Von Robert Pfeffer

Den letzten Körperkontakt hatte Simone Grell vor vier Monaten beim Zerteilen eines Schweinefilets in mundgerechte Scheibchen. Rempler im Bus nicht mitgerechnet. Mitgefühl zeigte sie bis dahin öfter, kam aber seitdem beim Anblick eines auf schneeglattem Geläuf ausrutschenden Seniors nicht über eine Kritik am städtischen Streudienst hinaus. Konstantin hatte sie verlassen und das kam einem Hochverrat gleich. Simone Grell verließ man nicht! Simone Grell verstieß, servierte ab, gab Laufpässe, verteilte Körbe, ächtete, ignorierte oder verbannte Y-Chromosomen-Träger, war aber niemals selbst Empfängerin einer gefühlsbestimmten Kündigung. Der Tag, an dem es doch passierte, hatte sich wie ein Brandzeichen in ihre Seele geschmort. Und es kam noch schlimmer. Sie vermisste ihn.

 

Nach Tagen der Ungläubigkeit folgten einige des Trotzes, sogar zwei ausgesprochen wütende waren dabei. Dann solche, an denen sie sich fragte, ob es eine Nachfolgerin gäbe, was aber nur den Schmerz durch Grübeln betäubte. Kein Tag verging ohne eine Begegnung, bei dem sich von hinten herumgerissene Zufallspassanten nicht als Verwechslung herausstellten. Die Zahl junger Männer in der Kleinstadt, denen dies widerfuhr, war schon so beträchtlich, dass Gefahr bestand, es würde bald den Ersten ein zweites Mal treffen. Doch dann setzte die Taubheit ein, dieses Gefühl, dass sie nichts mehr wirklich berührte. Eine nicht enden wollende Ohnmacht gegen eine Entscheidung, die sie nicht akzeptieren konnte. Und so waberte sie durch ihre Tage, schlingerte zwischen Beruf und freier Zeit, die in ihrer Trübheit nicht wert war, Freizeit genannt zu werden.

 

Gespräche mit Carina führten zu nichts, außer zum Übermaß an Rotwein. Alle Versuche der Freundin, Simone vom generellen Wert eigener Persönlichkeit zu überzeugen, waren gescheitert. Konstantin war auf Geldscheinen zu sehen, lächelte aus jedem Schaufenster, prangte auf sämtlichen Werbeblättchen, arbeitete gleichzeitig in allen Supermärkten und Bäckereien der Stadt. Es war an der Zeit, sie da rauszuholen.

 

Carina hatte sich vorbereitet. Rotwein stand auf dem Tisch, mehrere Tüten Grissini lagen daneben, außerdem zwei Bleistifte, ein Anspitzer und einige Bögen Papier, deren bedruckte Seite Richtung Tischplatte zeigte. Sie hatte Simone zur Verabredung mit der Ankündigung geködert, so lange Psycho-Tests aus Frauenzeitschriften zu machen, bis die Welt definitiv keine Zukunft mehr habe. Diese Aussicht führte zur Zusage. Als die Damen sich auf Sofa und Sessel platziert hatten, nahm Carina die Bögen zur Hand.

 

„Frau Grell, Sie sind heute hier, um emotionale Insolvenz anzumelden. Bevor wir den dazu eigens entworfenen Standard-Fragebogen miteinander durchgehen, um die Möglichkeiten des Wiederaufbaus einschätzen zu können, schildern Sie bitte kurz in eigenen Worten, wie es dazu kam, dass Sie heute den Weg zu uns gefunden haben.“

„Hattest du schon eine Flasche, oder was soll der Scheiß?“

„Diese Reaktion kennen wir, ich möchte Sie dennoch bitten, wenigstens annähernd beim Thema zu bleiben.“

„Jetzt hör schon auf mit dem Quatsch und hol den ersten Psycho-Test raus. Die sind immer so nett idiotisch.“

Carina war darauf gefasst und blieb standhaft bei ihrer Linie.

„Nun, emotionale Insolvenz ist meist Folge eines traumatischen Ereignisses und insoweit wissen wir um die Schwierigkeiten, die Menschen haben, darüber zu sprechen. Ich lade Sie ein, das heute zu tun.“

„Was soll denn dieser Quatsch mit der Insolvenz?“

„Frau Grell, Sie können mittlerweile die Frage nach der Uhrzeit nicht mehr von einer nach Ihrem Befinden unterscheiden, ohne an Herrn Wiedemann zu denken. Ich schlage vor, wir beginnen einfach mit dem Fragebogen und klären die anderen, eigentlich vorher zu stellenden Aspekte dann im Laufe der Zeit.“

Simone öffnete die erste Flasche, goss die beiden Gläser zu voll, ließ sie aber noch stehen und fiel in die Kissen. „Carina, du bist manchmal echt anstrengend.“

„Dieses Kompliment dürfen wir gerne erwidern, Frau Grell. Frage Nummer 1: Wie viel würden Sie bezahlen, um Herrn Wiedemann zurück zu bekommen?“

„Bezahlen? Ha, … er … er müsste für mich bezahlen. So sieht es doch mal aus!“

„Das steht im absoluten Gegensatz zu Ihrem Verhalten, erscheint also unlogisch. Nennen Sie bitte eine Zahl.“

Simone rollte die Augen und warf den Blick zur Seite. „Nen Fuffi vielleicht. Ok, zwei.“

„In Ordnung, ich notiere hundert Euro. Frage Nummer zwei: Nennen Sie einen, maximal zwei Punkte, vor denen Ihre Mutter Sie hätte eindringlicher warnen sollen.“

„Alle Männer sind Schweine.“

„Gut. Ich fasse bis hierher zusammen: Sie würden hundert Euro für ein Schwein bezahlen.“

Ein erstes, noch sehr zartes Schmunzeln umspielte Simones Mund. „Du Luder.“

Carina blieb ohne erkennbare Rührung ihrer Rolle treu.

„Frage Nummer 3: Alligator oder Meerschweinchen?“

„Hä?“

„Was würden Sie eher halten? Statt Hund oder Katze?“

„Sagt das was über meine Psyche, wenn ich jetzt antworte? Das ist hinterhältig!“

„Frau Grell, bitte … für den geeigneten Wiederaufbau-Plan sind solche Aspekte durchaus von Belang. Wir müssen sicher gehen, ob Sie wirklich eine Vermisserin sind, oder eben nicht.“

„Weil ich eher ein gefräßiges Reptil oder ein puscheliges Knäuel halten würde?“

„Beantworten Sie bitte die Frage.“

„Ich sag’s noch mal: Du Luder! … … … Alligator.“

„Bei der vierten Frage geht es darum, dass Sie bitte entsprechend ergänzen. Ich nenne Ihnen die Namen berühmter Persönlichkeiten. Sagen Sie mir bitte, wen oder was diese vermissen würden.“

„Das kann ja heiter werden.“

„Darth Vader.“

„Och, jetzt hör aber auf!“

„Frau Grell? Bitte!“

„Seinen Kaffeefilter.“

„Eva Braun.“

„Du willst es ja nicht anders: Den Frühling 1946.“

„Lassie.“

„Dir haben sie doch wirklich was ins Glas gemischt. Die große Eiche am Dorfrand. Das war immer ihr Stammbaum.“

„Marie Antoinette.“

„Na, was schon? Ihren Scharfsinn.“

„Minnie Maus.

„Die Erfindung der Ohrenstäbchen.“

„Frau Kregelkamp.“

„Meine Nachbarin? Die ist berühmt? Ach, vermutlich wegen des Gestanks, wenn sie Fischfrikadellen macht. Also, die vermisst meistens Eier. Deswegen klingelt sie öfter.“

Es begann offenbar Spaß zu machen. Simone setzte sich auf die Sofa-Kante und erwartete mit einem Lächeln die nächste Frage.

„Nummer 5: Wovon träumen Sie im Schlaf?“

„Fast jede Nacht von …“

„Ja? Frau Grell?“

„Von … Spaghetti Carbonara.“

Zum ersten Mal meinte Simone, in Carinas Gesicht so etwas wie Enttäuschung zu sehen.

„Na, die Antwort hat dir nicht gefallen, was?“

„Es geht hier ausschließlich um Sie, Gnädigste. Frage 6: Welches Detail fehlt im Bild der Mona Lisa?“

„Lockenwickler. Ganz klar, Lockenwickler. Und ein Haarfestiger.“

„Nennen Sie jetzt Ihren Lieblingssong in Sachen Vermissen.“

„Oh, das ist schwer. Sind Mehrere Nennungen möglich? So irgendwas um die vierhundert?

„Einen, bitte.“

„Fast unmöglich. Ich nehme den ersten, der grad vorbeikommt, weil er täglich passt: Still got the blues von Gary Moore.“

„Sie haben es bald geschafft. Nummer 8: Nennen Sie fünf einzelne Wörter, die Ihnen zum Stichwort Vermissen einfallen.“

„Fünf? … Mistkerl, Hundesohn, Waschlappen, äh … Drecksack und … warte … Versager, ja genau, Versager. Wie klingen die?“

„Die Auswertung kann leider erst nach dem Abschluss des Tests beginnen. Frage 9: Wie sähe der Ort aus, an dem Sie Herrn Wiedemann wiedersehen möchten?“

„Das ist so eine Höhle, unten im Untergrund kreisender Brei flüssiger Steine und ich werfe von oben halt keinen Ring hinein, sondern …“

„Danke, das genügt an Details. Nummer 10: Was dürfte in einer gemeinsamen Wohnung mit Herrn Wiedemann keinesfalls fehlen?“

„Katzen. Am besten viele. Er hasst Katzen.“

„Fein, nun ist es fast geschafft, letzte Frage: Glauben Sie, dass Vermissen hilft, die Zukunft vorherzusagen? Egal, ob Sie mit Ja oder Nein antworten, bitte begründen Sie ihre Einschätzung.“

„Ganz bestimmt glaube ich das. Wenn ich in eine Glaskugel schaue, dann habe ich ein klares Bild seiner Zukunft.“

 

Carina zog sich in den Sessel zurück, blätterte und raschelte eine Weile, beschrieb dies als Testauswertung und kündigte an, sich in Kürze mit dem Ergebnis zu melden. Simone betrachtete ihre Freundin und drängte sie in regelmäßigen Abständen zur Eile.

 

„Nun, Frau Grell,“ beendete sie mit einem Haken auf dem letzten Blatt ihre Aufzeichnungen, „ich kann Ihnen das Testergebnis hiermit eröffnen. Ihre emotionale Insolvenz ist bewilligt, ein Wiederaufbau-Plan kann aufgrund der folgenden Fakten als erfolgversprechend angesehen werden. Sie würden zwar hundert Euro für die Wiederbeschaffung eines Schweines zahlen, dies als Alligator aber gleich wieder zerfetzen. Ein erster Hinweis auf die Mehrdimensionalität Ihrer aktuellen Gemütsverfassung. Der Umstand, dass Sie die Fragen nach Vermisstem bei den Persönlichkeiten bis auf Ihre Nachbarin, Frau Kregelkamp, nicht mit echter Empathie und einem gewissen Nachdenken beantworteten, lässt größeren Aufwand im Wiederaufbau des Moduls Mitgefühl durchscheinen. Die dann aufeinanderfolgende Assoziation von Spaghetti Carbonara und Lockenwicklern ist mehr als deutliches Indiz für einen Rollenkonflikt bei sich selbst. Still got the Blues in Kombination mit Schimpfwörtern und Vernichtungsfantasien sind hingegen ausgezeichnete Voraussetzungen für den Abschluss der Insolvenzphase.“

Carina machte eine Pause.

„Lediglich die letzte Antwort deutet auf reichlich Arbeit hin. Dass Sie in der Glaskugel seine Zukunft sehen statt Ihrer, das, Frau Grell, ist fragwürdig.“

 

Simone senkte den Kopf.

„Nur Mut, Frau Grell. Legen Sie jetzt bitte Gary Moore auf und lassen Sie uns endlich das Rotweinglas erheben.“

Kurz darauf stießen sie an.

„Auf die Zukunft! Aber eins musst du mir verraten: Darth Vader … wie bist du denn auf den gekommen?“

„Oh, sei froh, ich wollte eigentlich nach R2D2 fragen, aber dann hättest du Steckdose gesagt, ohne nachzudenken. Das war zu einfach.“

„Du Luder!“

 

(Version 2)

 

* mit Dank an Heidi *