Von Michael Kothe

Der größte Tag sollte es werden in Svenjas Berufsleben: der 14. Juli 2034.

Die Verkehrsbetriebe hatten zwei Großereignisse feiern wollen, jedoch war der Nordring, der die halbe Metropole umfasste, unvollendet. Eine geologische Anomalie hatte beide Enden der neuen Tunnelröhren sich nicht treffen lassen, sondern ließ eines absacken und in eine Erdspalte münden. So wurde als Ziel für die Einweihungsfahrt der neuen U-Bahn-Generation der Flughafen bestimmt. Die Einfahrt unter das Terminal sollte „mit großem Bahnhof“ gefeiert werden.

 

Im Depot herrschte Hochstimmung. Schüchtern stimmte Svenja in den Jubel ein, zögernd hob sie ihr Glas und sprach mit zittriger Stimme einige Dankesworte ins Mikrofon. Gerade hatte die Geschäftsleitung sie aus der Reihe der U-Bahnfahrer für diese erste Fahrt benannt. Unwillkürlich streckte sie sich, und ihre Verlegenheit wich dem Gefühl von Stolz und Genugtuung, als sie sah, dass ihr Zehnjähriger sich in die Halle geschlichen hatte. Breit grinsend reckte er beide Daumen nach oben.

Die Feier endete in ausgelassener Atmosphäre. Lukas nahm seine Mutter an der Hand und zog sie ins Freigelände. »Danke, dass du deinen Chef überredet hast, mich morgen mitfahren zu lassen! Und nun will ich deinen Zug sehen.«

Willig ließ sie sich führen.

»Sag mal …« Seine gedehnte Frage unterbrach die stumme Vorfreude. »Wieso bist du eigentlich immer noch Lokführerin?«

Ein Taumel erfasste Svenja. »Es war nicht mein Zug.« Halblaut hatte sie die Worte durch die Zähne gepresst. Schlagartig blendete die Erinnerung jedes Hochgefühl aus.

»Trotzdem. Er hat zwei Männer vor einen Zug gestoßen. War Papa wirklich so böse?«

Svenja schluckte. Morgen wäre es vier Jahre her, dass ihr Mann sich in seiner Zelle erhängt hatte. »Das war er. Aber geliebt habe ich ihn trotz allem.« Sie presste die Lider zusammen, um ihre Tränen zurückzuhalten. Und ich liebe ihn noch! Das wagte sie nicht auszusprechen. Beim ersten Mal hatte sie aus der Reaktion von Lukas gelernt, dass geteiltes Leid nicht immer ein halbes sein musste, obwohl er ihren neuen Freund mochte.

 

Viel zu früh betraten sie das Depot. Unter dem Beifall ihrer Kollegen und Vorgesetzten öffnete Svenja die Tür und verschwand im Führerstand, Lukas unmittelbar nach ihr. Sie scheuchte ihn aus dem Sitz, in den er gerade rutschen wollte. »Wir haben Prominenz an Bord. Setz dich dort drüben hin, dann hast du freie Sicht!«

»Keine Warntafel wegen stromführender Schienen? Woher bekommt deine Lok den Strom?«

»Nun, die Ionenstrahlpumpe …«

»Sag doch einfach Raketentriebwerk!« In seiner Stimme schwang Stolz über sein Wissen mit. »Und wenn du zu viel Katalysatorgas einspritzt?«

»Dann war 9/11 im Vergleich ein Silvesterknallfrosch.« Ungewohnt schwarzer Humor, doch sie kicherte.

»Und oben wackeln die Häuser.« Er wedelte mit den Händen.

»Die wackeln nicht, die stürzen ein. Ganze Straßenzüge. Aber es wird nicht passieren. Die Prototypen haben tausende Betriebsstunden hinter sich. Ohne Unfall.«

Nach und nach füllten sich die Wagen mit geladenen Gästen; Vorstand, Stadträte und Presse drängten sich hinter Svenja, der Oberbürgermeister glitt in den Sitz, den Lukas hatte räumen müssen, und der Geschäftsführer drückte ihr die Hand auf die Schulter. »Wir können los, es sind alle an Bord.« Ein Blick auf die Bildschirme zeigte ihr halbvolle Waggons. Männer und Frauen prosteten sich zu und schauten auf Monitore, die sie nicht sehen konnte. Sie nickte und legte im Blitzlichtgewitter der Fotografen zwei Finger auf das Sensorfeld, meldete sich mit ihrem Fingerabdruck beim Bordcomputer an. Automatisch würden nun alle Systeme geprüft, erklärte der Geschäftsführer dem OB. Sekunden noch, dann sperrte der Tunnel das Tageslicht aus.

Die Fahrt verlief ohne Halt, an den Stationen drängten sich Schaulustige an die Absperrungen. Den Reportern im Führerstand zugewandt wurde der Leiter der Verkehrsbetriebe nicht müde, die neue Antriebstechnologie zu erklären. Unvermeidlich stellte einer die Frage nach dem Ausmaß eines möglichen Unfalls. »Daneben nimmt sich 9/11 aus wie ein Silvesterknallfrosch.« Sofort flogen Touchpens über Tablets, um Lukas´ Spruch festzuhalten. Trotz der Ernsthaftigkeit erntete er Gelächter. Sogar Svenja grinste amüsiert über ihren vorlauten Sprössling.

»Wir kommen in ein paar Minuten zur Abzweigung Richtung Flughafen. Im anderen Tunnel kämen wir noch durch vier Stationen, bevor wir in der Spalte versinken … oder am Tunnelende zerschellen. Die Untersuchungen kommen aber gut voran.« Im Geiste formulierten die Pressevertreter nach dieser Ansage Horrorszenarien, die den Zug erwarteten, wenn er in die unfertige Strecke einführe.

Wie ein Vorbote des Aufpralls riss ein Holpern die Fahrgäste von den Füßen.

»Was fällt Ihnen ein? Was haben Sie …« Seine Frage vollendete der Oberbürgermeister nicht, als er in Svenjas blutleeres Gesicht blickte. Auch ihn hatten die blauen Blitze im Tunnel erschreckt, und nun beobachtete er die verzweifelten Versuche der U-Bahnfahrerin, die Geschwindigkeit zu drosseln. Das Aufatmen der Fahrgäste, die sich aufrappelten und verstört um sich blickten, dauerte nur einen Lidschlag. Das Rumpeln hatte den Zug verlangsamt, danach schien er sein bisheriges Tempo übertreffen zu wollen. Lichter, Schilder und Signale flogen vorbei, in den Stationen wurden die Neugierigen durch den Luftdruck von der Kante fortgepresst, nur um nach dem Durcheilen des Zuges ins Gleisbett gesogen zu werden. Hektisch bemühte Svenja alle Bedienelemente. Vergeblich. Blaue Blitze schossen unentwegt aus den Tunnelwänden, als eilten sie dem Zug voraus und zögen ihn immer schneller vorwärts.

»Die Abzweigung! Nach rechts, nach rechts!« Wirkungslos verhallten die Schreie des Geschäftsführers. Nichts stellte die Weiche um. Überall machte sich das Entsetzen durch Schreie und Gedränge Luft. Dann Ruhe. Passagiere bekreuzigten sich. Gesichter pressten sich in angespannter Hoffnung an die Fenster, als könne der Wunsch das Schicksal bestimmen. Alle Blicke hefteten sich an die helle Tunnelöffnung, doch die Abzweigung zum Flughafen flog vorbei. Nun fehlten nur Minuten bis zum Aufprall. Wer den überlebte, verglühte in der Kernschmelze. Wenigstens ein schneller Tod! Kein Leiden. Und nicht allein. Über ihnen würden Tausende ins Verderben stürzen.

Das bleiche Licht im Führerstand überzog die Gesichter mit kalkigem Weiß, den Tunnel erhellten einzig die Scheinwerfer und die blauen Blitze, die jegliche Bewegung der Fahrgäste zu einem Stakkato lebendiger Bilder zerhackten.

»Um Himmels Willen, tun Sie doch etwas!«

Kurz sah Svenja ihrem Vorgesetzten in die Augen. Ein-, zweimal schüttelte sie den Kopf, sie hatte alles versucht. Verzweifelt streckte sie die Arme aus, nur aufstehen wollte sie und in den letzten Momenten ihren Sohn umarmen, ihn an sich drücken, doch die Beschleunigung hielt sie in ihrem Sitz gefangen. Die Monitore zwangen ihren Blick auf die Konsole. Statt wie bis eben dunkle Bilder zu zeigen, übertrugen sie von den rückwärtigen Kameras ein Gleißen. Fleckiges Weiß folgte dem Zug, holte auf, füllte die Waggons und schob sich ins Führerabteil. In diesem Augenblick knickten die Gleise, führten senkrecht in die Tiefe. Im Funkenregen schabten Waggons an den Felswänden, das Kreischen von Metall übertönte die Schreie im Inneren. Schwerelos suchten die Fahrgäste Halt, krallten sich fest an Haltestangen und Sitzkanten. Funken fraßen sich in die Wagen, erfassten Passagiere, und Svenja musste auf den Monitoren zusehen, wie sie brannten und binnen Sekunden verglühten. Einzig Svenjas Schreie gaben dem Entsetzen Ausdruck, die Kameras übertrugen keinen Ton. Aus dem weißen Licht lösten sich strahlende Figuren, die einzelne Personen ergriffen und aus dem Zug trugen. Engel?

»Mama!« Ihr Kopf wirbelte herum, als sie Lukas schreien hörte. Ihre Finger krallten sich in die vorderen Enden der Armlehnen, jedoch zogen sie vergebens. Vergeblich bäumte sich ihr Körper zwischen Sitz und Rückenlehne auf. Hilflos sah sie zu, wie zwei Lichtgestalten ihren Sohn nach draußen zerrten. Bevor ihr Bewusstsein schwand, zog sie aus ihrem Glauben einen letzten Trost: »Lukas ist im Himmel.«

Als sie die Augen aufschlug, war sie fast allein. Die meisten Fahrgäste waren verbrannt oder von den „Engeln“ entführt. Sie hob den Kopf in den Nacken, presste die Luft aus den Lungen und ließ entspannt ihr Kinn auf die Brust sinken. Sie wusste, Lukas war tot, aber weiterer Schrecken blieb ihm erspart. Mit dem Geschehenen wusste sie nichts anzufangen, es musste ein Albtraum sein. Auch ein Blick nach draußen erklärte nichts. Der Zug fuhr in der Waagrechten, raste durch eine zerklüftete Landschaft, die Enge des Tunnels hatte geendet. Ihr zeigte sich eine wüste Gegend mit toten Wäldern und zerfallenen Städten. Während graue Gebäude wie aus leeren Augenhöhlen dem Zug nachblickten, erhellte zuckendes Gelb-Rot die Szenerie. Die Apokalypse fraß sich nicht nur in Svenjas Sinne. Hysterisch streckten hinter ihr einige die Zeigefinger zu den Fenstern und begleiteten die Geste mit Kreischen. »Zombies!« Erkennen konnte sie nichts. Mittlerweile schienen ihr die Instrumente und Bedienelemente wieder zu gehorchen, und irgendwann brachte sie die U-Bahn zwischen Ruinen zum Stehen. Gleise sah sie keine, der Zug hatte seinen Weg durch Schutt und Erde gepflügt.

Froh, überlebt zu haben, drängten alle ins Freie, wer zögerte, den drückten die übrigen nach draußen. Gestank nach Fäulnis und Schwefel schlug ihnen entgegen. Dicht an dicht standen sie. Überwältigt von neuem Grauen: Gestalten schoben sich auf sie zu. In Kleidern, wie man sie heute oder auch vor vielen Generationen getragen hatte. Mit langsamen Bewegungen. Ihre Haut war fleckig, bei manchen pergamentartig gespannt, das Haar dünn und wirr.

»Hier ist die Hölle!« Gemurmel gab dem Sprecher Recht.

Svenja stand starr, unfähig zu atmen. Unwillkürlich zog sie den Kopf zwischen die Schultern, bevor sie sich langsam umdrehte. Die Stimme, die sie seit vier Jahren nicht gehört hatte, erkannte sie augenblicklich.

»Svenja, du gehörst mir

 

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