Von Justin Janning

An: r_pick08@uni-konvenz.de

Betreff: Bitte um Verständnis

 

Richard,

du gehörst zu den wenigen, die sich gefragt haben, wo ich die vergangene Woche war. Es tut mir leid, dass ich deine Anrufe abgewimmelt und Nachrichten ignoriert habe. Du wolltest wissen, ob etwas nicht stimme. Die klare und eindeutige Antwort darauf lautet: Ja. Ich würde gerne das Gegenteil behaupten, weil ich dann nicht erklären müsste, warum dies so ist, aber ich glaube, das Aufschreiben des Erlebnisses wird mir helfen, meinen Verstand abzukühlen. Du musst verstehen, das, was ich erlebt habe würde, ich niemals über die Lippen bringen. Also mach dir ein Bier auf, wenn du das hier liest, ich bin mir sicher, du hast was im Haus. Meine zweite Dose ist schon offen, während ich diese Zeile tippe.

Es geht um Dr. Alexander Kruskal, unseren Professor für Metaphysik. Es fing an, als ich ihn aufsuchte, um mit ihm über die Thesis für meine anstehende Masterarbeit zu sprechen.

Dass Kruskal selbst unter den Charakteren des Lehrstuhls als extravagant gilt, ist dir bewusst. Doch wie ich ihn in der letzten Woche kennengelernt habe, steht in keinem Vergleich. Eifer war mein Fehler. Ich dachte, wenn ich unter ihm meinen Abschluss mache, dann wäre allen was bewiesen. Jedem ist bekannt, dass seine Anforderungen unverhältnismäßig hoch sind, damit er so wenig wie möglich seiner Lehrtätigkeit nachkommen muss und umso mehr Zeit für seine privaten Forschungen hat. Oh Gott, seine privaten Forschungen – darauf einen Schluck!

„Nun Herr Siemens, ich bin beeindruckt. Normalerweise lehne ich die wenigen Anfragen, die ich bekomme, um Pate für eine Arbeit zu stehen ab, doch bei Ihnen kann ich mir vorstellen eine Ausnahme zu machen. Sie heben sich positiv von den Wohlstandsversagern ab, die sonst durch das Institut schleichen.“

Ich war natürlich geschmeichelt von seiner Meinung zu meiner Thesis. Doch dann machte er mir einen Vorschlag, denn ich niemals hätte annehmen sollen.

„Am kommenden Donnerstagabend möchte ich mein laufendes Forschungsprojekt abschließen. Es fällt eher in den Fachbereich der theoretischen Physik, aber ich kann mir vorstellen, dass Sie sich gut hinein versetzen könnten. Ich würde einen Augenzeugen wertschätzen und Sie einem meiner sogenannten Kollegen vorziehen. Diese kleingeistigen Möchtegerns verstünden diese Arbeit ohnehin nicht. Was sagen Sie?“

Tja, Richard, ich sagte ja. Für eine ordentliche Abschlussarbeit wäre es das wert, also tat ich ihm den Gefallen. Genaueres über sein Projekt verriet er mir nicht, ich würde später eine E-Mail mit Informationen erhalten. Diese kam noch am selben Abend und enthielt nur zwei Zeilen:

 

Hauptbahnhof, Gleis 14

23:30 Uhr, c.t.

 

Der Ort und die Zeit, zwei Koordinaten, mehr braucht es nicht, um sich mit jemandem zu treffen. Ich war neugierig statt verwundert. Welches Projekt aus dem Bereich der theoretischen Physik müsse in diesem Umfeld umgesetzt werden? Ich konnte kaum erwarten, was Kruskal vorbereitet hatte.

Der Donnerstagabend kam und trotz des akademischen Viertels, stand ich vor Neugier schon gegen 23:30 Uhr am vierzehnten Gleis, eines von den beiden Gleisen an denen keine Züge, sondern die Untergrundbahnen fuhren.

Kruskal ließ nicht lang auf sich warten, mit hochgeschlagenem Kragen kam er im orangenen Licht der Station auf mich zu und starrte auf das schwarze Loch, in dem die Schienen der Bahn verschwanden. Ich begrüßte ihn und er erklärte mir, dass wir ein paar Minuten auf unsere U-Bahn warten würden, die Linie U8. Mehr Informationen wollte er mir noch immer nicht geben. Wenn wir eingestiegen waren, würde er mir alles Nötige erklären. An dieser Stelle wird es Zeit für ein weiteres Bier, Richard bleib bei mir.

Schließlich kam die U8 aus dem Tunnel gekrochen, hielt am Gleis und ließ uns einsteigen. Der Rest des Bahnsteigs war leer und soweit ich erkennen konnte, waren auch die Wagen der Bahn verwaist. Kruskal und ich saßen uns allein in einem Abteil gegenüber. Dann fuhren wir los.

„Also, Siemens ich habe eine Theorie, die eng mit dem Untergrundsystem dieser Stadt verwoben ist. Konvenz hat eine lange Geschichte, als eine Stadt ist es nicht einfach errichtet, sondern wie ein Mensch geboren worden und dann gewachsen. Die Katakomben bilden die Venen von Konvenz, und in diesem Augenblick transportieren sie uns direkt in ihr Herz. Ich fand heraus, dass die alten Tunnel in ihrer Art einzigartig sind. In ihrer Geometrie, um genauer zu sein. Die U-Bahn ist heute die einzige Möglichkeit, diesen ursprünglichen Untergrund zu erleben. Die Fassade der Moderne, die sich mit der Zeit etabliert hat, ist dünn. Hier unten ist das Alte noch immer vorhanden, Siemens. Hierher muss der kommen, der das Sein verstehen will. In einem Studierzimmer im Universitätsviertel ist das nicht möglich, nicht wenn man unser Handwerk ernst nimmt.“

Dieses Gerede erschien mir ebenso kryptisch, wie es dir nun vermutlich erscheint, Richard. Kommen wir an den Punkt, an dem Kruskal mir offenbarte, woran er gearbeitet hatte. Er griff in seine Tasche und holte ein kleines Objekt heraus. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das Ding als Polyeder beschreiben, aber das träfe nicht zu. Es ist mir immer noch unmöglich, seine Form zu begreifen. Es setzte sich zusammen aus Flächen, Ecken und Kanten, doch sobald mein Verstand Sinn aus dem Körper gemacht hatte, schien es sich zu wandeln. Der Polyeder invertierte, konvexe Oberflächen wurden konkav und umgekehrt, Ecken vermehrten sich und nahmen wieder ab. Selbst Platon oder Archimedes hätten ihre Schwierigkeiten, das graue Teil zu beschreiben, wie sollte ich da Erfolg haben. Das Objekt auf Kruskals Handfläche war schlicht nichteuklidisch.

Er gab es mir. Seine folgenden Erklärungen sind nicht mehr ganz klar in meinem Gedächtnis, zu sehr habe ich mich in den Bewegungen des falschen Polyeders verloren. Doch ich glaube, er bezeichnete das Ding als den Schlüssel für das Gelingen seines Projektes. Eine Fahrkarte aus exotischer Materie. Wie viel Zeit in der Untergrundbahn mit diesem Mann verstrich, kann ich nicht sagen, aber irgendwann kamen wir an. Jener Ort war nah.

Kruskal weckte mich aus meiner Trance. Die U-Bahn stand still und wir stiegen aus. Ein Schild mit dem Namen der Station hing an der Wand, Einstein-Rose-Brücke, da bin ich mir sicher. Bevor du dich fragst, es gibt so eine Haltestelle in Konvenz nicht, ich habe nachgeschaut.

Ich wollte fragen, wo wir hier gelandet waren und was das nun mit dem Projekt meines künftigen Mentors zu schaffen habe. Der jedoch schien außer sich zu sein – vor Freude. Er jubelte und hastete die Treppe der Station hinauf, bevor ich ihn zur Rede stellen konnte. Also folgte ich ihm an das Licht. Ich war nicht vorbereitet.

Das obere Ende der Treppe mündete in eine kleine Insel aus Asphalt. Sie war umgeben von einem rostroten, scheinbar endlosen Ozean, der sich bis zum Horizont erstreckte. Ich erkannte die unverkennbare Skyline von Konvenz, die sich aus dem Wasser erhob. Die mir bekannten Hochhäuser waren überzogen von fleischigen Ranken, wie gigantische, filigrane Spinnenweben lagen diese Auswüchse auf den Gebäuden, Bäumen und Straßenschildern. Nichts wirkte hier, als sei es von Menschen erbaut, es war geradezu lebendig – organisch. Eine tiefrote Sonne peitschte mit ihren Strahlen auf diese infernalische Landschaft nieder. Herrje Richard, kennst du Beksiński, den polnischen Maler? Selbst er hätte diese Szenerie nicht auf die Leinwand bekommen.

Mit Mühe hielt ich mich beisammen und verdrängte die Bewegungen, die ich im Augenwinkel wahrnahm. Das Kriechen und Krabbeln, von Dingen mit Flügeln, anderen mit Schuppen und weiteren mit Krallen. Ich suchte Hilfe, eine Erklärung von Kruskal, doch er war das schlimmste an jenem Ort. Wie ein manischer Dirigent stand er am Ufer dieses höllischen Gewässers, mit erhobenen Armen und lachte.

Meine Instinkte retteten mich. Ich drehte um, hastete die Treppe hinunter und sah mit Erleichterung, dass die U-Bahn noch an der Stelle stand, an der wir ausgestiegen waren. Ich stürmte hinein, kauerte mich unter einem Sitz zusammen und betete für eine schnelle Abfahrt.

Als Nächstes weiß ich wieder, wie mich am folgenden Morgen ein Schaffner aus der Bahn wirft. Das kam mir nur gelegen, keinen Fuß setze ich mehr in dieses Transportmittel. Ich verließ die Station und konnte mir ein paar Tränen nicht verkneifen, als ich den herrlich normalen Himmel sah.

Was denkst du davon Richard, habe ich nur geträumt und übertrieben? Ich muss dich enttäuschen, denn weißt du, was ich, daheim angekommen, in meiner Hosentasche fand? Richtig, ebenjenes Polyeder, diese exotische Materie, die Kruskal mir in die Hand gedrückt hatte. Nur war es nicht mehr so sonderbar wie am Abend zuvor. Keine Bewegung oder Verformung, ein normales Tetraeder von grauer Farbe. Um meine Gedanken zu beruhigen, habe ich es bei den Jungs im geologischen Institut abgegeben. Das Ergebnis kam heute früh an. Neben Wolfram, Iridium und Zink beinhaltet das Tetraeder noch vier weitere Stoffe, von denen keines im Periodensystem zu finden ist. Die wollten natürlich wissen, wo das herkam, ich log und behauptete, es im Müll gefunden zu haben. Ich will nichts mehr damit zu tun haben.

Das gilt auch für Konvenz. Es tut mir leid, Richard, aber ich habe mir die vergangene Woche, während ich alle Vorlesungen geschwänzt habe, viele Gedanken dazu gemacht. In einer Stadt mit Untergrundsystem kann ich nicht mehr leben. Mein letztes Semester hole ich anderswo nach, nur nicht hier. Dir rate ich nur, dich von der U-Bahn fernzuhalten.

Kruskal gilt wohl als verschollen. Wenn du noch was zu trinken hast, dann kipp es runter, ich verrate dir, was er zuletzt zu mir sagte. Wie er dort stand, an der Schwelle des Wahnsinns, fragte er mich vor meiner Flucht: „Siemens, was denken Sie? Dieser Ort, seine Existenz, ist es nicht fantastisch?“ Zu dem Zeitpunkt hatte ich keine Antwort bereit und auch jetzt kann ich nicht sagen, was dieser Ort ist. Ich kann aber sagen, was er nicht ist – und Richard, bitte nimm mich beim Wort – das ist kein Ort für Menschen.

 

Lebewohl

Julius Siemens

 

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