Von Barbara Guggenbichler

Es war einer dieser Frühlingstage, an denen Sonne und Schnee miteinander ringen, und es keinen Gewinner gibt.

 

Ich musste einige Kopien machen, und als ich aus dem Copyshop trat, streute ein Graupelschauer weiße Punkte auf den Asphalt. Die Körner gaben dem geflickten Teerteppich eine unerwartete Schönheit und es war ein Glücksmoment, dies zu sehen.

Es war Mittagszeit und ich wollte irgendwo ins Warme, ein bisschen unter Leute, da fiel mir Giuseppe ein, seine kleine Trattoria am Ende der Straße.   

Obwohl nicht weit entfernt, war ich, als ich dort ankam, selbst weiß getupft.

Ich öffnete die Tür zu dem Lokal und genau auf der Schwelle tat sich von einem auf den anderen Moment eine neue Welt auf: der Duft von feinem Essen und Kaffee, vermischt mit vertrautem Topfklappern aus der offenen Küche und geselligem Murmeln: ja, das war jetzt genau das Richtige.

 

Ich hatte Glück, beide Zeiger der Uhr über dem Tresen zeigten auf die Eins, das Lokal wie immer voll. Sami kam mir strahlend entgegen, begrüßte mich und gab mir den letzten freien Tisch, einen Stehtisch nah am Eingang. Ich setzte mich auf den Barhocker, und es tat gut, von hier aus das Geschehen einfach nur zu beobachten. Samis Geschicklichkeit, viele Dinge gelassen und dennoch flink zu tun: Brot zu schneiden, Weingläser einzuschenken und schwungvoll an die Tische zu bringen, ein Telefonat anzunehmen und dabei etwas aufzuschreiben, neue Gäste herzlich zu begrüßen, zum Warten zu ermuntern und immer wieder das dampfende Schauspiel mit den kleinen Espressotassen, als würde ein Hochseetanker klitzekleine Motorboote mit braunem Gold befüllen.

 

Nach dem kleinen Salat brachte Sami Spaghetti mit Lachs. Ich hatte drei, vier Bissen gegessen, drehte erneut am Tellerrand die Nudeln ein, und gerade als ich die Gabel an den Mund führte, sah ich einen Mann an meinem Tisch sitzen. Ich hatte ihn nicht kommen sehen, er hatte auch nicht gefragt, ob er sich setzen dürfe, er saß plötzlich auf dem anderen Barhocker mir gegenüber.

Er begann das Gespräch so selbstverständlich, fließend, als wären wir schon immer hier zusammen gesessen, vor ihm ein Glas Weißwein, das noch voll war. Er war nicht unangenehm, aber im ersten Moment war ich irritiert, weil ich gar nicht darauf eingestellt war. Er sagte, er komme oft hierher, weil das Essen so gut und die Menschen hier so nett seien. Er beantwortete meine ungestellte Frage; er hätte bereits gegessen, Sami brauchte jedoch den Tisch und bei mir sei noch ein Platz frei gewesen. Ich entspannte mich, hatte er doch eine erfrischende Art, nicht aufdringlich und eine feine, nicht zu laute Stimme. Sein Bruder und er hätten eine kleine Galerie schräg gegenüber, und sie bereiteten gerade eine neue Ausstellung vor, von einem spanischen Künstler, der alte schwarz-weiß Fotografien in seine Bilder einarbeitet.

Jetzt war es sogar interessant, ihm zuzuhören, und gleichzeitig mein Essen zu genießen, ohne viel sagen zu müssen. Ist das Leben nicht immer wieder spannend, dachte ich, und wie schnell es sich ändern kann. Irgendwann warf er ein: „Darf ich mich vorstellen: Max Hauser.“

Max – dieser Name weckte sofort angenehme Erinnerungen, denn so hieß auch meine erste Liebe.

Auch ich nannte meinen Namen, und eine heitere Stimme in mir ergänzte die Situation mit einem Aha, so also geht so was.

Sein Erzählstil war lebendig; die Eltern gründeten in den Siebziger Jahren die Galerie, sie seien mehrmals innerhalb der Stadt umgezogen und heutzutage sähen viele Menschen Kunst als Kapitalanlage, und kauften sie deshalb, nicht wie früher aus Leidenschaft. Dass er und sein Bruder in der Welt der Galerien aufwuchsen. Er sagte das weich und lächelte, wie einer der weiß, dass Glück auch geschenkt wird.

Ich war dabei, den Zucker in meinen Espresso rieseln zu lassen und genoss, wie sich das Bild des Graupelschauers in diesen Blick hineinschob.

Max sprach noch ein paar Sätze über den spanischen Maler … und dann, als hätte ihm jemand auf die Schulter getippt, bemerkte er, erstaunt über sich selbst:

„Mein Gott, jetzt rede ich soviel von mir. Was machen Sie eigentlich? Was interessiert Sie?“

Mein Blick blieb an der Zuckertüte haften, deren Ende ich gerade faltete. Ich nahm die Tasse in die Hand und entschied mich, ohne groß darüber nachzudenken, für diesen kurzen Satz:

„Ich interessiere mich für das Unsichtbare.“

Nach dieser Bemerkung, es war nur ein Augenblick, sah ich in seinen Augen eine Wendeltreppe, als würde es dort viele Stockwerke hinuntergehen, und sich unten eine Ebene auftun, zu der all seine fröhlichen Worte keinen Zutritt hätten. Eine traurige Schwere lag da, die sich mir für diesen Sekundenbruchteil zeigte.

„Oh“ war das Einzige, was aus seinem Mund kam. Aber sein Blick verriet viel mehr.

Was danach kam, war wie eine Wiederholung des Anfangs unserer Begegnung: alles ging ganz plötzlich. Die Familie, die rechts von mir saß, machte sich zum Gehen bereit, ihre Stühle rückten, und aus Sorge um meine Mappe mit den Kopien, die ich am Boden an die Wand gelehnt hatte, bückte ich mich kurz, und als ich mich wieder aufgerichtet hatte, war er weg. Der Mann – Max. Er war wie vom Erdboden verschluckt.

 

Ich wartete noch ein wenig, suchte etwas umständlich nach meinem Geldbeutel, war nicht ganz bei der Sache. Hatte ich etwas Falsches gesagt? War er nur auf die Toilette gegangen?

 

Das unkomplizierte Ritual das Geld einfach so auf dem Tisch liegen zu lassen, liebte ich. Es fühlte sich so heimisch an. Nun aber wollte ich dringend an die frische Luft, in der vielleicht eine Antwort lag, packte also meine Sachen, und ging zur Tür, als ich Sami hinter mir hörte: „Signora, mi scusi. Das Glas Wein“, und er fügte mit einer lockeren Handbewegung hinzu „aber das können Sie gerne auch beim nächsten Mal bezahlen.“

Ich lächelte und erwiderte: „Das Glas Wein war von dem Herrn.“

Er neigte den Kopf etwas zur Seite.

„Der Mann, der bei mir am Tisch saß“, ergänzte ich.

„Welcher Mann?“, fragte Sami und lächelte. Jetzt lächelten wir beide.

„Der, den Sie zu mir gesetzt haben.“

Sein immer noch freundlicher Gesichtsausdruck hatte nun etwas Fragendes.

Eine erste Unsicherheit machte sich in mir breit, und ich erklärte noch ausführlicher:

„Der Mann, den Sie zu mir gesetzt haben, weil sie seinen Tisch brauchten.“

In Samis Miene sah ich nun Unverständnis.

„Es tut mir leid, ich habe keinen Mann gesehen.“

Plötzlich spürte ich Hitze in mir aufsteigen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der unsere Augen nach Aufklärung suchten, die uns mit Worten nicht gelungen war, bat ein Gast Sami um die Rechnung. Dies war die Gelegenheit auf einen inneren Impuls zu hoffen, der mich aus dieser unangenehmen und peinlichen Situation befreien sollte.

Als sich der Kellner wieder mir zuwandte, fragte ich freundlich, bemüht meine Verunsicherung in keiner Weise preis zu geben: „Was bekommen Sie für das Glas Wein?“

Auch Sami spürte, dass hier etwas eigenartig war. Aber wir beließen es dabei.

Ich bezahlte den Wein und verließ mit einem „a la prossima“ das Lokal. Draußen war ich jetzt dankbar für die Kälte, die in meinem Kopf hoffentlich Klarheit schaffen würde. Ich ging mit festem Schritt in Richtung Kirche, als wüsste ich genau, wohin ich wollte. Aber in meinem Kopf war nur Verwirrung.

 

Es kann doch nicht sein, dass Sami den Mann nicht gesehen hat. Und der Mann, Max, hat er mich auf dem Arm genommen? Hat er sich einen Spaß mit mir gemacht?

Ich bekam kein klares Bild, wie die Kugeln in einem Flipper sausten die Gedanken hin und her.

Halt – er hatte doch diese Galerie mit seinem Bruder ganz in der Nähe erwähnt. Ich drehte um und ging mit einem spürbaren Schmerz im Magen auf die andere Straßenseite.

Da, über der Durchfahrt an der Fassade ein Schild „Galerie M & M Hauser“.

Atme nochmal durch und entspann Dich, besänftigte mich eine innere Stimme. Da, wo vorher die Hitze war, spürte ich jetzt etwas wie Wut, und wollte einfach nur verstehen.

Im zweiten Innenhof befand sich die Galerie: zwei große Schaufenster, durch die schemenhaft viele Kisten und zwei Menschen zu erkennen waren. Einer hielt ein Bild an eine Wand. Okay, das war also wahr.

Ich öffnete die Tür und spürte ein weiches Gefühl in den Beinen, als ob ich gleich einen Vortrag halten müsste. Einer der Männer drehte sich um, kam auf mich zu und sagte noch im Herankommen mit offenen Armen: „Es tut mir leid, aber wir haben nicht geöffnet, wir sind gerade in Vorbereitung auf unsere neue Ausstellung“. Ich sah ihn an, und erkannte die Ähnlichkeit. Ja, das muss sein Bruder sein. Ich wollte nicht lange alles erklären, fühlte mich auch irgendwie beschämt, immer noch irritiert und entschloss mich, einfach nur zu fragen:

„Ist ihr Bruder auch da?“

Es entstand eine Pause, in der Wolkenfelder dieses Märztages durch sein Gesicht zogen, hell und dunkel, und er dann, irgendwann, mit gefasster Stimme sagte: „Mein Bruder ist vor Kurzem gestorben.“

Sein nächster Satz drang nicht mehr zu mir durch.

Mein rechtes Knie knickte ein.

Der Mann streckte mir reflexartig seine Hand entgegen und führte mich wortlos einen Schritt zurück, damit ich mich auf eine der noch geschlossenen Kisten setzen konnte.

Meine wirren Gedanken von vorhin waren nun still, mucksmäuschenstill, ein sonderbares Schweigen.

Der Bruder, sichtlich berührt von meiner Reaktion, erwiderte:

„Ja, ich vermisse ihn auch so sehr. – Woher kannten Sie Max ?“

Als ich nicht antwortete, fragte er mich, ob ich vielleicht ein Glas Wasser möchte, oder ein Glas Wein.

„Wir haben gerade eine Flasche geöffnet.“

Abwesend antwortete ich „Ja – gerne – ein Glas Wein.“

 

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