Von Bernd Kleber

Die Grenzbeamtin, die eher aussah wie ein Beamter, forderte mich in schroffem Ton auf, meine Ausweishülle auszupacken und das Adressbuch durchzublättern. Zuvor hatte ich den ganzen Koffer ausgepackt. Sie fragte, ob ich kalte Sommertage erwartete, wegen der vielen Pullover.

Meine Hände zitterten. Ich blätterte das Adressbuch durch. Als jedoch meine Hände so stark bebten, dass ich die Ausweishülle kaum halten konnte, hielt ich ihr die entgegen, sie könne sie doch selbst durchsuchen.

Die große stabile Frau mit dem kantigen Gesicht und dem Messerformschnitt blickte mich durch schmale Augen an. Sekunden vergingen. Dann meinte sie gelangweilt, ich solle durchgehen und mich beim Einpacken gefälligst beeilen.

Ich war durch. Ich war „Drüben“! Westberlin fühlte sich hier wie ein Dorf an. Nichts erinnerte an eine turbulente Großstadt. Es war menschenleer, kein Verkehr, Vögel zwitscherten. Wenn man bedachte, dass nur dreihundert Meter weiter die Baumschulenstraße eine stark befahrene Straße war, grau und dreckig von den Abgasen der knatternden Zweitakter, ein krasser Gegensatz.

Ich wusste, mit dem Bus nun bis Hermannplatz, da in die U-Bahn zur Blaschkoallee. Mir war schlecht und ich war sehr aufgeregt, denn ein neuer Lebensabschnitt begann. Nach den 10 Tagen erlaubten Besuches in dem „Besonderen politischen Gebiet Berlin / West“ würde ich nicht zurückgehen. So war es geplant.

Der Bus hatte mich inzwischen aufgenommen und am Hermannplatz auch wieder ausgespuckt. Mitten hinein nun doch in quirliges Großstadt-Gewimmel. Ich blieb wie angewurzelt stehen, alles in mich aufzunehmen, zu orientieren. Autos hupten, Türken riefen mit rauer Stimme etwas in ihrer Sprache. Ich lief über einige Ampelüberführungen und tauchte in den bauchigen Untergrund ab. Jonas im Wal!

Der Bahnhof, der seinerzeit zur Eröffnung des größten Kaufhauses der Stadt entstand, war in orangegelbe Kacheln gekleidet, die ein warmes Licht reflektierten. Überall kommerzielle Werbung statt politischer Parolen. Ich war froh, als ich endlich meine Linie gefunden hatte. Hier erinnerte alles an den riesigen Untergrund am Alexanderplatz, der jedoch mit blauen Kacheln schimmerte.

Blaschkoallee kroch ich wieder hoch ans Tageslicht, hievte den schweren Koffer Stufe für Stufe. Durchschnaufen! Ein großer schwarzer Wagen hielt vor mir am Straßenrand, Mercedes Benz. Eine Frau in einem edel wirkenden Kostüm sprang heraus und fragte, ob sie mich mitnehmen könne. Ich war baff und willigte ein. Die sind ja hier hilfsbereit, diese Westberliner. Nachdem ich ihr erklärt hatte, zu welcher Adresse ich müsse, fuhr sie an und strahlte. Sie fragte, ob ich mich auf den Kirchentag freuen würde. Ich murmelte etwas, wie keine Ahnung zu haben.

Sie wollte wissen, von wo ich käme. Ich erwiderte: „Aus Ostberlin!“. Sie behauptete, dass ich so gar nicht aussähe und sie angenommen hätte, einem Christen aus Westdeutschland, der seine Unterkunft für den Aufenthalt zum Kirchentag suche, zu helfen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die christliche Nächstenliebe, seit sie wusste, dass ich ein DDR-Flüchtling war, geendet hatte. An der Adresse meiner Tante verabschiedete sie sich knapp, mit der Bemerkung, es könnten ja nun nicht alle aus dem Osten hier aufgenommen werden.

Dann lief alles in harmonischen Bahnen, meine Tante kümmerte sich rührend um mich und gab mir viele Empfehlungen und Ratschläge. Aber konkurrenzlos war ihr Vanillepudding, warm und sahnig, den sie mir kochte.

In Marienfelde meldete ich mich an und bekam den damals üblichen Laufzettel, der mich zu allen Stationen und Institutionen führen würde, um ein Bürger von Westberlin zu werden.

In meinem Adressbuch waren auch Kontakte von ehemaligen Freunden aus dem Ostteil der Stadt, die schon vor mir hier eingetroffen waren. So rief ich meine Freundin Anette an. Sie wollte alle Details wissen, den Grenzübertritt, wo ich untergebracht sei. Ich erzählte froh, dass ich nicht in einer Turnhalle gelandet war, sondern in einem Zimmer in Schöneberg. Ich hatte einfach nur riesiges Glück.

Anette lud mich zu ihrem Onkel für den Abend ein. Man könne mit ihm und seiner Familie das Wiedersehen feiern. Torsten, ihr Ehemann gab noch zu bedenken, dass es eine Familienfeier sei und ich mich vielleicht langweilen könnte. Doch Anette ließ keine Diskussion zu und begann schon den Weg in den Wedding zu beschreiben.

Wedding! Ich würde den berühmten roten Wedding sehen. Der Stadtteil, der historisch betrachtet, mit Mitte so verwandt ist. Ich dachte an die Autorin Alex Wedding, die unter diesem Pseudonym das wunderschöne Buch „Ede und Unku“ geschrieben hatte und mit bürgerlichem Namen Grete Weiskopf hieß.

Ich schrieb mir in der Telefonzelle alles auf. Fußweg zum U-Bahnhof Kleistpark, dort mit der Linie 7 bis Mehringdamm, hier auf den Nachbarbahnsteig wechseln und Richtung Tegel mit der „6“…. Aussteigen Leopoldplatz. Mit meinem patentgefalteten Berliner Stadtplan musste ich dann noch einige Straßen bis zu der Adresse der Gastgeber finden. Alles klar. Ich freute mich.

Ich besorgte Blumen und machte mich auf den Weg. Bald saß ich im Zug nach Tegel. Im Waggon war eigentlich die gesamte Welt vertreten. Dieses Multi-Kulti kannte ich aus Ostberlin nicht und fand es spannend und schön zugleich. Da lärmten Jugendliche in einer mir unverständlichen Sprache, da türmten sich Kopfwicklungen hoch auf Frauenhäuptern, eine Frau in Burka saß in einer Ecke neben der Waggontür, deutsche Rentnerinnen sprachen über ihre Enkel.

Hallesches Tor gab es noch einmal sehr viel Bewegung. Massen an Fahrgästen stiegen ein und aus. Das war also doch eine Großstadt Ostberlins vergleichbar, was die Masse an Menschen anbelangte. Kochstraße! Das ehemalige Zeitungsviertel wusste ich. Hatte es aber noch nicht besucht, den legendären „Checkpoint Charlie“ noch nicht angesehen, was unbedingt für einen der nächsten Tage auf dem Plan stand. Schon merkwürdig, dass ich mir die Hälfte meiner Stadt erobern musste wie ein Tourist, obwohl ich in ihr geboren war. All die Jahre hatte ich wie durch ein Schaufenster im Fernseher nach „Drüben“ gesehen. Theoretisch wusste ich viel und war immer wieder begeistert, wenn ich prägnante Orte endlich persönlich kennen lernte.

Der Zug fuhr plötzlich langsamer. Ich sah aus dem Fenster und wunderte mich, dass der Tunnel nun beleuchtet war. Fahles Glühlampenlicht hinter vergittertem Glas blinkte alle zwei Meter auf. Ein Bahnsteig! Aber wir rollten durch!

Wie ein Geisterbahnhof lag der Perron dort, und er hatte keine Veränderungen in den letzten Jahrzehnten erfahren. Werbung von Juno-Rauchwaren an den Bänken, alles schien wie im Dornröschenschlaf und stammte aus der Nachkriegszeit.

Mich durchfuhr ein eiskalter Schreck. Wir durchquerten Ostberlin, der Bahnhof hieß Stadtmitte. Ich erinnerte mich, dass meine Tante gewarnt hatte, nie durch den Osten zu fahren. Würde es eine Havarie geben, müssten alle, von DDR-Grenzsoldaten begleitet, aussteigen und die Pässe würden bei der Kontrolle ergeben, wer geflohen war. Man erzählte sich, dass diese Fahrgäste sofort verhaftet werden. Ostdeutsches Recht!

Französische Straße kroch der Zug nun vorbei. Auch dieser Bahnsteig lag im Dämmerzustand aus den fünfziger Jahren. Mein Herz pochte. Friedrichstraße hielt der Zug. Panisch überlegte ich auszusteigen, dachte mir dann jedoch, wo soll ich hin, hier war nur der berühmte Übergang „Tränenpalast“, Ostberlin!

Mit nassen Händen klammerte ich mich am Sitz fest, als würde das helfen. Nun passierten wir Brandenburger Tor, wie ein Museum oder eine Filmkulisse lag der altmodische Steig da im diffusen Licht, einsam und verlassen. Symbolisch! Ich wusste nicht, wie lange wir noch durch Ostberlin fahren würden.

Da ruckte der Zug, es knirschte in den Achsen und er stand still! Ich keuchte und sah mich mit weit aufgerissenen Augen hektisch um. Die Jugendlichen lachten und johlten, wollten die Tür öffnen, die war aber gesperrt. Ich sah mich im Zug um, ob ich mich unter den Sitzen würde verstecken können? Sollte ich vielleicht meinen Ausweis aus dem Fenster in die Gleise werfen? Was war zu tun? Ich wollte nicht verhaftet werden, nicht in den politischen Knast. Das war klar.

Der Zugführer machte eine Durchsage, dass man Ruhe bewahren solle, es würde gleich weiter gehen. Der hat gut reden, dachte ich mir.

Auf dem Bahnsteig liefen Grenzsoldaten mit Hunden und geschultertem Maschinengewehr am Zug entlang und blickten in jedes Fenster, als suchten sie etwas. Mich? Ich schaute vor mir auf den Boden, wo eine Kaugummiverpackung lag, deren schönes Blau ich betrachtete, Hitschler. Ich bemerkte, dass ich die Luft anhielt, und ermahnte mich normal zu atmen. Die Hunde bellten jetzt den Zug an, als wäre der eine streunende Katze. Die Grenzer ruckten und zerrten an den Leinen. Machten die Tiere noch aggressiver.

Auf dem Bahnsteig erschienen weitere Wächter des „Antifaschisten Schutzwalls“. Ich hatte einen starken Harndrang und überlegte, ob mir zum Weinen zumute war oder ich eher bockig wie ein kleines Kind wimmern wollte. Das Gefühl schüttelte meine Nerven. Wie ein großer Fremdkörper, der sich Bahn brechen will. Alien!

„Werte Fahrgäste, es ist durchaus möglich, dass wir in wenigen Augenblicken evakuieren müssen. Der Zug ist nicht mehr betriebsbereit.“

Mir entfleuchte ein lautes „Nein!“ Die anderen Fahrgäste sahen mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern. Nun war mir doch zum Heulen, aus Wut und Angst. Warum haben die beiden mich mit der U-Bahn durch Ostberlin geschickt? Sie müssen eigentlich geahnt haben, dass ich mich wie ein Karpfen in der Reuse fühlen würde, zappelnd gefangen.

Es gab einen Ruck und die Bahn fuhr weiter … Nordbahnhof, Stadion der Weltjugend atmete ich immer noch sehr flach. Und? … Reinickendorfer Straße!

Als er hielt und das Neonlicht alles magisch erhellte, der Waggon seine lebendige Fracht austauschte, atmete ich endlich aus.

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