Von Cäcilie Trotha

„Das Kind ist schon wieder tot”

„Welches Kind?”

„Das ungeborene Kind deiner Schwester”. Sandras Stimme flattert.

„Oh ne. Möchtest Du auch ein Brot?” Stefan pult eine Scheibe Roggen-Vollkorn aus der Plastikverpackung und schiebt es in den Toaster-Schlitz, wobei es zerbricht und ein paar Krümel für alle Ewigkeit darin verschwinden.

Stille.

Die klingt, als würde Sandra von außen gegen eine Milchglasglocke hämmern. Stefan, den sie seit 13 Jahren liebt, hört sie darunter nicht.

(Erzähler: Das verhält sich seit Längerem so).

 

„Sag halt was!” Sandra steht im Raum wie ein Fremdkörper. Nichts. Nur Montagmorgen in ungnädigem Nachtdunkel.

„Du bist fucked up”, flüstert sie. Einen Moment lang verharrt sie, ohnmächtig, dann weicht das Leben aus ihrem Körper wie die Luft aus einem Luftballon. Und wie ein Luftballon nach einer kurzen, verzweifelten Umdrehung beim Luftlassen hilflos der Schwerkraft folgt, sackt auch Sandra an Ort und Stelle in sich zusammen. Kauert am Boden, nackte Knie auf kaltem Linoleum, das Nachthemd verrutscht. „Ich liebe Dich nicht mehr.” Sandra feuert messerscharfe Blicke. Ihre Augen kämpfen, last man standing, während der körperliche Kontrollverlust anhält.

Eine Abfolge von 21 Buchstaben, durch vier Leerzeichen in ungleichmäßig lange Stücke zerhackt. Die Worte ergeben für Stefan keinen Sinn. Nicht, dass er Sinn darin gesucht hätte, er geht gerade seinen Investoren-Pitch im Kopf durch. Nun liegt dieser Buchstafenhaufen geradezu konfrontativ vor ihm und das verärgert ihn leicht, denn: Er möchte nicht.

Stefan trinkt sein Heißgetränk in schnellen Schlucken. Dann Schweigen, lang und schwer. Das Mädchen auf dem Boden starrt regungslos ins Leere. Als das Toast hochspringt, schrecken beide zusammen. Er streicht erst Butter, dann großzügig Rapshonig darauf. “Der Blütenhonig ist fast alle.” antwortet er. Seine Gedanken sind bei seiner Software und es folgt dickflüssig Stille, die gute alte.

„Seit dem Unfall finde ich dich nicht mehr. Stefan?“

Beim Klang seines Vornamens hievt er den schweren Blick vom Brot. Aus seinem vollen Mund stolpert: “Oh ne. Heute ist ein wichtiger Tag für Rundum Sorglos. Ich kann jetzt nicht.“

„Nie kannst Du.”

Eine kleine Stimme pocht in ihm, die lieb sein und alles in Ordnung bringen will. Doch die Stimme ist fern und er fixiert wieder den Honigbrotteller, wo er vom Software-Imperium träumt.

„Ich bin so unglücklich”, piepst es von da unten.

„Oh ne. Huch, es ist ja schon viertel vor. Ich nehm das einfach auf die Hand mit.” Ein Messer in den Bauch gerammt, klappt das Honigbrot jetzt wie Sandra zuvor in der Mitte zusammen.

Stefan, im Abgang, wedelt, den Weltuntergang zu seinen Füßen ignorierend, einen flauen Luftkuss in ihre Richtung.

„Ich kann so nicht”, hebt sie die Lanze zum letzten Stoß.

„Ich treffe jetzt die Investoren” entgegnet er, steht auf und verlässt die Wohnung ohne sich noch einmal umzudrehen.

(Erzähler: Schön ist das nicht.)

 

Stefan Schraut wähnt sich in diesem Winter zum ersten Mal wichtig. Im Start-Up Berlin träumt er vom Heldentum der neuen Gründerzeit. Rundum Sorglos ist Stefans erste große Idee mit richtig Wumms.

„Mit Rundum Sorglos können Sie schlechte Nachrichten einfach abblocken“, spricht Stefan jetzt lächelnd in den Rückspiegel seines Autos. Tatsache ist, dass Normalmenschen gerne das Tagesgeschehen verfolgen, jedoch auf die Flut von bad news keine Lust haben.

(Erzähler: Also jetzt mal entre nous, zwischen Ihnen, dem Leser und mir, dem Erzähler – meint der das ernst??).

Stefan selbst betrafen schlechte Nachrichten nicht. Dafür hatte er sich im Alter von 5 Jahren bewusst entschieden, nachdem die Leiche seines Vaters in einem Flugzeug verbrannt war.

 

Dass Berlin sich heute von seiner grausten Seite zeigt, spielt Stefan in die Karten. Nach Monaten zermürbender Nasskälte gieren die Hauptstädter im Februar verlässlich nach allem, was ein bisschen Leben verspricht. Angekommen in der Altbauwohnung, Dachgeschoss, Berlin Mitte, blickt Stefan prüfend in drei müde Investorenaugenpaare. Eine Rothaarige, die Strenge vortäuscht, ein Vollbart mit viel Emotionen an der Backe, ein Älterer mit Quadratbrille im Quadratgesicht – Typ no life in der work/life-balance. Das wird ein Kinderspiel.

“Willkommen bei Dynamo-Invest, Herr Schraut. Kann es losgehen?“

Stefan holt tief Luft und setzte sein dynamischstes Gesicht auf.

“Über unsere mobilen Endgeräte erreicht uns eine Schreckensnachricht nach der anderen. Gewaltverbrechen im häuslichen Bereich, Korruption und Diktatur, Naturkatastrophen und Krieg mit Chemiewaffen sind nur wenige Beispiele aus dem wechselnden Horror-Sortiment. Ein Hagel von Negativität, der da tagein tagaus ungebeten auf einen einprasselt“ Stefan senkt die Stimme um die Spannung zu steigern. “Jetzt einmal Hand aufs Herz, fühlen Sie sich auch geradezu belästigt von der niemals endenden Katastrophenflut? Dass Sie wissen müssen, dass die Israelis schon wieder ein palästinensischen Jungen erschossen haben, obwohl Sie finden, dass das überhaupt nicht in Ordnung ist? Dass die CO2 Geschichte sich stetig verschlechtert, obwohl Sie seit 2014 ausnahmslos auf Bio Putenfleisch umgestiegen sind? Dass das Lese-, und Rechtschreib-Niveau an der Grundschule ihrer Wahl quasi nicht existiert, obwohl ihr Kind oder Enkelkind (Nicken zum Alten) nächsten Sommer eingeschult wird?”

 

Stille ob des gewagten Einstiegs. Stefan kennt sie an dieser Stelle und so irritiert sie ihn nicht. Im Gegenteil.  

“Haben Sie manchmal einen richtig guten Tag, und dann kommt da ein Video von einem blutüberströmten Kind in Aleppo vorbei, und Sie denken: “Ne. Ich möchte das jetzt einfach nicht.”

Es klickt kein Kugelschreiber.

“Haben Sie auch die Angst, dass es einfach alles immer schlimmer wird und Sie aus dem Gefühl von permanentem Kontrollverlust und Lähmung nie mehr herauskommen?”

Stefan sieht in den Gesichtern Lichter angehen.

“Und fragen Sie sich auch: Kann ich das alles nicht einfach mal radikal abwehren, ohne als Aussteiger in einem Wohnwagen auf einer Waldwiese zu leben? Kann ich mich nicht einmal in Ruhe auf mich konzentrieren ohne dabei den permanenten Weltlärm ertragen zu müssen?” Er schaut tief in jedes Augenpaar und erntet Nicken.

“Ich kann Ihnen helfen.”

Stefan sagt Ihnen obwohl es ja nicht um die Investoren persönlich, sondern um die Endnutzer seines Produktes geht. Doch das spielt keine Rolle, weil er weiß, dass seine Zuhörer bereits auf konturlosen Gedankenwölkchen davongeschwebt sind, auf denen sie ihre jeweiligen trivialen Ego-Promlemchen ausbrüten.

 

“Rundum Sorglos ist Ihre Rettung. Basierend auf Ihren persönlichen Wünschen filtert die Software unerwünschte Informationen heraus. Wie Ohropax für Ihren Geist und Verstand.“

“Greifen Sie da nicht etwas übermütig in das System Mensch ein?” Die Rothaarige meldet sich zu Wort und legt die Stirn kunstvoll in Falten. Stefan greift in die Akademikerkiste:

“In dem Aufsatz Großstadt und das Geistesleben hat der Soziologe Georg Simmel beschrieben, wie der moderne Mensch in der Großstadt auf Überstimulation reagiert: Mit Abschalten zum Selbstschutz nämlich. Eine natürliche Reaktion auf kognitive Überforderung. Auf meine Software sind wir Menschen evolutionsbiologisch vorprogrammiert!”

“Was passiert denn, wenn tatsächlich keiner mehr schlechte Nachrichten hört?”, die Rothaarige bleibt dran.

“Es ist ja nicht so, als würden die Katastrophennachrichten ins Handlungsbewusstsein eingreifen. Nachrichten über Plastik in Vögelbäuchen oder angezündete Obdachlose haben keinen Effekt außer Abstumpfung. Abstumpfung bedeutet Handlungsunfähigkeit.“

“Woher weiß die Software, was ich nicht wissen will?”, fragt das Quadratgesicht. Pragmatiker.

“Sie brauchen nur 40 Fragen in den Bereichen Weltgeschehen, Familienpolitik, Umwelt, Technik, usw. zu beantworten. Die Software stellt dann ein auf Sie maßgeschneidertes Wahrheit Wunschpaket zusammen.“ Angesichts des menschlichen Verlangens, das Stefan in seinen Zuhörern auflodern sieht, überkommt ihn ein Gefühl, das Geilheit sehr nahekommt.

“Die Welt”, an dieser Stelle legt er eine längere Kunstpause ein. “…wird sich nach Ihren Wünschen gestalten.”

Dieser Teil der Präsentation ähnelt einem Südstaaten-Gospel.

Es fehlt nur noch, dass die Zuhörer sich zu Stefans Stimme im Takt hin und her wiegen.

“Sie können das Paket auf ihrem Smartphone, Laptop und allen mobilen Geräten gleichzeitig verwenden. Für 19.99 monatlich oder im Jahres Abo.” Stefan plappert weiter.

Welche Quatschzahlen er nennt, spielt zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. Er hat die vier unwiderruflich verzaubert.

“Schlechte Nachrichten kann man nicht einfach abstellen!” Die Rothaarige zum Dritten.

“Finde ich super, dass Sie aufkommende Bedenken ansprechen.” Stefan nickt zustimmend. „Wieso eigentlich nicht? Diskutieren Sie doch gemeinsam darüber während ich mir einen Kaffee hole. Dort drüben liegen die Fragebögen. Falls Interesse an einem kostenlosen Test bestehen sollte.“ Mit diesem letzten Teil seiner Performance lässt er sie in dem Glauben, sie seien selbstbestimmt. Auch wenn der menschliche Verstand stark tut, hinkt das Fleisch immer schwach hinterher. Pro forma Einspruch gegen seinen Urknall von Technologiezauber gibt es immer und wird stets von ihm belächelt.

 

Als Stefan wenige Minuten später den Raum betritt, empfängt ihn andächtiges Schweigen.

„Ich muss sagen,” der Vollbart räuspert sich, „ich bin begeistert.“ Und als ob das nicht genug wäre, beklatschen sie ihn wie einen Popstar. Stefan lacht übertrieben in die fremden Gesichter seiner angeworbenen Jünger und findet dort Bewunderung und Sehnsucht. Ihm ist bewusst, dass es so aussieht, als würde er Gott spielen wollen.

Und er tut es auch. Und es klappt wunderbar.

„Begeistert!”, wiederholt der Vollbart noch einmal laut.

Stefan verbeugt sich wie ein Clown auf der Bühne. In diesem Moment vibriert sein Handy in der Hosentasche.

WhatsApp von Sandra:

„Es ist aus. Ich bin bei meiner Schwester. Bitte kontaktiere mich nicht.”

Stefan verbeugt sich abermals tief unter tosendem Applaus.