Von Andreas Schröter

Immer wieder fällt mein Blick auf das amtlich wirkende Schreiben auf meinem Schoß. Warum starre ich es an? Warum stecke ich es nicht in die Tasche? Warum quäle ich mich selbst? Bin ich ein Masochist? Es trägt ganz oben das Wappen der Ruhr-Uni Bochum. Weiter unten finden sich Worte wie „bedauern“, „leider“ oder „nicht möglich“. Die einfache Wahrheit ist: Ich bin durch mein Jura-Staatsexamen gefallen. Endgültig. Ohne eine Chance, die Prüfung irgendwann wiederholen zu dürfen. Das ist ein Schock. Ich war zwar sicher, keine Bombennote zu ergattern, aber ganz durchfallen? – Das nun nicht gerade. Meine komplette Familie und meine Freunde rechnen damit, dass ich heute mit Examen nach Hause komme. Was soll jetzt aus mir werden? Taxifahrer? Kassierer im Supermarkt?

Irgendwo habe ich gelesen, dass deutschlandweit jährlich 600 Studierende dieses Schicksal mit mir teilen. Das hilft mir jetzt gar nichts. Eine Träne fällt auf das Blatt Papier und weicht das Wappen auf. Mein Gott, ist das peinlich. Jetzt werde ich auch noch weinerlich. Hoffentlich sieht mich keiner. Ich sitze in der letzten Reihe der U41 zwischen Dortmund Hauptbahnhof und Bahnhof Hörde. Die letzte Etappe meines letzten Besuchs an der Uni. Nach acht Jahren und 16 Semestern Jura. Ein historischer Augenblick in meinem Leben, schießt es mir durch den Kopf, den sollte ich würdevoller begehen als heulenderweise.

Papa wird gar nichts sagen. Er wird einfach wortlos mit dem Kopf schütteln, in sein Arbeitszimmer gehen und die Tür vielleicht einen winzigen Tick zu laut schließen. Wenn er mich wenigstens anschreien würde: „Warum musstest du mitten in der Examensphase die meiste Zeit mit diesen Freaks abhängen, statt zu lernen? Glaubst du, dass Typen wie die später mal ein Haus mit Garten, Swimmingpool und Koi-Teich besitzen? Oder einen Triumph-Spitfire-Oldtimer in der Garage, mit dem du so gerne bei deiner Freundin angibst? Glaubst du, ich hätte mir all das leisten können – etwas, von dem ganz nebenbei bemerkt auch mein lieber, aber leider stinkfauler Herr Sohn profitiert –, wenn ich mit irgendwelchen Öko-Heinis geguckt hätte, wie die Kräuter wachsen? Du weißt schon, dass zum Beispiel ein Notar quasi die Lizenz zum Geld-Drucken hat?“

Das alles könnte mein Vater sagen, aber er würde es nur denken und einfach rein gar nichts sagen – und das vermutlich die nächsten drei Wochen. Und das ist viel schlimmer als ein zünftiger Wutausbruch. Es stimmt schon, ich war in den letzten Wochen öfter im Permakulturpark als am Schreibtisch. Bei dem, was ich immer nur als harmlosen Ausgleich zu den trockenen Gesetzestexten gesehen hatte, habe ich mich zuletzt viel wohler gefühlt als anderswo.

Ich starre aus dem Fenster, wo außer den Tunnelwänden zwischen den Stationen „Willem-van-Vloten-Straße“ und „Hörde Bahnhof“ rein gar nichts zu sehen ist. Allerdings macht die U-Bahn jetzt einen Ruck nach links, den ich nicht erwartet habe. Was ist hier los? Ich schaue nun etwas angestrengter nach draußen. Die Bahn hat die normalen Gleise nach Hörde verlassen und ist über eine Weiche auf die Gegenfahrbahn eingeschwenkt. Ich erhebe mich halb von meinem Sitz. Was, wenn uns nun eine Bahn entgegenkommt? Dann bräuchte ich mir keine Sorgen mehr um die Zukunft und um Papas Reaktion zu machen, schießt es mir unpassenderweise durch den Kopf. Fast ist das ein tröstender Gedanke. Die anderen Fahrgäste zeigen keine auffälligen Reaktionen. Entweder haben sie das ungewöhnliche Manöver der Bahn gar nicht mitbekommen oder es ist ihnen herzlich egal. Ich will schon eine junge Frau schräg gegenüber, die auf ihr Handy starrt, darauf aufmerksam machen, als es draußen auch schon heller wird und wir in die U-Bahn-Station Hörde Bahnhof einfahren – natürlich auf dem Gleis, das ansonsten für den Gegenverkehr reserviert ist.

Als sich die Türen der Bahn öffnen, merke ich: Ich habe überlebt. Der Gegenzug aus Richtung „Hörde-Clarenberg“, der hier sonst langfährt, ist bislang nicht gekommen. Und jetzt merke ich noch etwas: Ich werde erwartet. Jens und Annika vom Permakulturpark stehen an der Bahnsteigkante. Sie haben einen Strauß Wildblumen dabei, den Annika mir jetzt entgegenhält. „Wir möchten uns bei dir bedanken, Adam, du hast uns in den vergangenen Wochen einfach supergut geholfen. Ich weiß nicht, wie wir ohne dich zurechtgekommen wären. Zumal Tobias …“ Sie bricht ab.

„Was ist mit Tobias?“, frage ich.

„Er verlässt uns. Er war ja schon die letzten Wochen kaum noch da. Heiße Liebe in Stuttgart. Deswegen sind wir auch so froh, dass du uns geholfen hast.“

„Es ist verdammt schade“, wirft Jens ein, „dass du jetzt ein großer Anwaltstar wirst und die ganz große Kohle machst, sonst hätten wir dich gefragt, ob du nicht Tobias‘ Rolle einnehmen willst und dritter Geschäftsführer im Permakulturpark werden möchtest.“

Mir wird leicht schwindelig, und ich muss mich an Jens festhalten. Nun sehe ich die Schrift auf der Anzeigentafel: „Gleisbauarbeiten. Zug fährt auf Gegenfahrbahn ein.“

Noch jemand steht auf dem Bahnsteig – aber dort, wo der Zug aus Richtung Hauptbahnhof normalerweise hält. Mein Vater. In der Hand hat er eine Flasche Moët & Chandon-Champagner. Ich gehe zu ihm und sage: „Papa, Gleisbauarbeiten, ich werde Öko-Bauer.“ Damit drücke ich ihm das Schreiben von der Uni in die Hand und nehme ihm die Flasche ab.

Wortlos starrt er auf das Blatt Papier.

Ich drehe mich um, hake mich bei Annika und Jens unter – soweit das mit Wildblumenstrauß in der einen und Champagnerflasche in der anderen Hand geht – und verlasse mit ihnen den Bahnsteig.

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