Von Sebastian Krüger 

Könnte mein Vater mich jetzt sehen, würde ihm sicherlich eine weitere Gemeinheit einfallen. Wenige Worte nur, beiläufig dahingenuschelt, kaum hörbar, aber vernichtend in ihrem Urteil und verheerend in ihrer Wirkung. Eines muss ich ihm lassen: Er versteht es, mich bloßzustellen – selbst, nachdem sein Herz aufgehört hat zu schlagen.

Wieder hat er nur wenige Worte gebraucht, einen einzigen Absatz, um für alle Zeiten festzuhalten, wie groß seine Verachtung mir gegenüber ist und schon immer war. Ich halte sein Testament in den Händen und fühle zwischen den Zeilen das Gewicht von mehr als drei Jahrzehnten angehäufter Enttäuschung. Ich höre seine donnernde Stimme und spüre seine große, schwere Hand auf meiner Schulter, wie sie mich packt und niederdrückt.

Ich habe nie mit viel gerechnet und wurde dennoch enttäuscht. Keinen Cent soll ich erhalten, nicht einmal meinen Pflichtteil. Der Alte war spitzfindig. Eine besoffene Dummheit mit 18 Jahren, 14 Monate Knast, und futsch ist das Anrecht auf mein Erbe. Ich habe immer gewusst, dass mir diese dämliche Geschichte noch einmal zum Verhängnis wird. Nun habe ich den Beweis. Der gesamte Nachlass kommt stattdessen der örtlichen Kirchengemeinde zugute. Und das, obwohl er doch seit Jahren keinen Gottesdienst mehr besucht hat! Heucheln konnte er immer gut, der alte, sture Esel, solange es auf meine Kosten geht.

In seiner Schreibtischschublade habe ich das Testament eben gefunden, ganz zufällig. Ich wollte mich nur umschauen und mir das Haus angucken, in welchem ich aufgewachsen bin, aber nie richtig zu Hause war. Das Haus, welches jetzt mir gehören sollte. Eine Bestandsaufnahme dessen machen, was mir rechtmäßig zusteht, nachdem er nicht mehr da ist. Dann fand ich den Briefumschlag und öffnete ihn. Den Inhalt las ich mit großem Interesse, auch wenn ich von dem juristischen Geschwurbel nicht viel verstehe. Es dauerte eine Weile, bis ich meinen Namen entdeckte. Den betreffenden Absatz musste ich mehrfach lesen, insgesamt bestimmt ein Dutzend Mal – nicht, weil ich die Worte nicht verstanden habe, sondern weil sie schlimmer schmerzten als Kindheit und Jugend zusammen.

Nun lehne ich gegen seinen Schreibtisch und versuche, diesen finalen Akt der Missbilligung zu verdauen. Da er es bis zum Schluss nicht für nötig befunden hat, sich einen Computer anzuschaffen, ist es vermutlich das einzige Exemplar. Ich frage mich, ob irgendjemand anderes von dem Testament weiß. Mit seinem Anwalt hat er sich vor einigen Jahren überworfen und meines Wissens nach keinen Ersatz gefunden, der ihn zufriedenstellen konnte. Seine Haushälterin ist bestimmt nicht eingeweiht und auch kein anderer Mensch wird davon wissen. Mein Vater hat zu Lebzeiten niemandem vertraut und wird kurz vor dem Ende nicht damit angefangen haben. 

Plötzlich balle ich meine Hand zu einer Faust. Das Papier raschelt zwischen meinen Fingern, als ich die Seiten zu einer kleinen, harten Kugel knülle. Schnellen Schrittes verlasse ich das Arbeitszimmer und eile den Flur hinunter. Links und rechts schauen mich meine Vorfahren aus ihren opulenten Gemälden heraus an, ehe ich das Badezimmer betrete. Über dem Klo öffne ich meine Hand und sehe zu, wie das zerknitterte Testament nach unten fällt, von der Klobrille abprallt und – pitsch – im Wasser landet. Der Klostein hat es hellblau verfärbt. Künstliches Citrusaroma und der Geruch von Desinfektionsmittel liegen in der abgestandenen Luft. Ich blicke hinab auf den letzten Willen meines Vaters und beobachtete, wie das Papier das Wasser aufsaugt und die Tinte langsam verläuft. Dann betätige ich die Spülung und schaue zu, wie es im rauschenden Wirbel hin und her tanzt, bevor es endgültig verschwindet.

Ich schließe die Augen und sehe sein Gesicht vor mir. Was würde er jetzt wohl sagen? Er war es nicht gewohnt, den Kürzeren zu ziehen, ebenso wenig wie ich es gewohnt bin, aufzubegehren und ihm die Stirn zu bieten. Er würde meckern und zetern, aber nicht so boshaft wie sonst. Vielleicht wäre er insgeheim sogar ein wenig stolz, schließlich habe ich es gerade zum ersten Mal gewagt, mich seinem Willen zu widersetzen und Stärke gezeigt, wo sonst stets nur Unterwürfigkeit und Schwäche geherrscht haben. Vielleicht würden seine Mundwinkel ein Lächeln andeuten, da ich diese allerletzte Charakterprüfung bestanden habe. Einmal würde ich ihm in die Augen blicken und dabei nicht unter ihm stehen, sondern ebenbürtig gegenüber.

Ich lächle, während ich mir unser Gespräch vorstelle. Geistreich und voller Selbstbewusstsein würde ich ihm sagen, was ich mich zuvor nie getraut habe. Er würde mir zuhören und nicht umhin kommen, mir endlich Respekt entgegenzubringen. Gedankenverloren stehe ich da und gewinne die imaginierte Diskussion für mich. Was würde ich dafür geben, diese Unterhaltung wirklich mit ihm führen zu können. Hier und jetzt. Seine donnernde Stimme hören. Ihn ein letztes Mal sehen. Das Lächeln verschwindet aus meinem Gesicht. Habe ich etwa das Falsche getan? Er war doch mein Vater.

Plötzlich falle ich auf die Knie und lange mit meinem Arm in den Abfluss. „Es tut mir leid“, flüstere ich. Wie von selbst verlassen die Worte meinen Mund. Ich wühle im kalten Wasser herum und versuche, noch weiter hineinzugreifen, komme mit meiner Hand jedoch nicht durch die enge Biegung des Siphons. Meine Finger kratzen über das verkalkte Porzellan in der Hoffnung, das Testament doch noch zu greifen und meinen schwerwiegenden Fehler ungeschehen zu machen.

Lange, nachdem der Spülkasten aufgehört hat zu rauschen, ziehe ich meinen Arm aus dem Abfluss und blicke auf die wallende Wasseroberfläche, bis ich mein Spiegelbild darin erkennen kann. Der Ärmel klebt nass an meiner Haut. Ich verharre noch eine Weile auf dem gefliesten Badezimmerboden und verspüre weder Stolz noch Genugtuung. Die Scham in mir wächst mit jeder verstreichenden Sekunde.

 

Version 3