Von Sarah Stemper

I

Es ist Freitag. Der kleine Zeiger der Uhr im Hörsaal nähert sich langsam diesen bestimmten, ersehnten Ziffern an einem Unifreitag. Man kann deutlich hören, wie sich die Gehirnzellen von so manchen Studenten mit einem ersehnten „klick“ abschalten. Müde Gesichter, die gelangweilt auf ihre Smartphones starren, unmotivierte Hände, die Kreise auf Karopapier krakeln. Und dann diejenigen, die dem Professor immer noch an den Lippen kleben und fleißig wirken wollen. Das sind ein paar im Raum. Saskia gehört zu ihnen. Sie fühlt sich ein bisschen spießig und unangepasst dabei. Letztendlich ist ihr aber klar, dass sie sich nicht an alles anpassen kann: Gute Noten in den Klausuren abholen und mit ihren Kommilitonen bei allen Alltäglichkeiten mitschwimmen. Leise stößt sie einen Seufzer aus. Schaut auf die flimmernde PowerPoint-Präsentation. „So langsam wird’s Zeit für Feierabend, was?“ Chrissi hat ihren schlanken Kopf vorgebeugt und zu Saskia gedreht und schaut sie nun mit ihren neugierigen, warmen Rehaugen an. Saskia entgegnet ihr mit einem schwachen Lächeln. Wenn sie nur wüsste, dass Feierabend und Wochenenden nicht meine einzigen Sorgen im Leben sind. „Ja, schon irgendwie. Und wird Zeit für die Rückgabe der Hausarbeiten.“ Chrissi schmunzelt. Saskia schmunzelt zurück. „Du hast doch eh wieder eine 1, irgendwas.“ Saskia ist in Schutzstellung, wenn sie mit anderen Menschen spricht. Besonders, wenn sie diese Menschen mag. Das versucht sie zur verstecken, aber ihre Gewohnheit, sich unbewusst die Hände aufzukratzen, spricht Bände. Manchmal kratzt sie so lange mit ihren brüchigen Fingernägeln am Handrücken rum, bis es blutet. „Naja, schauen wir mal.“ Chrissi lächelt sie an, bevor sie ihren Kopf in ihrer rechten Hand abstützt und weiter zeichnet. Chrissi krakelt nicht, wenn ihr während der Vorlesungen langweilig ist. Sie zeichnet Tiere und Menschen und überhaupt die Welt. Sie trägt immer so ein ehrliches Lächeln auf ihren Lippen und eine kleine Zahnlücke an ihren Vorderzähnen und Sommersprossen auf ihren mitgrinsenden Wangen. Manchmal fällt es Saskia schwer, nicht für Chrissi zu schwärmen. Sie war ihre Mitstudentin und Freundin. Eigentlich ein bisschen mehr als Freundin. Aber Saskia glaubt, dass nur sie so empfindet. Das mit der Liebe und so. Vorzugsweise kratzt sie am linken Handrücken. „Gute Arbeit, Frau K.“ Verdutzt aus dem Tagtraum gerissen blickt Saskia nach rechts, wo der Professor ihr ihre Hausarbeit ungeduldig hinhält. Ein lakonisches „Weiter-So“, als er schon zum nächsten Studenten fortschreitet. Plötzlich spürt Saskia Chrissis markante Wangenknochen auf ihrer Schulter, weil sie sich vorlehnt und mit in ihre Hausarbeit luken möchte. Ein erwartungsvolles „Und?“. Saskia ist nicht der Typ, der sich den Finger ableckt, um schneller durchblättern zu können, und so blättert sie ein bisschen langsamer als die anderen, bis sie zum Bewertungsblatt gelangte. Eine 1,5 sprang ihr ins Auge. „Woaaah, was habe ich gesagt? Glückwunsch!“ Mit ihrem spitzen Ellbogen stupst Chrissi Saskia kumpelhaft an und beginnt, feierlich ihren Rucksack zu packen. „Na dann! Ich seh dich doch heute bestimmt in unserer Studi-Bar, oder?“ Wenn es grinsende Honigkuchenpferde gäbe, Chrissi wäre eins. „Ähm jaja, klar, klar“, stockt Saskia und schiebt eine nicht ganz ehrliche Begeisterung in ihr Gesicht. „Supii, bis später!“ Chrissi hat eine hohe, elanvolle Stimme, wenn sie freitags aus der Uni rausgeht. Saskia ist meist eine der Letzten, weil sie noch auf Toilette geht und sich das schwarze Brett anguckt. Oft in der Hoffnung, sie würde eine Anzeige finden, die sie schon lange gesucht hat. Sie ist froh, wenn sie nichts mehr sagen muss. Tief eingenistete Anspannung entgleitet Saskias Lungen an der Bushaltestelle. Ein gewisser Druck unter ihren Rippen bleibt jedoch immer stechend zurück, von dünner Haut kaum geschützt.

 

II

 

Wenn Saskia Freitags mit dem Bus nach Hause fährt, hat sie Angst. Sie hat Angst, weil sie weiß: Das bringt Wochenende viel Zeit zum Nachdenken und zum Betäuben des Nachgedachten mit sich. Sie setzt sich mit ihrem zierlichen Körper fast immer die letzte Reihe, aber immer ans Fenster. In der Erwartung, dass altbekannte Landschaften in einem anderen Tageslicht neue, längst vergessene Erinnerungen wecken könnten. Ab und an denkt Saskia auch an Polen. Da kommen ihre Eltern her und überhaupt ihre ganze Verwandtschaft. Als Kind war sie mindestens einmal im Jahr dort. Mittlerweile hat sie noch nicht mal mehr die Nummern ihrer Eltern mehr im Handy eingespeichert. Umgekehrt ist es wahrscheinlich genauso. Sie fährt mit ihrem Blick die Hügel in der Ferne entlang: Beinahe zu geometrisch geformt. Geometrie erinnert Saskia an Anpassungsdrang, und Anpassungsdrang erinnert sie an ihre Eltern und Polen. Polen ist ein streng katholisches Land, da gibt es keine bunten Schafe, nur schwarze und weiße. Ich bin wohl viel eher ein Chamäleon als ein Schaf. Kein Wunder, dass ich seit ich 12 war nicht mehr neben Mama und Papa während der Familienfeiern sitzen durfte. Die ganze Familie hat sich über mich lustig gemacht. Meine Onkel, Tanten, Großeltern … Sie alle haben mich angesehen, als wär ich vom Teufel besessen. Nur, weil ich damals schon wusste, dass ich auf Mädchen stehe. Nur, weil ich nicht die perfekte Einserschülerin war wie meine Schwester. In Polen ist man nicht homosexuell und schon gar nicht schlecht in der Schule. Das wär ja respektlos gegenüber den Eltern. Saskia lehnt ihre verschwitzte Stirn gegen das verstaubte Busfenster und schließt die Augen vor den Erinnerungen und der Geometrie. Sie trägt keine Kopfhörer. Ihre Beschäftigung während der Busfahrt stattdessen: Dem ruckelnden Motor des Busses bei der Arbeit zuhören. Und die Zeit nutzen, um die Schlaglöcher in der vernachlässigten Straße zu ihr Nachhause zu zählen.

 

III

 

Fuck, dieser verdammte Amoklauf in meinem Kopf. Tag ein, Tag aus. Bis Saskia in der Wohnung ankommt, die andere als ihr durch ihre Hirnrinde durchgekniffen, sodass sie Kopfschmerzen hat und nicht aufhören kann nachzudenken und als allererstes immer ins Bad stürmt. Ihr viel zu großer und viel zu schwerer Unirucksack landet unsanft in irgendeiner Ecke, manchmal stolpert Saskia auch noch über einen seiner schwarzen Riemen, und man könnte meinen, er und sein nie ausgeleerter Inhalt würden jeden Tag aus Neue ein bisschen stärker wimmern. Wenn es Saskia nicht gut geht, kann sie nicht weinen. Sie fühlt sich dann so, als seien ihre Tränendrüsen zusammen mit ihrem Hals zugeknotet. Sie drückt dann die Türklinke zum Bad so ruckartig herunter, dass die Klinke ein leises Echo von sich gibt und Saskias Zeigefinger weh tut, aber das ist ihr egal. Manchmal, wenn sie sich zum Klo herunterhockt und die Kloschüssel aufreißt, als ginge es um ihr Leben, stößt Saskia mit ihren zerbrechlichen Rückenknochen gegen ihr Kosmetikregal an der grauen Fliesenwand. Deodorant, Q-Tips, Erinnerungen, alles Mögliche purzelt herunter. Kloschüsseln sind von so einer gewissen, nackten und ekligen Erotik umgeben. Einer Erotik der Verwundbarkeit. Was danach kommt, ist einstudiert: Finger in den Hals, an sehr schlechten Tagen auch die ganze Hand, und kotzen, bis alles, was sie in der letzten Stunde gegessen hat, rauskommt. Kotzen, bis das Blut kommt, und sich Saskia ganz sicher sein kann, dass jede Kalorie den Weg aus ihrem Körper herausgefunden hat. Kotzen, Kotzen, an der Uni, Zuhause, in Restaurants, jeden Tag, 12, 13, 20 Mal. Es kann doch nicht sein, dass mich das alles immer noch so beschäftigt. Es ist alles schon so lange her. Ich wohn nicht mehr da seit ein paar Jahren. Und trotzdem noch so chaotisch in meinem Kopf. Erschöpft vom Kotzen sackt Saskia neben der nicht mehr ganz heilen Kloschüssel zusammen, drückt mit ihren aufgeplatzten Händen gegen ihren krampfenden Magen, sie drückt dagegen wie gegen Wackelpudding, und sie würde sich am liebsten ihre ächzende, schreiende Speiseröhre aus dem Rachen reißen. Dann könnt ich wenigstens auch nichts essen. Kann man sich die eigene Speiseröhre verätzen? Die gebrochen-weißen Keramikfliesen sind so kalt, weil sie morgens vor dem Rausgehen immer vergisst, das Badezimmerfenster zu schließen. Aber das braucht sie jetzt. Ich bin doch selbst Schuld an dieser scheiß Bulimie. 8 Jahre geht die Scheiße jetzt. Dass ich überhaupt so weit gekommen bin. Als ich das erste Mal in der Klinik war, meinte meine damalige Therapeutin zu mir, wie ich denn meinen Abschluss so hinkriegen würde. Hah, jetzt studiere ich, und ich bin nicht schlecht, aber für meine Eltern ist es nie genug. Nie genug. Saskia zittert und kommt sich dabei vor wie ein hilfloser, unnützer Welpe. Sie kann kotzen, so viel sie will. Übel bleibt ihr immer. Behutsam versucht sie, sich wieder auf ihre Knie zu richten. Spürt die Härte des Keramiks gegen sie pressen. Saskia stützt sich mit ihren knochigen Ellbogen auf Chrissi hat mich doch auf ne Fete in der Studi-Bar eingeladen. Vielleicht sollte ich dahingehen. Mich zulaufen lassen – mich abschießen – mich betäuben – dieses ganze fucking Leben ist ein Scheiß Griff ins Klo. Saskia versucht, die egomanische Dominanz ihrer inneren Leere zu ignorieren, stolpert zum Waschbecken, wäscht sich die Hände, putzt sich Zähne und Nase. Ein Parfümduft, der mehr schlecht als recht versucht, den Kotzgeruch in Saskias Badezimmer zu beseitigen. Roten Lippenstift trägt Saskia auf. Ob ihr Lippenstift kirschrot oder blutrot ist, ist eine Frage, die genauso im Auge des Betrachters liegt, wie die Frage, was man in das Lächeln eines Menschen hineininterpretiert. Kritisch beäugt sie sich in ihrem Spiegel im Flur. Ein paar verschmierte Ecken grinsen ihr immer höhnisch entgegen, weil Saskia den Spiegel selten putzt. Das Langarmkleid sitzt, die schwarzen Pumps gehen eigentlich immer. Doch irgendetwas zwickt an Saskias Körper enorm stark, nein, es zwickt nicht, es ist ein Korsett, das ihr den Atem einschnürt: Wohin mit meinem Kopf?