Renate Müller

Der Zug ruckelt so heftig, dass er Mühe hat mit der Peilung. Aber er schafft es, den Strahl perfekt auszurichten.

Dass er das noch kann, macht ihn stolz. Zu Hause muss er immer im Sitzen pinkeln, da genießt er es richtig, hier auf der Zugtoilette stehend seine Stange Wasser in die Ecke stellen zu können.

Und was ist das für eine Stange! Mann-oh-mann.

Bewundernd und begeistert sieht er an sich hinunter. So etwas sollte man der Nachwelt erhalten.

Gedacht, getan.

Kevin holt mit der linken Hand sein Smartphone aus der Gesäßtasche seiner hautengen Jeans. Mit der Rechten hält er sein edles Stück ins Scheinwerferlicht. Na ja, Scheinwerfer nicht gerade, die Funzel über dem Spiegel muss reichen. Aber damit es reicht, muss die Hose runter. Noch ein paar entsprechende Handbewegungen und das Fotomotiv ist schussbereit.

Kevin wechselt das Phone in die rechte Hand. Die ist aber etwas feucht und so flutscht ihm das Objekt des Fotoshootings aus der Linken und das Telefon aus der Rechten. Ersteres kann ja nicht entkommen, aber das Phone folgt mit zunehmender Geschwindigkeit der Gravitationskraft und fällt mitten hinein in die Toilettenschüssel. Genau in diesem Moment überfährt der Zug eine Weiche, Kevin kommt ins Wanken und hält sich am ersten fest, das er zu fassen bekommt. Und das ist die Kette der Toilettenspülung.

Das Wasser rauscht in die Schüssel, die Klappe am Boden der Toilettentasse öffnet sich und …

… Kevin greift mitten hinein und fängt sein Handy auf.

Er hält es so fest er kann, macht eine Faust. Doch jetzt kann er seine Hand nicht mehr zurückziehen. Er hängt fest, vornübergebeugt über der Kloschüssel, das Handy quer zur offenen Klappe, durch die er unter dem Zug die Bahnschwellen vorüberrauschen sieht.

Mit einer Hand hält er die Kette der Spülung, damit die Klappe offen bleibt, mit der anderen sein Telefon. Und das mit heruntergelassener Hose auf der Toilette des historischen Dampfzuges von Schierwaldenrath nach Gillrath am Ostersonntag, während im Abteil seine Frau, Mutter und Schwiegermutter seine Ehe analysieren und zerreden. Kevin wird in genau diesem Moment bewusst: er sitzt – in der Scheiße.

Die nächsten Minuten versüßt sich Kevin mit allen ihm bekannten Flüchen plus ein paar gerade neu erfundenen.

Er muss sich bemerkbar machen. Aber wie? Und wenn einer kommt? Der sieht ihn dann so! Das geht nicht, gar nicht, auf keinen Fall. Egal, er muss Lärm machen, damit jemand kommt. Rufen wird er nicht, das ist würdelos. Um Hilfe rufen nur Memmen und Frauen.

Kevin schaut auf die Metallkette, die aus dem metallenen Spülkasten hängt. Vorsichtig ruckt er daran, sie klirrt. Er ruckt fester, sie klirrt lauter. Also schüttelt Kevin heftig an der Spülkette, haut sie gegen den Spülkasten. Nochmal und nochmal, das rummst. Er rüttelt noch einmal mit Schwung … und hat das längste Stück der Kette in der Hand. Nur ein paar Glieder schauen noch ganz oben aus dem Spülkasten.

Dafür spürt er jetzt das Resultat seiner Aktion an der Hand, die das Phone hält. Die Klappe in der Toilette hat sich geschlossen. Und seine Hand einklemmt. Aber er wird sein Handy nicht loslassen. Seine Rechte klammert sich daran als hinge sein Leben davon ab. Ein Blick genügt, um zu erkennen, dass er den Kettenrest niemals erreichen wird, solange seine Hand im Klo feststeckt. Zusammen mit ein paar besonders deftigen Flüchen schleudert Kevin die Kette, die er in der Hand hat, gegen die Wand.

Erst nach ein paar Minuten hat er sich soweit beruhigt, dass ihm klar ist: eine neue Lösung muss her. Er muss versuchen, mit dem anderen Arm die Tür zu erreichen. Er muss nur die Entriegelung betätigen, dann würde sich die Tür sicher einen Spalt öffnen. Und dann könnte er leise rufen und muss nur noch hoffen, dass nicht gerade sein Schwager, das Ekel, vorbeikommt. Oder die langbeinige Blondine in der schicken Bahnuniform.

Kevin macht sich lang, so lang er kann. Mit jeder Bewegung rutscht aber seine Hose weiter runter. Der ganze Stoff hängt über seinen Füßen, fesselt die Beine und bewirkt, dass er noch unsicherer, noch wackliger steht. Eine Hand tief im Klo, den andere Arm nach hinten verrenkt, Hose um die Beine.

Kevin schließt die Augen, er kann seinen eigenen Anblick nicht ertragen.

Da klopft es an die Klotür: „Sind Sie bald fertig da drin? Andere haben auch Bedürfnisse.“

Kevin zuckt vor Schreck und die Klappe im Klo schneidet schmerzhaft in sein Handgelenk. Er jault.

„Hallo“, ruft die Stimme von draußen, „was ist jetzt? Wird’s bald?“

„Ja, gleich“, keucht Kevin und „Helfen Sie mir bitte.“ Er hasst sich für das Flehen in seiner Stimme, räuspert sich und wiederholt: „Helfen Sie mir bitte. Ich habe ein Problem.“

„Was denn? Kriegste deinen Kerl alleine nicht raus oder was? Nun mach mal hin.“

Die Häme und das keckernde Lachen fachen Kevins Stolz neu an. „He, du Idiot, schließ mal nicht von dir auf andere. Meiner steht schon, wenn deiner erst aufwacht.“

Kaum ist seine Antwort draußen, beißt er sich auf die Zunge. So würde er keine Hilfe bekommen. Kevin schluckt seine Wut und seinen Stolz herunter und schickt seine Bitte hinterher: „Aber deine Hilfe brauch ich trotzdem. Hol mal bitte den Schaffner, es gibt hier ein technisches Problem.“

Eine neue Stimme antwortet: „Ich bin schon hier. Was ist denn das Problem?

Eine weibliche Stimme. Zart aber energisch. Und es klingt, als könnte sie sich ein Lachen kaum verkneifen.

Kevin knirscht mit den Zähnen. Gibt es in dem verdammten Zug denn keinen männlichen Schaffner? Er will nicht, dass Blondchen jetzt hier reinkommt. Und das da vor der Tür, das ist ganz bestimmt sie. Lautes Stimmengewirr auf dem Gang lässt außerdem vermuten, dass sich inzwischen vor der Klotür eine ziemliche Menschenmenge versammelt hat.

„Gibt es keinen Hausmeister oder sowas hier im Zug? Einen Heizer oder so?“ Kevins Nerven drohen zu versagen, Schweiß läuft von seiner Stirn und brennt in den Augen. „Irgendjemand, der die Tür von außen öffnen kann. Aber bitte ohne Publikum“, ruft er.

„So jemanden gibt es nicht hier, das ist ein historischer Zug. Da müssen Sie schon warten, bis wir im Bahnhof sind. Es dauert ja nicht mehr lang.“ Die Versuche, ihn zu trösten, versagen leider kläglich.

„Wie lang denn noch? Gute Frau, es ist wirklich dringend.“ Mittlerweile ist Kevin alles egal, jedenfalls fast alles.

„Nur noch fünf Minuten, ungefähr,“ lautet die Antwort. Doch Kevin hört sie nicht, denn im selben Moment beginnt sein Smartphone zu vibrieren. Gleichzeitig ertönt die Titelmelodie des Tatorts, in voller Lautstärke. Kevin zuckt heftig zusammen, kann aber gerade noch verhindern, dass ihm das Telefon vollends aus der Hand gleitet. Mit neuerlichen Verrenkungen versucht er, auf dem Display sehen zu können, wer ihn da anruft. Vielleicht kann der helfen. Doch er traut sich nicht, einen Finger zu lösen, um den Anruf anzunehmen.

„Geht es Ihnen gut? Sind Sie verletzt oder krank?“ Die Stimme der Schaffnerin.

„Nein, ich bin gesund. Mir steht aber grad nicht so der Sinn nach Konversation, okay?“ Kevin bewundert sich dafür, dass er trotz allem noch so höflich antwortet. Er ist eben doch ein Gentleman, in jeder Situation. Diese hier könnte jetzt aber echt mal bald vorbei sein. Seine Beine zittern, sein Rücken schmerzt und über sein nacktes Hinterteil breitet sich eine Gänsehaut aus, denn geheizt wird in diesem Zug offensichtlich nicht.

Wieder die Schaffnerin: „Gleich sind wir da, ich kann den Bahnhof schon sehen. Halten Sie durch, ich rufe sofort die Kollegen von der Zugwartung, die helfen Ihnen dann.“ Kevin ignoriert sie, was soll er auch drauf antworten.

Aber er spürt, dass der Zug jetzt langsamer wird, die Bremsen quietschen und dann, mit einem plötzlichen Ruck, der dazu führt, dass die Klappen des Abflusses heftig in Kevins Hand schneiden, bleibt der Zug stehen. Endlich! Erlösung naht! Kevin schert sich nicht mehr darum, welches Bild er abgibt, seine Beine zittern inzwischen so, dass er kaum noch stehen kann.

Laute Stimmen, Gepolter, Klappern, noch mehr Rufe und dann: jemand macht sich an der Klotür zu schaffen. Als sie sich öffnet, scheint sie Kevin wie die Pforte zum Paradies. Dort ist es wahrscheinlich auch so hell wie dieser Blitz, der in die Toilettenkabine schießt. Als Kevin wieder klar sehen kann, erkennt er neben einem Mann in Handwerkermontur einen anderen mit einer großen Kamera in der Hand, die voll auf ihn gerichtet ist.

Die nächsten Minuten rauschen an Kevin vorbei, es fühlt sich an, als stehe er neben sich und wäre völlig unbeteiligt. Der Handwerker zieht erst beide Augenbrauen hoch und dann an dem Kettenrest der Spülung. Die Klappe im Abfluss öffnet sich und gibt Kevins Hand und das Smartphone frei. Als er sich endlich wieder aufrichten kann, knackt und knirscht es bedenklich in seiner Wirbelsäule

Vor der Toilette löst sich der Mann mit der Kamera aus der Menge: „Hallo, Eckert, Lokalnachrichten. Bin hier wegen des Jubiläums der Dampfeisenbahn. Tolles Bild von Ihnen, erscheint morgen in der Zeitung. Möchten Sie noch kurz erläutern, wie Sie in diese Lage geraten sind? Wie ist es Ihnen dabei ergangen?“

Kevin klappt mehrmals den Mund auf und zu, doch ihm fällt keine Antwort ein, außer, dass er den Mann liebend gerne ermorden würde. Inzwischen zwar wieder mit präsentabel hochgezogener Hose fühlt er sich aber weder zu einer Diskussion mit dem Reporter noch einer Erfüllung seiner Mordgedanken imstande und zuckt einfach mit den Schultern. Er kann nur hoffen, dass ihn niemand auf dem Foto anhand seines nackten Hinterns erkennen wird.

Mit schmerzenden Knochen und schwer verletztem Selbstwertgefühl schleppt sich Kevin den Gang zu seinem Abteil entlang, das Smartphone noch immer in seinen verkrampften Fingern.

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