durchwühlt hastig seine Sakkotaschen. Er findet ein Pfefferminzbonbon. »Geben Sie es ihr, aber vorsichtig«, wispert Dr. Krallenbecher. Dr. Malmgrön wickelt mit zitternden Fingern das Bonbon aus und hält es Frau Professor Mecklinger vor die Nase. Alle sehen auf der Leinwand, wie Frau Professor misstrauisch guckt, kurz schnüffelt, blitzschnell nach dem Bonbon schnappt und es gierig verschluckt. In der nächsten Sekunde schleckt sie Dr. Malmgröns rechte Wange ab.

 

»Ohh Gott!« »Du lieber Himmel!« »Was geht da vor?« Erste Rufe aus dem entgeisterten Publikum. Dr. Krallenbecher kratzt sich unter den Achseln. Er ist sichtlich nervös. »Meine Damen und Herren … beruhigen Sie sich … das ist nichts weiter … wuff, wuff … das Tier strahlt nur ein bisschen … aber nur ganz wenig und das verflüchtigt sich auch … mähähä … gaak, gaak … fast vollständig.« Vergebens. Die ersten Kongressteilnehmer streben zur Tür. Zunächst gilt akademische Zurückhaltung. Sekunden später herrscht Panik. Alle drängeln, schubsen, stoßen. Raus hier! Raus! Weg! Stühle und Menschen stürzen, Schreie gellen, der Feuermelder schrillt. Dr. Krallenbecher reißt das Mikrofon aus dem Stativ und verfolgt die Fliehenden mit dem verzweifelten Appell: »Ich kann alle Nutztiere, auch Vögel, Echsen und wenn Sie wollen, sogar ein Gnu … muuhu …!«

 

Über den Kellerräumen des Instituts steht heute ein Sarkophag in Form eines Iglus. Prof. Dr. Gonzel starb an den Folgen der Dackellähme. Dr. Krallenbecher forschte noch ein paar Jahre in Übersee, bis er sich, im Glauben ein Fisch zu sein, in einen Wasserlauf stürzte. Er ging unter. Daraufhin und aufgrund weltweit ähnlicher Vorkommnisse, sah man sich gezwungen, die ICD um die »multiple humanoid-animalische Störung« zu erweitern. Määäh!

 

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