Von Karl Kieser

Das war ein harter Tag heute. Drei brisante Besprechungen über sehr unterschiedliche Themen. Aber jetzt kann er seinen seit langem geplanten Urlaub antreten, wenn auch mit leichter Verzögerung. Nach mehr als 10 Stunden höchster Konzentration fühlt er sich ausgelaugt und erschöpft.

Den Weg zur U-Bahn muss er automatisch abgespult haben. Zu viel geht ihm im Kopf herum. Erst als seine Bahn einfährt, kommt er in die Gegenwart zurück, findet einen freien Platz am Fenster und lässt sich erleichtert in den Sitz fallen.
Die Familie ist schon vor zwei Tagen vorausgefahren. Er ist dankbar, heute Geschrei und Gezänk der Kinder und die genervte Gattin nicht ertragen zu müssen. Vielleicht reicht es noch für einem Imbiss vor dem Fernseher.
Müde lässt er den Kopf gegen die kühle Scheibe sinken.

Mit einem Ruck zieht die Bahn an, beschleunigt, immer weiter. Ist das nicht schon jenseits der Endgeschwindigkeit? Die Lichter im Tunnel zischen viel zu schnell vorbei. Ein hell erleuchteter Bahnhof, wie ein langanhaltender Blitz … und vorbei. Jetzt bemerkt er, dass auch das typische Ruckeln aufgehört hat. Die Stöße der Schienenstränge … nicht mehr zu spüren. Dafür wird das Pfeifen der komprimierten Luft in der engen Röhre immer lauter, schwillt zu einem vibrierenden Dröhnen an.
Das ist ganz sicher nicht normal.
Er ist aber doch so entsetzlich müde. Nur noch einen Augenblick ausruhen. Inzwischen sollen sich die anderen Fahrgäste über diesen gefährlichen Zustand aufregen.
Aber es regt sich niemand auf. Alles bleibt ruhig.
Gequält öffnet er die Augen, sieht sich um. Nur drei ältere Frauen sitzen getrennt voneinander in dem Waggon. Sie wirken seltsam unbeteiligt und starren blicklos vor sich hin. Die Bahn war doch bei seinem Einsteigen noch gut besetzt. Wieso sind alle verschwunden? Ist er eingenickt und hat er womöglich auch seine Haltestelle schon verpasst?

Bevor ihn die Ungewissheit völlig hilflos macht, bricht die Bahn schlagartig aus der finsteren Röhre ins strahlend helle Freie. Das vibrierende Dröhnen wird gleichzeitig von einem fauchenden WUSCH mit anschließender wohltuender Stille abgelöst. Aber halt, da ist immer noch das Pfeifen der Luft zu hören, nur jetzt viel leiser.
Beim Blick aus dem Fenster sieht er verstört, wie der Schienenstrang weit voraus, in einer sanften Kurve ansteigend, in den Wolken verschwindet.
Wie ist denn das möglich? Schienen brauchen doch ein Gleisbett und festen Boden. Einen Augenblick lang will er sich der Panik hingeben, aber abgesehen von der immer noch ansteigenden Geschwindigkeit gibt es keine Katastrophe. Die Bahn rast weiter auf ihren freischwebenden Schienen himmelwärts. Kurzzeitig taucht die Struktur einer roten Brücke zwischen den Wolken auf, aber tief, tief unten. Der immer noch ansteigende, geschwungene Schienenstrang scheint sich endlos fortzusetzen. Jetzt bemerkt er auch die stetige Fliehkraft, die ihn in seinem Sitz zum Wageninneren schiebt. Hört die Kurve denn niemals auf? Oder ist das eine Spirale, eine aufsteigende Spirale?

Das kann unmöglich real sein. Träumt er etwa?
Er reißt sich los von dem faszinierenden Blick aus dem Fenster. Die drei Frauen, die diese Fahrt als so selbstverständlich hinnehmen, wissen die vielleicht mehr?
Die Kraft, die ihn auf die andere Seite der Bahn schiebt, ist zwar hinderlich, aber da sie stetig wirkt, kann er sich darauf einstellen. Mühsam stemmt er sich hoch in seinem Sitz und wendet sich um.
Da ist niemand. Er ist völlig allein in dem Wagen. Sind die Frauen etwa, eventuell ebenso wie die anderen Fahrgäste, unbemerkt in einen anderen Zugteil übergewechselt?
Ist dieser hier womöglich der einzige, der seinen eigenen absurden Weg nimmt? Warum hat ihm niemand Bescheid gegeben? Er muss doch dringend nach Hause, schlafen und morgen seiner Familie nachreisen. Ob er auch versuchen soll, in einen anderen Wagen zu wechseln? Nein, das kann niemals eine Lösung sein für diese wahnwitzige Fahrt. Was ist hier eigentlich los? Diese abwegigen Ereignisse kann doch niemand ernst nehmen. Das kann nur ein Traum sein. Er muss einfach nur aufwachen.

Die Fliehkraft hat stetig zugenommen, obwohl das Pfeifen der Luft immer leiser wird. Er muss sich schon mit den Füßen an den Sitzen auf der anderen Gangseite abstützen. Laufen durch den Mittelgang ist nicht mehr möglich. Selbst das Kriechen über dem Boden ist wegen der Fußgestänge der Sitze aussichtslos. Er kämpft sich an seinen Fensterplatz zurück. Er liegt nun mehr auf dem Zweier-Sitz und stemmt die Füße über den Mittelgang gegen den jenseitigen Sitz.
Die Bahn hat längst die Wolken unter sich gelassen und befindet sich immer noch auf der aufsteigenden Spirale. Der stahlblaue Himmel liefert keine Hinweise über die aktuelle Geschwindigkeit. Der Schienenstrang ist wegen des hohen Tempos nur noch als diffuses Band erkennbar. Wenn er hinunterschaut, scheint ihm die Erde viel weiter entfernt zu sein, als ihm das von Flügen in 9000 Metern Höhe in Erinnerung ist. Er kann sogar die Krümmung des Erdballs erkennen.
Er will sich gerade wundern, dass er keinerlei Probleme mit der Atmung hat – dieser Waggon muss mit einem Druckausgleich ausgestattet sein – da sieht er, dass weit voraus der Schienenstrang in der endlosen Bläue endet. Kann das eine optische Täuschung sein? Er hat nicht einmal die Zeit, Angst zu empfinden. Bei dem wahnsinnigen Speed dauert es nur einen Wimpernschlag und schon rast die Bahn ungebremst über das Ende des Schienenstrangs hinaus.

Mit einem Schlag ist die Fliehkraft weg. Nicht nur die, auch die Gravitation scheint aufgehoben zu sein. Dieses Gefühl im Magen kennt er noch aus Kindertagen. Er muss sich an seinem Sitz festkrallen, um zu verhindern, frei im Raum zu schweben. Sein Verstand sagt ihm, dass die fehlende Schwerkraft nur freier Fall bedeuten kann. Ohne die Schienen stürzt die Bahn also zurück auf die Erde.

Er wundert sich, dass er diese lebensbedrohenden Umstände so kühl bedenken kann. Eigentlich hätte er sich schon wenige Sekunden nach dem Anfahren der U-Bahn vor Entsetzen um den Verstand schreien müssen. Aber die Ereignisse der letzten Minuten sind dermaßen irreal, dass Vernunft und Unterbewusstsein die Situation wohl einfach nicht ernst nehmen können. In seinem Bewusstsein fühlt er sich dagegen absolut wehrlos und ausgeliefert.
Es wird noch dauern, bis die stürzende Bahn auf dem Erdboden zerschellt. Dieses Ende wird für ihn kein langes Leiden bereithalten. Eigentlich ein tröstlicher Gedanke.
Mit Kummer denkt er an seine Familie.
Ist eventuell noch Zeit, ein paar liebevolle Gedanken zu formulieren? Hektisch greift er zu Stift und Notizbuch. Um beim Schreiben nicht wegzudriften, presst er die Füße gegen den Vordersitz und den Rücken gegen die Rücklehne.

Das Notizbuch ist schon wieder sicher verwahrt. Immer noch wirkt die Schwerelosigkeit.
Im Grunde will er absolut nicht wissen, wie weit es noch ist, wieviel Zeit ihm noch bleibt. Viel lieber würde er sich überraschen lassen, als auch noch zu sehen, wie das unvermeidliche Ende auf ihn zukommt. Oder gibt es vielleicht doch noch eine Fortsetzung der bisherigen Wunder?
Er riskiert einen schnellen Blick. Bereit, die Augen sofort vor dem heranrasenden Erdboden wieder zuzukneifen.
Seine Augen werden aber immer größer. Vor der Schwärze des Alls wirkt der leuchtend blaue Planet wie ein Edelstein in der Unendlichkeit. Er kann sich nicht sattsehen an diesem Wunder. Die Erde scheint sich auch immer noch weiter zu entfernen.
Weit voraus ist noch ein Leuchten, wie von einem hellen Stern. Es kommt rasend schnell näher, wird größer und größer. Ist das ein Raumschiff? Es hat die Form einer zweiten Erde und gigantische Ausmaße. Im Näherkommen kann er erkennen, dass nur ein dunkler Punkt die ansonsten makellose, silbrig glänzende Außenhülle entstellt. Genau auf diesen Punkt rast die Bahn zu.
Längst füllt das Kugelschiff den gesamten Sichtbereich aus. Die geöffnete Hangar-Luke wirkt nun wie das dunkle Maul eines Ungetüms.
Viel zu spät beginnt das Bremsmanöver. Das kann eigentlich nicht gutgehen. Er hat inzwischen aber so viel Vertrauen in die wundersamen Möglichkeiten seiner Bahn, dass er das Haltemanöver zwar mit wild klopfendem Herzen und starr geöffneten Augen, aber mit heimlicher Zuversicht abwartet.

Aus dem nachtschwarzen All rauscht die Bahn in den Hangar des Schiffes. Er kneift die Augen zu. Wird es jetzt krachen?
Es ist gut, dass er die Füße noch gegen den Vordersitz gepresst hat. Sonst hätte ihn der scharfe Ruck am Ende womöglich noch aus dem Sitz geschleudert.

Die anschließende Bewegungslosigkeit ist ungeheuer erleichternd. Licht und Lautsprecherdurchsagen dringen von außen herein. Er öffnet die Augen.
Die U-Bahn steht ruhig im hell erleuchteten Bahnhof. Verwirrt stellt er fest, dass er noch eine Station zu fahren hat.
Seine verkrampften Muskeln flehen um Entspannung. Mit rundem Rücken und angezogenen Beinen stemmt er die Füße immer noch gegen den Vordersitz. Mein Gott, ist das peinlich! Betreten schaut er sich um. Die anderen Fahrgäste tun so, als hätten sie nichts bemerkt.
Sein Puls rast immer noch. Er fühlt die abklingende Adrenalinwelle durch seinen Körper fluten. War das etwa alles nur ein Traum? Oder ist es denkbar, dass er vorübergehend in eine surreale Parallelwelt katapultiert wurde?

Das Notizbuch … Er angelt es aus der Innentasche seines Sakkos, schlägt es mit dem Zeichenband auf. Da steht es, zwar hastig hingekritzelt, aber unverkennbar in seiner eigenen Handschrift: Ich liebe euch. Ich wäre jetzt so gerne bei euch. Vergesst mich nicht.

V2