Von Siggi Hallensleben

 

Wir waren nicht das, was man eine nette Klasse nannte. Auf unser Konto ging ein nervlich zerrütteter Physiklehrer, der nach nur einem Jahr Unterricht bei uns, spontan in den Früh-Ruhestand wechselte, eine Menge desillusionierte Pädagoginnen und Pädagogen und eine Jungreferendarin, die, wenn sie vor uns stehen musste, mit schöner Regelmäßigkeit in Tränen ausbrach. Ich fürchte, wir haben ihr die Lehrprobe versaut. Auf jeden Fall boten wir seit der siebten Klasse genug Stoff für hitzige Debatten im Lehrerzimmer.

Bei 33 Schülern, wovon 25 pubertierende Jungs waren, durfte man, was Disziplin, Leistungswillen und Motivation betraf, zwar keine hohen Ansprüche stellen, doch wir schafften es, selbst das niederste Erwartungslevel kontinuierlich zu unterbieten. Die nahegelegene Innenstadt und das Freibad boten angenehmere Unterhaltungsmöglichkeiten, als ein in den Nachmittagsstunden überhitztes Klassenzimmer. Unsere Lehrer hatten sich notgedrungen daran gewöhnt, vor halbleeren Bänken ihren Stoff darzubieten. Warum sollte sich eine rechtlich mindergeschützte, finanziell angesichts der Schwere ihres Arbeitsfeldes ungenügend honorierte Person auch mit einer testosteron- bzw. östrogengesteuerten Meute anlegen? Gymnasiasten kennen ihre Rechte und sind clever genug, Entschuldigungen wasserdicht zu fälschen. Der Rektor hatte außerdem Besseres zu tun, als aufmüpfigen Schülern Gardinenpredigten zu halten oder sie zu Sozialstunden zu verdonnern, was wiederum den Hausmeister gegen ihn aufgebracht hätte, der uns genauso wenig mochte, wie wir ihn.

Unsere Erziehungsberechtigten trösteten sich wegen der andauernden Misere gegenseitig und zeigten sich durch jahrelange, apokalyptisch anmutende Appelle bei Elternabenden gewissermaßen abgestumpft. Es kamen ohnehin nur noch die Mütter, die am wenigsten Unheil fürchten mussten, weil ihre Kinder zum gemäßigteren Teil des Lagers gehörten. Im Prinzip hätte die halbe Klasse der Schule verwiesen werden müssen, wäre dies dem Image der Lehranstalt nicht beschämend abträglich gewesen.

Man beschloss einfachheitshalber, das Problem auszusitzen. Nach der zehnten Klasse würden ohnehin erwartungsgemäß ein paar der unverbesserlichen Rebellen die Schule verlassen.

Wie durch ein Wunder schafften wir es alle, bis auf eine, die sowieso schwanger war und ihre Schullaufbahn an dieser Stelle beendete, versetzt zu werden.

 

Am ersten Tag des neuen Schuljahres erschien unsere Klasse vollzählig. Immerhin hatten wir uns seit sechs Wochen nicht mehr gesehen. Somit bestand genügend Gesprächsbedarf. Zudem versprachen ein anderer Klassenraum und frische Lehrkräfte ein wenig Abwechslung.

Bis auf den ausrangierten Physiklehrer und die Jungreferendarin, von der man munkelte, dass sie sich beruflich umorientiert habe, gab es nur einen fremden Namen auf unserem Stundenplan. Ein Herr Grün sollte uns dieses Jahr in Chemie unterrichten. Beim Rest der Pädagogen-Schar hatte man auf Bewährtes und Nervenstarkes gesetzt.

Die Nachricht überraschte. Warum bekamen wir kurz vor der Mittleren Reife jemand Neues? Üblicherweise behielt man seine Lehrer mindestens zwei Jahre lang, sofern sie keinen Burn-out erlitten.

Nun gut, bei Herrn von Hofsteiner war es uns ebenfalls gelungen, Gebrauchsspuren zu hinterlassen. Er hatte uns zu Beginn des letzten Schuljahres weismachen wollen, dass sein Unterricht hauptsächlich aus spannenden Experimenten bestünde. Was man uns bot, war ein nüchternes Periodensystem, präsentiert von einem lehrpädagogischen Nervenbündel, unter dessen zittrigen Händen die Reagenzgläser zu Dutzenden zerbrachen. Und falls doch eins heil blieb, ließ das vorher angekündigte Ergebnis auf sich warten. Es zischte höchst selten und trotz angestrengten Schüttelns oder dem Einsatz von Bunsenbrennern änderten sich in der Regel weder Farbe, noch Zustand des Stoffes. Hinterher stotterte er hochrot etwas von unbegreiflich und was theoretisch alles hätte passieren müssen.

Als Konsequenz daraus mieden wir sein enttäuschendes Unterhaltungsprogramm und rissen Witze über ihn.

Die Rache folgte auf dem Fuße und zwar in Form von unangesagten, mörderischen Tests oder gnadenlosen Klassenarbeiten. Am Ende des Schuljahres waren dreiviertel von uns überzeugt, dass dieses Fach Konkurrenz mit jedem chinesischen Dialekt aufnehmen könne und unser Notenspiegel untermauerte diese Ansicht recht eindrücklich.

Wir trauerten unserem Ex keine Minute hinterher und beschlossen, dieses Mal mit geringeren Erwartungen in dieses Fach zu gehen. Unser Mädchenanteil hoffte dennoch inbrünstig, dass dieser Herr Grün jung, attraktiv oder wenigstens cool sein würde. Vor drei Jahren hatte es mal ein Englisch-Referendar geschafft, ganze Scharen von Schülerinnen aufgrund seines strahlenden Lächelns und den markant blauen Augen, verliebt Vokabeln pauken zu lassen.

 

Gleich am zweiten Schultag sollte das Treffen „Neuling stößt auf Meuterer-Klasse“ stattfinden. Unser schlechter Ruf hatte ihn sicher ereilt und man wartete allseits gespannt auf die erste Begegnung.

Ein Drittel der weiblichen Hoffnungen wurden bereits beim Betreten des Chemiesaals erfüllt. Herr Grün war tatsächlich jung. Wenn er keinen weißen Laborkittel getragen hätte, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass es sich bei ihm um eine Lehrkraft handeln könnte. Anscheinend hatte man ihn frisch von der Uni rekrutiert. Den Rest mussten wir leider begraben. Sein Äußeres sprach katastrophal gegen ihn: Klein, mickrig, Abstehohren, lichtes Haar und eine Brille, die auf starke Kurzsichtigkeit schließen ließ. Er konnte einem jetzt schon leidtun.

Im Laufe der Jahre hatten wir ein bewährtes Stressvermeidungs-System bei der Verteilung von Sitzplätzen entwickelt. In die ersten Ränge begaben sich normalerweise unsere Streber, deren vorrangige Aufgabe es war, den Unterrichtsfluss ins Plätschern zu bringen, von den weniger hellen Lichtern in den hinteren Rängen abzulenken, die Lehrer bei Laune zu halten oder vor der endgültigen Verzweiflung zu retten. Für heute galt dies allerdings nicht. Ausgerechnet unsere schlimmsten Unruhestifter lümmelten sich ganz vorne hin. Drei davon begannen sogleich Skat zu spielen, die übrigen unterhielten sich angeregt.

Die vor uns stehende Witzfigur bekam erst mal keinerlei Beachtung geschenkt.

Herr Grün war aber offenbar schwer aus der Ruhe zu bringen, weder durch ausdauerndes weibliches Kichern, noch durch Papierflieger von ganz hinten oder halbstarkes Herumalbern aus den mittleren Reihen. Er warb auch nicht mit tollen Experimenten. Eigentlich sprach er überhaupt nicht. Er zog bloß einen Beutel mit weißem Pulver aus der Tasche seines Kittels und verstreute es auf den Tischen der ersten Reihe.

Niemand zeigte sich hiervon beeindruckt. Sollte er doch seinen Staub verteilen, wo er wollte. Die Putzfrauen kamen eh am Abend.  

Als Nächstes holte er einen Hammer hinter dem Labortisch hervor.

Daraufhin wurde es merklich ruhiger. Sogar die Skatspieler blickten leicht irritiert über ihre Karten. Was hatte er vor? Er würde doch wohl kaum hier irgendwo Nägel reinklopfen wollen.

Dann ging alles ganz schnell. Herr Grün schlug mit dem Hammer mehrfach auf den Tisch, beziehungsweise auf das dort befindliche Pulver. Jedes Mal gab es beachtliche Explosionen. Ein ohrenbetäubendes Knallen, Feuer sprühte und schwarzer Rauch stieg auf. Als Folge davon flogen die Spielkarten durch die Luft und einige Schüler tauchten schreiend unter ihre Bänke.

Entsetzen, wenn nicht gar Schock zeigte sich auf sämtlichen Gesichtern. Unser aller Leib und Leben stand in Gefahr. Dieser Lehrer musste verrückt sein. Hatte man versehentlich einen Attentäter in die Schule gelassen?

Zum Glück gab es damals noch keine Handys, so dass eine Massenpanik ausblieb und die Eltern erst am Abend die gemäßigte Version des Experiments berichtet bekamen.

Unser neuer Lehrer stand von dem allem sichtlich unbeeindruckt da und verkündete: „So Leute, jetzt wisst ihr, was eine exotherme Reaktion ist.“

Unsere Aufmerksamkeit war ihm die nächsten vierzig Minuten gewiss.

 

In den kommenden Chemie-Stunden blieben die vorderen Bänke grundsätzlich unbesetzt und selbst die draufgängerischsten Schüler bestanden darauf, dass bei sämtlichen Experimenten, auch den -laut Lehrer- völlig harmlosen, die Schutzscheibe am Labortisch oben blieb. Wir haben in diesem Schuljahr Warzen mit Schwefelsäure weggeätzt, Ammoniak geschnüffelt, Marshmallows über dem Bunsenbrenner gegrillt und dabei gleichzeitig gelernt, wie sich Röstungsprozesse chemisch aufzeichnen lassen.

Herr Grün baute seinen Unterricht wie eine faszinierende Fortsetzungsgeschichte auf. Jedes Mal unterbrach ihn die Schulglocke ausgerechnet an der spannendsten Stelle. Seine unübersehbare Begeisterung für dieses Fach begann von Stunde zu Stunde mehr auf uns überzuspringen. Er unterrichtete nicht bloß, er nahm seine Schüler mit auf eine Entdeckungsreise in die Welt der Chemie. Selbst die naturwissenschaftlich Minderbelichteten steckte er an. Irgendwie bekam er es hin, jedem das Gefühl zu vermitteln, der aktuell behandelte Stoff wäre logisch und wir alle könnten bei konsequentem Überlegen auf das richtige Ergebnis kommen.

Und es funktionierte tatsächlich. Wir wuchsen stetig über uns hinaus, schafften es, intelligente Antworten zu geben, die richtigen Fragen zu stellen, erfassten Zusammenhänge und begriffen selbst das Periodensystem. Chemie wurde unser Lieblingsfach und wir fuhren nacheinander Bestnoten ein, auch im Abitur.

Interessehalber verfolgte ich Herr Grüns weiteren Werdegang. Er blieb bis zu seiner Pensionierung an unserem Gymnasium. Seine Klassen räumten mit schöner Regelmäßigkeit bei „Jugend forscht“ hochdotierte Preise ab…

Version 3