Juliane Soain

Schon seit Stunden liegt Aron im Bett und wälzt sich von einer Seite auf die andere. Wie immer ist an Schlaf nicht zu denken. Doch endlich ist es so weit. Die quälende Nacht hat ein Ende. Als der Wecker klingelt, springt er mit Schwung aus dem Bett, denn in wenigen Stunden startet die nächste Kofferauktion am Flughafen.

Träge torkelt er ins anliegende Bad. Ein kurzer Blick in den Spiegel bringt ihn zum Nachdenken: Aline, werde ich dich heute wiedersehen? Mir ist schon ganz flau im Magen. Ach wäre ich damals bloß nicht zur Auktion hingegangen und hätte dich kennengelernt.

Im Schnelldurchlauf führt er sein Morgenritual durch. Mit einem flauschigen Handtuch trocknet er die Reste vom Rasierschaum ab. Sein Blick streift durchs kühle Loft. Oft denkt er drüber nach, wie es wohl wäre, wenn hier die Frau seiner Träume wohnen würde. Schnell verwirft er diesen Gedanken wieder.

Aron, du musst einen kühlen Kopf bewahren, spricht er sich selbst Mut zu.

„Sir Aron, Ihr Frühstück ist fertig. Die Tageszeitung liegt bereit. Ich habe Ihnen die interessanten Themen markiert und bereits die wichtigsten Zeilen unterstrichen.“

Nickend bedankt sich Aron bei seinem treuen Diener Heinrich, während er ihn aufmerksam dabei beobachtet, wie er den Kaffee einschenkt und nach Arons Geschmack verfeinert.

Genüsslich nimmt er einen Schluck und für einen Moment sind alle Sorgen wie verflogen. „Danke Heinrich! Er ist wie immer perfekt.“

Nun kann sich Aron auf die bevorstehende Auktion konzentrieren.

„Sir Aron, Sie sollten langsam los. Ich werde das Auto ausparken und warte unten auf Sie.“

Hastig stopft sich Aron noch ein Toast in den Mund und schnappt sich ein weiteres. Mit Mühe zieht er sich seine Jacke über und sprintet die Treppen herunter. Gemächlich setzt sich das schwere Auto in Bewegung.

Nachdenklich starrt Aron die ganze Fahrt aus dem Fenster: „Heinrich, ob sie wieder da sein wird?“

„Junger Herr, da sie bisher bei jeder Auktion erschienen ist, schätze ich, dass sie auch diesmal kommen wird.“

Mit einem Seufzer dreht sich Aron wieder dem Fenster zu. Von nun an vergeht die Zeit wie im Flug.

Stufe für Stufe erklimmt Aron die Treppe, die zum Veranstaltungsraum führt. Wie immer ist er für die Auktion wunderschön dekoriert. Vielerlei Blumen schmücken den bunt beleuchteten, aber düsteren Raum. Plötzlich erblickt Aron sie auf der anderen Seite der Treppe. Ihre Augen treffen sich. Sein Herz bleibt stehen, als er Aline erblickt. Hochnäsig schaut sie weg und geht hinein.

Ach Aline, warum hast du mich damals so eiskalt abserviert? Und dennoch kann ich nicht aufhören an dich zu denken. Vielleicht ja gerade deswegen?

Nachdem er sich etwas beruhigt hat, geht er verunsichert durch den Eingang und nimmt in der Reihe hinter ihr Platz. Von hier aus kann er sie ganz genau beobachten.

Jedes Mal versuche ich, das abgewrackteste Gepäckstück zu ersteigern und jedes Mal hat Aline nichts Besseres zu tun, als es mir vor der Nase wegzuschnappen. Seit Jahren ist sie schon mein Erzrivale.

Nach und nach füllen sich die wenigen Plätze mit wohlhabenden Persönlichkeiten.

Plötzlich klopft jemand aufs Mikrofon:

„Meine Damen und Herren,

ich bin ihr Auktionator. Mein Name ist Anna. Es freut mich, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind. Heute präsentieren wir ihnen wieder eine auserlesene Auswahl der spannendsten und kuriosesten verlorenen Gepäckstücke. Zum Glück konnten unsere Mitarbeiter sie sicherstellen, bevor der Zoll sie in eine staubige Asservatenkammer für immer verstaut. Natürlich gibt es eine Garantie, dass sie unberührt sind. Und nun werden meine Helfer die Ware zur Begutachtung auf die Bühne bringen.“

Ein Gepäckstück nach dem anderen wird auf die Bühne gefahren. Hübsch auf einem Rollwagen präsentiert. Begleitet von Annas motivierender Ansprache, welche die Stimmung anheizen soll.

Eine alte Truhe. Sicherlich spannend, aber nicht, was ich suche.

Ein sehr teurer Koffer. Hat garantiert einem der reicheren Persönlichkeiten gehört.

Es werden viele weitere Versteigerungsobjekte präsentiert. Eines Seltsamer als das Andere. Annes Ansprache zeigt Wirkung. Nervös rutschen die Leute auf den Stühlen hin und her. Nur Aron schaut sich alles gelangweilt an.

Was ist das? Ach nur eine Handtasche einer Frau. Sicherlich interessant der Inhalt, wenn sie hier angeboten wird. Nur auch nicht das, was ich suche.

Beim nächsten Objekt ist er plötzlich hellwach.

Das ist genau, was ich suche. Ein billiger und schäbiger Koffer, der aussieht, als ob er schon durch mehrere Generationen gewandert ist.

Ausgerechnet als er versucht gelassen zu wirken, dreht sich Aline um. Nach einigen weiteren Präsentationen beginnt die Auktion und so hofft er, dass sich Aline darauf konzentriert und nicht mehr auf Ihn. Wie im Rausch wartet Aron auf sein Objekt der Begierde. Die Versteigerung bekommt er nur unbewusst mit. Einige Wortfetzen dringen zu ihm durch. „Bietet jemand mehr als 90?“

Nicht mehr lange, dann ist mein Köfferchen dran. Geduldig harrt Aron aus, bis es endlich so weit ist.

„Meine Damen und Herren,

hier haben wir sicherlich nicht das Schmuckstück dieser Auktion“, und Anna macht eine kurze Pause, um die Spannung zu erhöhen, „aber wer weiß schon, was sich in diesem alten Koffer für ein Schatz verbergen wird? Wer will den Anfang machen für 10?“

Ein Blick in die Runde verrät ihr, dass das Interesse gering ist. „Wirklich keiner? Ach doch ein Abenteurer. Nummer 13 hebt die Hand. Bietet jemand mehr?“

Arons Herz klopft wie verrückt.

Bitte sei ruhig und überbiete mich nicht, starrt Aron sie an und meint ein Zucken in ihrem Arm gesehen zu haben.

Der Auktionator zählt herunter und schreit: „Verkauft an die Nummer 13!“, und schon bringt ein Helfer den schäbigen Koffer von der Bühne.

Wie? So einfach war es? Keine Widerworte von Ihr? Aron kann es immer noch nicht fassen. Plötzlich dreht sie sich um und deutet ihm, dass er zu ihr heranrücken soll. Angenehm steigt ihm der Geruch ihres Parfüms in die Nase. „Alles Gute zu unserem Fünfjährigen“, haucht sie ihm ins Ohr, dreht sich wieder weg und lacht schelmisch.

Hat Sie etwa aus Nettigkeit verzichtet mitzubieten? Ich kann es immer noch nicht fassen. Schnell springt Aron auf und geht zur Kasse, schließlich hat er bekommen, weswegen er hier war. Die Frau hält die Hand auf, woraufhin Aron versucht seine Kreditkarte rauszuziehen. Dabei rutschen allerdings fast alle Karten aus seiner Geldbörse und fallen auf den Tresen.

„Tut mir leid, ich bin so aufgeregt. Das ist das erste Mal, dass es geklappt hat“, woraufhin die Frau ihm verlegen zulächelt. Hastig stopft Aron die Karten wieder zurück in die Fächer und drückt ihr die Kreditkarte in die Hand.

„Nummer 13. Das macht dann heute 10.000€“, und schon zieht sie die Karte schwungvoll durch den Leser.

„Der Koffer wird in Ihr Auto verladen. Viel Spaß mit Ihrer Erwerbung.“

„Danke Annika“, lächelt Aron ihr zu und geht.

Youtube ist eine wahnsinnige Quelle für Musik. Für jede Stimmung ist etwas dabei. Epic mystic music, genau was ich jetzt brauche, schiebt sich Aron seine Kopfhörer zurecht.

Unten angekommen, hält ihm Heinrich schon die Tür auf. Mit einer Handbewegung weist Aron seinen Diener an etwas schneller zu fahren.

Soll ich jetzt schon in den Koffer schauen? Den ganzen Rückweg malt sich Aron aus, was wohl in diesem Koffer ist.

Behutsam trägt er den Koffer hinauf und legt ihn vor sich auf den Tisch. Sein Blut pulsiert in seinen Adern und übertönt regelrecht alles. Klackend öffnen sich beide Schnapper. Langsam hebt er den Deckel hoch und lässt ihn nach hinten fallen.

Wow, die Kleidung sieht aus, als ob sie aus einem anderen Jahrhundert stammt. Ein Kleidungsstück nach dem Anderen schaut sich Aron an. Sorgfältig faltet er sie wieder zusammen und legt sie zur Seite, bis nur noch ein sehr alter Pappkarton in der Koffermitte übrig ist. Behutsam öffnet Aron ihn.

Ist das etwa ein antikes Buch? Vorsichtig nimmt er es aus dem Karton.

Doch die Euphorie hält nur kurz an: „Schade, es ist nutzlos. Alle Seiten fehlen. Es sieht sehr alt und abgenutzt aus. Man kann kaum den Titel lesen. War wohl ein Griff ins Klo“, zu gerne hätte er gewusst, was in diesem Buch mal stand.

Als er das Buch öffnet, fängt es an zu leuchten und wird warm. Vor Schreck lässt Aron es fallen. Nachdem das Leuchten aufgehört hat, scheinen die Seiten wieder vollzählig zu sein. Sofort blättert er es durch.

Alle leer! Was hat das zu bedeuten? Eventuell wird mir der Titel mehr verraten.

Mit viel Mühe kann Aron ihn lesen: „Das 13-seitige Märchenbuch“, und dreht es, um auf der Rückseite weiterzulesen. Als er fertig ist, greift er sofort zum Handy.

Ach komm schon, lass mich nicht warten, läuft Aron ungeduldig um den Tisch herum, während das Telefon klingelt.

„Was willst du? Ich musste extra rausgehen!“, meldet sich eine unfreundliche Stimme am anderen Ende.

„Aline, komm schnell zu mir. Im Koffer ist was wahnsinnig Tolles. Noch besser als das Artefakt vor fünf Jahren in deinem Koffer. Ich schicke dir die Adresse und den Zugangscode.“

Fünf Minuten später hört Aron klackende Schritte durch das Loft hallen und Heinrichs Stimme: „Junge Dame, wie kommen Sie hier herein?“

Aron winkt sie heran: „Schau mal!“

„Und das da soll besser sein, als das Artefakt?“, empört sie sich.

Doch Aron lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, hebt das Buch auf und liest von der Rückseite des Einbands vor:

„Mal oder schreib etwas hinein,

Und reiß die Seite raus.

Schon wirst du im Land der Träume sein.

Doch sei gewarnt:

Nimm nichts mit aus diesem Buch,

Sonst ereilt dich der Fluch.“

Ungläubig blickt Aline ihn an: „Das ist doch Unsinn!“

„Lass es uns herausfinden! Heinrich, bring uns bitte die Stifte!“

Nachdem sich jeder seinen Stift genommen hat, sitzen sie vor der weißen Seite: „Vor lauter Aufregung weiß ich gar nicht, was ich malen soll.“

„Ich habe da eine Idee“, woraufhin Aron anfängt zu zeichnen.

Als Aline das Gekritzel sieht: „Ein Künstler bist du gerade nicht“, lacht sie und fängt ebenfalls an zu zeichnen.

Einen Augenblick später: „Zugleich?“, greifen sie die Seite und ziehen dran.

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