Von Marie Masse

Romea klappte die Zeitung zu und blieb nachdenklich am Tisch sitzen. Die Vernunft sagte ihr, dass sie keinen Grund hatte, der neuen Technologie nicht zu vertrauen. Sie konnte sich erinnern, wie sie genervt und gleichzeitig `mitleidig belustigt´ war, wenn sie sich als junge Frau das Schimpfen ihrer Großeltern über die Modernisierung der damaligen Zeit anhören musste. So eine, die sich gegen den Fortschritt wehrt, wollte sie nicht sein. Aber was hielt sie von der Vorstellung, dass immer mehr U-Bahnzüge zukünftig ohne Fahrer rollen würden? Zahlreiche Unfälle waren doch auf menschliche Fehler zurückzuführen und eine guteingestellte Automatisierung könnte vielleicht sicherer sein. Aber entglitt dabei nicht eine gewisse Kontrolle? Zum Glück brauchte sie nur noch selten mit der U-Bahn zu fahren. Viele Gelegenheiten dazu hatte sie in ihrem Alter nicht mehr, sie nahm für ihre Ausflüge lieber den Bus. Da fand sie hilfsbereite Gäste oder Fahrer für die eine Stufe hinauf, während die Zugstationen mit dem Rollator schwierig zu erreichen waren. Klar, das Ausbauen eines barrierefreien Zugangs hätte die Sachen schon erleichtert. Aber in ihren Augen ging es nicht nur darum. Denn der große Unterschied war der zwischen einem vollkommenen Robotisieren und den menschlichen Kontakten. 

Bei diesem Gedanken musste Romea lächeln: Was hatte sie für Kontakte mit dem U-Bahn-Fahrer? Im Bus, ja, aber ehrlich gesagt, im Zug? Würde sie es überhaupt wahrnehmen, wenn es keine Kabine vorn gäbe oder wenn sie leer wäre? Sie versuchte sich vorzustellen, welchen Blick sie vom ersten Wagen einer dieser neuen Bahntypen aus direkt in den Tunnel hätte, ohne Fahrer dazwischen.

Plötzlich sitzt sie in der U-Bahn. Wohin will sie? Keine Ahnung und es ist auch egal, sie genießt, die wenigen Leute um sie herum zu beobachten. Nach ein paar Minuten spürt sie, wie eine gewisse Angst entsteht. Woher weiß sie, dass es ein Zug ohne Fahrer ist? Nichts weist darauf hin, aber sie ist sich sicher, dass etwas schiefgehen wird, weil kein Mensch mehr da vorn ist, um das Grausame aufzuhalten … Und schon geschieht es.

Die bunten Farben verblassen allmählich, die bequemen Sitze werden zu Holzbänken. Darauf sieht sie sich als elfjähriges Mädchen neben den Eltern. Das Rattern der Räder nimmt zu, der ganze Wagen scheint zu beben, die Türen knarren. Der Vater trägt eine Uniform und die Mutter wischt ein paar Tränen immer wieder weg. Romea würde sich gern an den neu einberufenen Soldaten kuscheln, den sie und die Mama zu seinem Sammelplatz begleiten, traut sich aber nicht: Sentimentalitäten in der Öffentlichkeit hasst er. Werden sie ihn irgendwann wiedersehen oder wird er eins der Opfer dieses Krieges sein, der jetzt die ganze Welt in Schrecken versetzt?  

Die Frage erhält kurz daraufhin eine Antwort. Das Gesicht des Vaters wird zu einer Fratze, deren offener Mund einen qualvollen Schrei zu brüllen scheint. Seine Silhouette verblasst und nun sitzen die Mutter und ihre fünfzehnjährige Tochter in Schwarz gekleidet und halten einander fest, in einem erfolgslosen Bestreben, die Verzweiflung zu bekämpfen. 

Die ältere Frau verwandelt sich in einen jüngeren Mann, der Romeas Hand zärtlich streichelt. Sie trägt wieder bunte Kleider, ist nun zweiundzwanzig und freut sich, dass sie und Julius bald heiraten werden. Sie kennen sich seit gut einem Jahr und lieben einander fast so lange. Warum merkt sie aber plötzlich, dass Tränen ihre Wangen hinabrollen? Julius hat den Arm um ihre Schultern gelegt. Sie blickt kurz zu ihm hinauf und folgt dann seinen Blick zu ihrem Schoß, auf dem ihre Hände ruhen. Ihr Finger trägt schon einen Ehering? Verständnislos hebt sie wieder den Blick zu Julius, aber sein Gesicht verrät, dass er nicht mehr ihr junger Verlobter, sondern auf einen Schlag gut zehn Jahre älter ist. Und er schaut nun durchs Fenster zu einem leeren dunklen Bahnhof, an dem der Zug ohne anzuhalten vorbeifährt. Auf dem Steig stehen Soldaten in DDR-Uniformen, in der Bahn herrscht eine unheimliche Stille. Sind sie denn in Berlin? Aber sie wohnen jetzt in Bayern! Als der Grund für die Tränen Romea bewusst wird, entschlüpft ihr ein Schluchzer. Ihre Mutter ist in Ostberlin festsitzen geblieben und wann ein Wiedersehen möglich sein wird, kann keiner voraussagen. 

Romea möchte aus dieser verdammten U-Bahn hinausspringen, den grausamen Bildern entfliehen, aber der Zug fährt ohne Erbarmen weiter. Und dennoch scheint ihr Wunsch teilweise in Erfüllung zu gehen. Der nächste Bahnhof, durch den sie ohne Stopp rollen, beschenkt sie mit einer Berglandschaft. Sie trägt Wanderkleider, zwei Rucksäcke stehen an ihren und Julius´ Füßen, eine immense Erregung hat sie gepackt. Ja, ihre erste Bergtour, zu der Julius sie mitgenommen hat. Heißt das, sie ist jünger geworden? Denn gleich nach dem Kennenlernen hat das junge Paar mit allen möglichen Abenteuern in den einheimischen Bergen oder in fremden Gegenden angefangen. Die Zeit ist völlig durcheinandergeraten, die Jahre vermischen sich. Egal, sie freut sich einfach, dass es der Beginn einer wunderbaren, erlebnisreichen Zeit ist. Wie kann sie sicher sein, dass das Entdeckerfieber sie befallen wird? Und warum verspürt sie auch eine gewisse Traurigkeit, als ob sie wüsste, dass das Ende zu schnell kommen und zu schrecklich werden soll? Sie schaut auf die Berge durchs Fenster und bemerkt in der Weite zwei kleine Gestalten, unterhalb einer Felsenwand. Die eine, weibliche, winkt frenetisch mit einem roten Tuch, während die andere anscheinend leblos auf dem Boden liegt. Plötzlich fährt die Bahn in den dunklen Tunnel wieder ein und das Licht im Zug geht aus. Eine unheimliche Angst ergreift sie. Sie ahnt, dass das Grausame sie nie mehr verlassen wird, auch wenn das Licht zurückkommt, denn der Sitz neben ihr ist leer. Ein Schrei erklingt durch den ganzen Wagen: „Nein, Julius, nein!“ 

*

Romea schrak auf, vom Ruf aus ihrem Wachtraum gerissen. Nach ein paar Sekunden konnte sie sich erinnern: Sie saß am Tisch und ihre Gedanken waren auf eine eigene innere Reise gegangen, es gab keinen Anlass, in Panik auszubrechen. Zitternd tastete sie nach dem Schalter an der Wand hinter ihrem Stuhl, die Abenddämmerung war inzwischen eingetreten. Ihre vertrauten vier Wände erschienen und der Grund ihres Albtraums wurde ihr bewusst. Würde auch sie, mit bald einundneunzig und weiter zunehmendem Alter, in einer herankommenden Zukunft die Schienen ihrer Gedanken nicht mehr selbst kontrollieren können? Und würden dann die Automatisierung der üblichen Griffe und Angewohnheiten reichen, um die grobe Richtung ihrer noch selbständigen Leben einzuhalten?

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