Von Martin Dehrendorf

Um nicht das furchtbare Joch der Zeit zu fühlen, das eure Schultern zerbricht und euch zur Erde beugt, müsst ihr euch berauschen, zügellos. Doch womit? Mit Wein, mit Poesie oder mit Tugend, womit ihr wollt. Aber berauscht euch. 

(Charles Baudelaire)

 

Wie oft habe ich mir vorgenommen, nicht mehr hinter einer U-Bahn herzulaufen. Selbst schuld, dass ich in diesem Waggon gelandet bin.

Sah von außen ganz leer aus. Jetzt sitzt im Abteil gegenüber diese Punkergruppe, die mich grinsend mustert. Sicherheitsnadeln, Irokesen, Tattoos, das ganze Programm. Die meisten sind höchstens Anfang zwanzig.

Ich fühle mich unbehaglich im meinem neuen Anzug, der eigentlich zu seriös ist für mein Alter. Als Berufsanfänger in München muss man sich anpassen, erst recht in dieser Schwabinger Kanzlei.

Zehn wilde Mädels und kantige Kerle hocken dicht beieinander, und ok, auf der hinteren Bank noch ein paar mehr. Sie sehen aus, als wären sie zum Feiern unterwegs. Haben mindestens drei, nein fünf Kästen Paulaner mit. Viel Spaß. 

Innsbrucker Ring. Noch drei Stationen.

So jung und wild zu sein, einfach dazugehören. Das ist mir nie gelungen, auch früher nicht. Coolness – für mich nur ein seltsames Konzept. Ausgerechnet Karin wollte mir das nahebringen. 

Dann hat sie sich diese chinesischen Schriftzeichen stechen lassen und sich von mir getrennt. Ich wäre ihr zu spießig. Sie sollte mal diesen Haufen hier sehen. Hätte sich vor Angst unter der Bank verkrochen. Mir ist auch nicht ganz wohl unter diesen abschätzigen Blicken.  

Ostbahnhof. Nur zwei Stationen noch bis Lehel. Der Zug nimmt Tempo auf. 

Licht aus und kreischende Räder, Metall auf Metall. Die Mädels kreischen noch lauter, ich rutsche fast vom Sitz. Nebenan purzeln alle durcheinander, ein fröhliches Gackern und Quietschen. 

Für die coole Fraktion ist alles ein Fest. Der Strom fällt aus, die U-Bahn bleibt stecken – Party. Und ich denke als erstes an die Krisensitzung in der Staatskanzlei, wo ich in zwanzig Minuten sein muss.

Jetzt funzelt die Notbeleuchtung vor sich hin. Man sieht trotzdem nicht viel. 

Dann kommt die Ansage, ein Unfall mit Personenbeteiligung. 

So etwas passiert hier angeblich öfter. Gescheiterte Beziehungen, jahrelange Einsamkeit, Enttäuschungen, Aussichtslosigkeit, Verzweiflung. 

Es wird nicht leicht sein, hier seinen Weg zu machen, egal ob mit Karriere oder ohne.

Der Lärm nebenan schwillt an. Ein Gesichtstätowierter ohne Schneidezähne hat so eine Art Ghetto-Blaster dabei und dreht voll auf. Die Bässe dröhnen, die ersten Bierflaschen kreisen schon. 

Ein großes Mädel mit geschickt platzierten Löchern in den Netzstrümpfen trinkt ihre Flasche auf Ex und tanzt an der Stange zwischen den Ausgängen. Das kann gut werden.

Diese wilden Locken. Bloß nicht so genau hinsehen.

Die Krisensitzung wird nicht auf mich warten. Ich sollte meine Teilnahme nachher einfach absagen. Wer trifft sich um 22 Uhr noch mit dem Innenminister? Als ob ein Zwölfstundentag nicht reicht. Zeigen Sie Präsenz, da können Sie was lernen, hieß es. Stimmt genau. Sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit.

„Was schaust denn so grimmig? Geh, lach doch amoi!“

Die mit den Netzstrümpfen schwankt schon leicht, setzt sich zu mir und drückt mir ein Bier in die Hand. 

„Da! Sauf!“

Die sind von hier. Ich glaubs nicht. Die Großeltern haben wahrscheinlich Villen in Grünwald. Mit Alarmanlage.

„Zehn Steine für zwei Flaschen, Alter!“

Na, der Irokesenhäuptling am Bierkasten hört sich nicht so an. Ist jetzt auch schon egal. Ich reiche ihm einen Zehner rüber und nehme einen tiefen Schluck. Ist sogar kalt.

„Ziag di doch amoi gscheit o. Was laufst denn so deppert umeinand.“

Keine Ahnung, was sie meint. Hört sich an, als zitiert sie ihre Mutter. Hat wohl mit meiner Krawatte zu tun. 

Mit einem Griff hat sie den Knoten geöffnet und mit der anderen Hand mein Hemd aufgeknöpft. Mein Bier ist halbleer. Erleichterung und freies Atmen.

Ich ertappe mich dabei, wie ich sie mir ohne die ganzen Nieten und Nadeln vorstelle. „Du gefällst mir, du tust genau das Richtige.“ War ich das? Ich fasse es nicht. Fehlt nur noch, dass ich „Sie“ sage. Und gnädiges Fräulein.

Sie lacht sich schlapp. „Sei doch ned so schüchtern, schaust doch gar ned so schlecht aus. Wart, i mal dir was Schönes.“

Irgendwoher hat sie einen dieser schwarzen Make-up-Stifte und fängt an, meinen Hals zu bemalen. Offenbar eine Art Blitz.

Das Bier und der Duft ihrer Haare breiten sich in mir aus. Sie riecht etwas verschwitzt vom Tanzen, und so, dass mir leicht schwindlig wird. 

Der Blitz reicht jetzt bis zum Brustbein. Sie betrachtet mich zufrieden.

„So ko mer di scho anschaun. Komm, tanz mer!“ Sie zieht mich hoch. Inzwischen hopst die ganze Horde zwischen den Gängen herum. Schnell die Jacke ausziehen.

Man nennt das Pogo, glaube ich. Sie zieht mich in den dicksten Pulk, hebt ihre Arme und schwenkt die Hüften mit geschlossenen Augen.

Ich habe allen Grund, die Augen offen zu halten, werde von allen Seiten begeistert angerempelt. Die Musik donnert wie ein offenes Hammerwerk in meinem Schädel. Kalter, weißer Schaum spritzt aus Flaschen, ein buntscheckiges Mädel mit einem bizarren Geschirr aus Ketten und Ringen tobt durch den Gang und lässt sich mit Bier begießen. 

Sie zieht mich zurück auf die Sitzbank und formt aus meinen nassen Haaren einen provisorischen Hahnenkamm. Der Innenminister hätte seine helle Freude an mir. 

Sie strahlt. „So gefallst mer scho besser.“ 

Ihre vollen, ungepiercten Lippen direkt vor meiner Nase. Und mein Kuss mitten hinein, ich hab keine Wahl, mein Zustand ist ein einziger Taumel. 

„Da schau her, du traust dich ja doch was!“ Sie umschließt meinen Nacken mit beiden Händen und drückt mir ihre Antwort auf den Mund. Bier, Zitrone und frischer Mädchenschweiß. Ihre Hand fährt unter mein nasses Hemd. Danke für die Sitzbank, im Stehen hätte ich das nicht ausgehalten.

Dialektgefärbte Beifallsrufe von der Punker-Fraktion. Da solle man herschauen, da solle man sich niederlegen und dergleichen mehr. Ich bin nur froh, dass sie dort keinen speziellen Verehrer hat. Sie verehren sie wahrscheinlich alle und gönnen ihr den Spaß. Ein Alphamädchen, sie hat ihre Leute im Griff.

Das Licht geht an, die Musik übertönt die unverständliche Ansage. Irgendwas mit Umleitung und Prinzregentenplatz. Der Waggon setzt sich in Bewegung.

Sie schaut an mir herunter, mustert die feuchten Überreste meiner Verkleidung und grinst. „Was machst eigentlich?“

„Anwalt.“ Leichtes Schamgefühl. Sie dreht feixend den Kopf beiseite. Schwarze Locken. 

„Eeh, brauchet mir an Anwalt?“ Begeistertes Gelächter, sie hat sofort die ganze Aufmerksamkeit. „Klar, immer her damit!“

Verwaltungsrecht. Aber das muss sie nicht wissen. Sie soll mich für einen coolen Strafverteidiger halten, wie in der Fernsehserie.

„Hörst des? Gib mir deine Numma, i ruf di o.“ 

Ich gebe ihr meine Karte von der Kanzlei. Die werden sich wundern.

„Oh mei, Dokta bist aa. Wenn i des dahoam erzähl…“

Prinzregentenplatz. Ein Kuss und weg ist sie, die lachende Horde hinter ihr her. Dann winkt sie nochmal von der Rolltreppe. Die Bässe werden leiser.

Das zweite Bier haben sie mir dagelassen. Soviel Fürsorge.

Zurücklehnen auf der nassen Sitzbank. Ich genieße die Stille. 

Am nächsten Münztelefon den Termin absagen. In der Staatskanzlei zeigt man sich verständnisvoll, wenn auch etwas befremdet. 

„Was ist denn da los bei Ihnen?“ 

Keine Ahnung, wie ich darauf antworten soll. Ich habe bei einem Stromausfall in der U-Bahn mit einem Haufen Punks Pogo getanzt, bin dabei mit Bier übergossen und anschließend beinahe von der Leitwölfin verführt worden. 

Ihr würdet mich nicht verstehen, ihr Armen. Keine Sorge, in ein paar Stunden bin ich wieder einer von Euch.

„Ich melde mich morgen.“ 

Schnell ausschalten.

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