Von Natascha Eschweiler

»Wie oft denn noch? Ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden, was ich will! Was ich mit meinem Leben mache, geht euch überhaupt nichts an!«

Ohne auf eine Antwort zu warten, beendete Ken das Gespräch, schnalzte mit der Zunge und steckte sein Handy wieder in die Jackentasche. Dann sah er sich um und stellte erleichtert fest, dass ihn niemand gehört hatte. Für gewöhnlich machte er sich zu viele Sorgen darum, was andere von ihm dachten, aber zum Glück war er allein auf der Straße. Es war bereits spät am Abend, der Feierabendverkehr war vorüber und niemand hatte beobachten können, wie seine Emotionen mit ihm durchgegangen waren.

Ken war auf dem Weg zur U-Bahn gewesen, als sein Vater ihn angerufen hatte. Sie hatten schon so häufig über dieses Thema gestritten, dass eigentlich alles gesagt sein sollte – ganz davon abgesehen, dass er schon seit Jahren volljährig war und längst nicht mehr bei seinen Eltern wohnte. Mit einem Seufzen verdrängte er jegliche Gedanken daran und lief weiter.

Außer ihm befand sich kein anderer Mensch am Bahnsteig. Ein ungewöhnlicher Anblick in der Großstadt, aber nichts, was er nicht bereits erlebt hatte. Als die Bahn jedoch mit einem steten mechanischen Quietschen einfuhr, schien auch sie ihm erstaunlich menschenleer. Stirnrunzelnd setzte Ken einen Fuß ins Abteil und stellte fest, dass er tatsächlich der einzige Fahrgast war. Trotz der freien Plätze blieb er lieber stehen.

Mit einem tiefen Seufzen setzte sich die Bahn in Bewegung und tauchte wenig später ächzend unter den Asphalt in einen Tunnel. Sie ruckelte mehr, als sie sollte. Das Licht begann zu flackern und erlosch schließlich ganz. Bevor Ken überhaupt die Zeit hatte, in Panik zu geraten, ging das Licht wieder an. Was er dann sah, verschlug ihm den Atem.

Es war, als würde die Bahn nicht unter der Erde, sondern unter Wasser fahren. Statt einer Großstadt bei Nacht sah er nur bläulich schimmerndes Grün. Mehrere Schwärme von silbrigen Fischen zogen ihre Kreise und erinnerten ihn an Sterne an einem viel zu grellen Nachthimmel. Leuchtende Quallen mit meterlangen Tentakeln schwebten träge an der Bahn vorbei, und dort, in einiger Ferne, meinte er sogar einen Wal erkennen zu können.

Ken wirbelte herum, um aus den anderen Fenstern zu sehen, aber der Anblick war überall derselbe. Panik machte sich in seinem Magen breit, kroch langsam durch seine Adern bis zu seinem Herzen und hielt dieses fest umklammert. Er schluckte schwer, einmal, zweimal, und zwang sich dann, ruhig zu atmen. Er musste einen kühlen Kopf bewahren, egal, wie schwer ihm das fiel.

Also blendete er aus, dass er nicht einmal richtig schwimmen konnte, und beschloss, sich stattdessen im Abteil umzusehen. Obwohl sich die Bahn plötzlich unter Wasser befand, schien sich nichts anderes verändert zu haben. Skeptisch sah er sich die Fenster und Türen genauer an. Waren die überhaupt dicht? Was, wenn der Wasserdruck größer wurde? War er dann trotzdem noch sicher?

In Gedanken versunken legte Ken eine Hand an die Scheibe und stellte milde überrascht fest, dass das Glas eiskalt war. Er hob den Blick und schrie beinahe vor Schreck auf, als er einen Fisch ohne Augen auf sich zukommen sah. Ken stolperte zurück und hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen. Seine Neugier war schlagartig verflogen und sein Körper wollte ihm nur zögernd wieder gehorchen.

Er spürte den Schock noch in den Gliedern, als er sich auf eine der gepolsterten Sitzbänke in der Mitte des Abteils niederließ. Es dauerte einige Augenblicke, bis Ken sich wieder beruhigt hatte. Für einen Moment klammerte er sich an die Möglichkeit, dass er ungewollt Gast bei einer dieser merkwürdigen Fernsehserien geworden war, die irgendwelche Leute aufs Korn nahmen. Vielleicht waren irgendwo Kameras versteckt?

Aber was, wenn das sein Ende war? Was, wenn er heute sterben würde?

Unwillkürlich sah er seine Eltern vor seinem inneren Auge. Wären sie traurig, wenn er in dieser Nacht ertrinken würde? Seine Mutter würde weinen, unterdrückt und mit einer Hand auf den Mund gepresst, so wie sie es sonst nur tat, wenn er sich mit seinem Vater stritt und danach wütend aus dem Haus stürmte. Sein Vater würde ihm, stolz und wortkarg wie er war, vermutlich noch die Schuld an seiner derzeitigen Situation geben und keine Miene verziehen. Oder vielleicht doch – schließlich hätte er dann niemanden mehr, dem er das Familienunternehmen aufzwingen könnte.

Ein furchtbar zynischer und unfairer Gedanke, für den Ken sich am liebsten selbst geohrfeigt hätte.

Das Dröhnen der Welt um ihn herum hallte laut in seinen Ohren. Je länger er sich darauf konzentrierte, desto mehr spürte er das sanfte Vibrieren bis in seine Fingerspitzen. Es war merkwürdig beruhigend und half ihm dabei, allmählich wieder klarer zu denken. Während Ken seine Gedanken ordnete, beobachtete er einen riesigen dunkelgrünen Wal, der langsam durch die Tiefen glitt.

Er wollte hier nicht sterben. Egal, wie sehr er versuchte, nicht daran zu denken, klammerte die Angst vor dem Tod sich fest an ihn. Er hatte doch noch so viel vor im Leben: die Welt bereisen und fremde Orte fotografieren, sein eigenes Fotostudio eröffnen, so berühmt werden, dass jeder seinen Namen kannte und so viel Geld verdienen, dass es seinen Eltern im Alter an nichts mangeln würde.

Seine Eltern. Bevor er starb, wollte Ken sie ein letztes Mal sehen. Wie schrecklich war es, im Streit auseinander zu gehen? Hätte er gewusst, was ihn diese Nacht erwarten würde, hätte er anders reagiert. Anstatt alles am Telefon zu klären, wäre er zu ihnen gefahren, um seine weinende Mutter in den Arm zu nehmen. Er hätte seinem Vater gesagt, dass er ihn liebte, auch wenn es ihm manchmal schwerfiel.

Mit einem frustrierten Seufzer lehnte er sich nach vorne und stützte sich mit den Ellbogen auf seinen Oberschenkeln ab. Alles wäre so viel einfacher, wenn sein Vater nur nicht so stur wäre. Sie hatten so häufig über Kens Leben gesprochen, dass er sich nicht mehr an eine Zeit erinnern konnte, in denen sie Gespräche über banale Dinge wie seine Klassenkameraden oder sein liebstes Baseballteam geführt hatten.

Ken richtete sich wieder auf, lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und sah hinaus in die grüne Welt um ihn. Der Wal, den er vorhin beobachtet hatte, wehrte sich gerade gegen die Angriffe einer Horde von Quallen.

Wenn er darüber nachdachte, hatte Ken seine Eltern nie gefragt, warum es ihnen so wichtig war, dass er ihr Geschäft übernahm. Er hatte immer angenommen, dass sie keine Zukunft in seinem eigentlichen Berufswunsch sahen, aber gefragt hatte er nie. Seine Eltern hatten auch nie gefragt, warum ihm so viel daran lag, als Fotograf zu arbeiten. Gerade dieses fehlende Interesse war es, das ihm besonders schwer im Magen lag.

Ken hatte mal gelesen, dass man andere nur verstehen konnte, wenn man ihnen aufmerksam zuhörte. Und wenn man nicht verstand, was sie sagten, sollte man nachfragen. Aber es war schon immer schwierig für ihn gewesen, die richtigen Fragen zu stellen.

Nur am Rande bemerkte Ken, wie der Wal in eine der Quallen biss und sie so lange gepackt hielt, bis ihr Zucken erstarb. Als er sein riesiges Maul wieder öffnete, sank die Qualle langsam in die Tiefe. Etwas regte sich in Kens Magen, auch wenn er zunächst nicht ganz wusste, was es war.

Vermutlich mussten er und seine Eltern wirklich offener miteinander reden, um einander zu verstehen – und er würde alles für einen letzten Versuch geben, die Wogen zwischen ihnen zu glätten, bevor der Wal auch ihn verschlang.

Plötzlich flackerte das Licht wieder, aber diesmal blieb er seltsam ruhig, atmete einmal tief ein und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, brach die Bahn gerade aus der Erde heraus in die Nacht. Nie hätte Ken gedacht, dass er sich einmal so über den Anblick seiner Heimatstadt freuen würde. Die Bahn wurde langsamer und fuhr in den Bahnhof ein, aber es war keine der Haltestellen, die sich auf der Linie hätten befinden sollen. Stattdessen war es die Haltestelle, an der er sonst ausstieg, wenn er seine Eltern besuchte.

Ungläubig schüttelte Ken den Kopf. Er stand auf und fühlte sich ungewohnt leicht, obwohl die letzten Minuten immer noch seichte Wellen in ihm schlugen. Mit gestrafften Schultern trat er auf den Bahnsteig und machte sich auf den Weg zu seinen Eltern.

 

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