Von Herbert Glaser

Unsicher sah die junge Frau zu dem Kiosk und presste dabei ihren Mantel mit beiden Händen fest an ihren schlanken Körper, das lange schwarze Haar unter einem dicken Schal verborgen. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen, die sich in der Morgenluft schnell auflösten.

Schließlich trat sie an den Stand heran und beugte sich zu dem halb geöffneten Glasschiebefenster.

„Hallo … Entschuldigung …“

„Rob packt noch Ware aus.“ Ein älterer Mann lehnte im Halbschatten des Kioskdaches am Ende der schmalen Ablagefläche, grinste, und entblößte dabei eine beachtliche Zahnlücke. Erschrocken trat die Frau einen Schritt zur Seite.

„Aha, und wann kommt dieser … Rob?“

„Keine Panik, Schätzchen“. Der Mann klopfte mit einer halbvollen Bierflasche an die Scheibe. „Rob, hier ist Kundschaft für dich!“.

„Ich bin nicht ihr Schätzchen, mein Herr, und außerdem …“

„Also, Herr hat mich schon lange niemand mehr genannt, das muss gefeiert werden … auf Ihr Wohl.“ Genüsslich genehmigte er sich einen großen Schluck Bier. „Ich bin Heinz … und wie darf ich Sie nennen?“

„Melanie, wenn es unbedingt sein muss. Aber hören Sie, ich habe nicht viel Zeit. Wenn jetzt nicht bald dieser …“

„Was gibt `s denn?“ Ein junger Mann mit zerzaustem Haar und Dreitagebart lugte durch die Öffnung zu Heinz.

„Die junge Dame hier möchte deine Dienste in Anspruch nehmen.“

Rob sah zu Melanie. „Was kann ich für Sie tun?“ Hektisch versuchte er, seine schulterlangen Haare in eine ansehnliche Form zu bringen.

„Sie sind meine letzte Hoffnung. Für mein Studium benötige ich die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Soziologie jetzt!“. Melanie deutete über ihre Schulter. „In dem Laden da hinten habe ich schon gefragt, aber die ältere Dame meinte nur, das Heft ist in der Lieferung nicht dabei gewesen. Ehrlich gesagt schien sie mir bisschen verwirrt und deshalb hoffe ich, das Sie … Ihr Kiosk ist der letzte Zeitungsladen auf meinem Weg zur Uni. Und ich brauche die Ausgabe unbedingt heute. Können Sie mir helfen?“

Fasziniert starrte Rob sie an.

„Hallo … arbeiten Sie noch hier?“, drängte sie, „mein Bus kommt in ein paar Minuten!“

„Äh, natürlich, bin gleich wieder da.“ Rob war plötzlich hellwach, drehte sich um und stieß sich den Kopf an, was Melanie zu einem Schmunzeln veranlasste.

„Gut, dass ich die Zeitschrift noch nicht abbestellt habe“, rief er aus dem hinteren Teil des Kiosks, „die wird bei mir fast nie verlangt, aber … voi là … da ist sie.“ Triumphierend legte er die Ausgabe auf den Verkaufstresen. „Macht Neun Fünfzig.“

„Hier, stimmt so.“ Erleichtert gab Melanie ihm einen Zehn-Euro-Schein. „Sie sind meine Rettung.“

„Es war mir ein Vergnügen. Soll ich Ihnen das nächste Heft zurücklegen … erscheint in vier Wochen.“

„Ja, gerne.“ Sie wandte sich zum Gehen.

„Warum abonnieren Sie die Zeitschrift nicht“, rief Heinz ihr nach, „dann wird sie doch ein paar Tage früher zu Ihnen nach Hause geliefert?“

„Halt die Klappe Mann, dann kommt sie doch nicht mehr hierher.“

„Lohnt sich nicht“, rief Melanie zurück, während sie zur Bushaltestelle lief, „brauche nur drei Ausgaben.“

 

*

 

„Sie gehören wohl zum Inventar?“, wurde Heinz von Melanie begrüßt, während sie auf das Bierglas deutete, das auf einem runden Bistrotisch stand. „Gerade beim Frühstück?“.

„Ja, schließlich braucht man eine gute Grundlage für den Tag.“

„Und neues Equipment gibt es auch?“

„Es hat sich einiges verändert in den letzten vier Wochen. Rob meint, ein Tisch wirkt einladender als der schmale Tresen … und trinken soll ich jetzt aus einem Glas … sieht ansprechender aus. Na wenn er meint, ist ja sein Geschäft.“

Heinz zwinkerte Melanie zu. „Hat natürlich nichts mit Ihnen zu tun.“

„Guten Morgen“, tönte es fröhlich aus dem Kiosk, „ich hab `Sie schon erwartet.“

„Guten Morgen“, antwortete die Angesprochene irritiert, „ist Rob heute nicht da? Oh, Entschuldigung, ich hab `Sie gar nicht erkannt.“

„Rob war beim Friseur“, bestätigte Heinz das Offensichtliche, „jetzt wirkt er seriöser. Hat aber nichts mit Ihnen zu tun.“

„Trink du lieber in aller Ruhe dein Bier.“, wies Rob ihn zurecht und hielt Melanie die neue Soziologie jetzt! hin.

„Brauchen Sie die für Ihre Vorlesungen? Wissen Sie, ich habe auch mal studiert … Elektrotechnik … allerdings nur zwei Semester.“

„Na ja, nicht direkt für die Vorlesung. Wir treffen uns regelmäßig im kleinen Kreis … der Professor und einige seiner Studenten. Es geht darum, bis zu den Semesterferien ein umfangreiches Soziologie-Experiment zu entwickeln, bei dem die Probanden in speziell konstruierte Situationen versetzt werden. Und jeder von uns soll dazu eigene Ideen einbringen.“

„Und da wollen Sie den Prof beeindrucken“, mutmaßte Rob, „aber reicht es dafür aus, eine Zeitschrift zu lesen?“

„Helfen sollte es auf jeden Fall. Unser Professor schreibt nämlich einen dreiteiligen Aufsatz für das Blatt. Und ich streue dann in der Runde einige seiner Gedanken ein … natürlich so unauffällig wie möglich.“

„Deshalb kaufen Sie das Heft nicht in der Nähe der Uni“, kombinierte Heinz, „damit niemand etwas merkt … hab `mich schon gewundert.“

„Und“, ignorierte ihn Rob, „hat es geholfen?“

„Ich glaube schon.“ Melanie steckte die Zeitschrift in ihre Tasche und bezahlte. „Er war beeindruckt. In der nächsten Ausgabe erscheint der letzte Teil, dann ist auch bald Semesterende und er entscheidet, wer bei dem Experiment dabei ist.“

„Verstehe … kann ich Ihnen ein Käffchen anbieten?“ Er deutete nach hinten. „Cappuccino, Milchkaffee, Latte?“

„Er hat jetzt sogar einen Kaffeeautomaten … hat aber nichts mit Ihnen zu tun.“ Heinz schmunzelte und nahm einen kräftigen Schluck.

„Danke, vielleicht beim nächsten Mal. Ich muss los.“

„Bis in vier Wochen“, rief Rob ihr nach … und viel Erfolg mit dem Experiment.“

 

*

 

„Geht auf `s Haus.“ Rob servierte Melanie eine Tasse Cappuccino und stellte sich zu ihr an den Bistrotisch. „Tolles Kleid!“

„Vielen Dank.“, lächelte Melanie und wandte sich dann an Heinz, „Kein Heißgetränk für Sie?“

„Kaffee ist reines Gift. Ich bleib lieber bei meinem Vollwertgetränk. Prost.“

Rob schüttelte den Kopf. „Ich hab `mal in dem Heft geblättert. Da ist sogar ein Foto drin. Für einen Professor sieht er ungewöhnlich jung aus.“

„Er ist auch der Grund, warum ich den Kurs belegt habe. Soziologie ist nicht mein Lieblingsfach, aber seine Vorlesungen sind einfach ein Erlebnis.“

„Und heute das letzte Mal?“

„Ja, nach dem Vortrag setzten wir uns zusammen und ich hoffe, dass meine Strategie aufgeht.“

„Das heißt aber für uns … ich meine, Sie brauchen ab jetzt keine Zeitschrift mehr von mir. Sollten wir uns nicht mal …“

„Wissen Sie was, ich komme morgen vorbei und erzähle Ihnen, wie es mir ergangen ist“.

 

*

 

„Wo ist denn Heinz?“ Melanie ließ ihren Blick schweifen und entdeckte den Gesuchten in einiger Entfernung auf einer Bank sitzend. Der erwiderte ihren Gruß, indem er seine Bierflasche hob.

Rob trat nervös von einem Bein auf das andere.

„Ist nicht gut für das Geschäft, wenn er hier dauernd rumhängt. Außerdem wollte ich mal ungestört mit Ihnen reden und Sie fragen, ob wir nicht mal zusammen … aber berichten Sie erst, wie es gestern gelaufen ist.“

„Das ist schnell erzählt, es hat funktioniert.“

„Gratuliere, dann dürfen Sie bei der Versuchsreihe mitmachen?“

„Es ging gar nicht um das Experiment. Ich sagte Ihnen ja schon, dass mich Soziologie nicht sonderlich interessiert.“

„Warum dann der ganze Aufwand wegen der Zeitschrift?“

„Wegen ihm. Sie haben doch auf dem Foto gesehen, wie attraktiv er ist. Ich möchte nicht wissen, wie viele Studentinnen die Vorlesungen nur seinetwegen besucht haben.“

„Und er …“

“Er hat mich zum Essen eingeladen, heute abend, ganz privat, ohne Soziologie.“ Melanie gab Rob einen Kuss auf die Wange. „Danke, dass Sie mir dabei geholfen haben.“

Im Gehen deutete sie zur Bank. „Und seien Sie nicht zu streng mit ihm.“

Mit entgleisten Gesichtszügen stand Rob einige Minuten da, bevor er Heinz zu sich winkte. „Komm schon her, ich geb ` Einen aus.“

 

ENDE

 

Version 2