Von Helga Rougui

Ich schaue auf das zusammengesunkene Bündel Lumpen auf dem orangen Plastikschalensitz vor mir. Es kommt mir vage bekannt vor.

Keine Frage – das bin ich.

Sehen meine Klamotten wirklich so schäbig aus? Wenn man drinsteckt, sieht man sich ja meist nicht, denn der Weg eines, in meinem Fall einer SDF ist nicht mit Spiegeln garniert.

Ich finde, SansDomicileFixe hört sich besser an als Pennerin – schließlich habe ich eine Vergangenheit, die von einer Luxusvilla als festem Wohnsitz, einer Garderobe von Gucci und Hermès, Mai Thais und Dom Pérignon koloriert wurde. Was mir, verstoßener Ehefrau ohne Ehevertrag, nun auch nichts mehr nützt. Daß mir mein Ehemann, der alte Knacker, den supersüßen Poolboy dermaßen übelnehmen würde, konnte ich nicht ahnen. Nun bin ich Teil der großen Obdachlosengemeinde von Paris. Oder war, wie es scheint.

Anstatt mir Sorgen über mein Äußeres zu machen, sollte ich mir besser überlegen, wieso es mich zweimal gibt – dort unten und – hier oben. Wobei – ich schaue an mir herunter – das so ausgedrückt gar nicht stimmt, denn da, wo Brust, Bauch, Beine, Füße sein sollten, ist – nichts. Aber trotzdem fühle ich mich „anwesend“. Ich schaue das Bündel vor mir noch einmal genauer an, dort sehe ich meinen Körper mit allem Drum und Dran, Nur daß ich offensichtlich nicht drinstecke.

Was ist hier los?

Was soll schon los sein? brummt es neben mir.

Von wem kommt diese Frage? Ich blicke um mich und sehe niemanden.

Das da vor dir, fährt die Stimme erklärend fort, ist deine Materie, und du bist hier auf der anderen Seite. Manche nennen es Seele. Ich nenne es Nichts.

Bist du auch eine Seele – ich verbessere mich, ich meine, ein Nichts?

Ja, antwortet es knapp, und bevor du fragst – meine Materie haben sie schon vor Monaten weggeschafft. Sie lassen so was nicht gern lang rumliegen. Zumal sie nach meinem Sprung vor die Métro von 17:53 am 3. Januar nicht mehr sehr appetitlich aussah. Eine Frau mußte sogar kotzen, als man mich – oder das, was von mir übrig war – von den Gleisen auf den Bahnsteig hievte.

Aha, verstehe. Ich will ihn nicht nach den Gründen fragen, das ist zu privat, ich kenne ihn nicht und weiß nicht einmal, wie er aussieht. Er hört sich müde und mürrisch an. Wird man so, wenn man längere Zeit ein Nichts ist?

Ich denke nach. Ich bin sicher, daß ich mich nicht vor einen Zug geworfen habe. Wieso bin ich dann in diesem entleibten Zustand?

Wieder die Stimme neben mir, fast ungeduldig diesmal: Du bist ganz einfach gestorben, verstehst du? Woran, müßtest du selbst am besten wissen. Hattest du Krebs? Aids? einen Herzinfarkt?

Ich denke über diese Möglichkeiten nach und sage dann kleinlaut: Vermutlich bin ich schlicht und einfach verhungert. Wann ich das letzte Mal was gegessen habe, weiß ich gar nicht mehr.

Aber ich weiß, daß ich hier jetzt langsam weg will – ob Seele oder Nichts – ich muß jetzt sofort durch ein Fenster davonfliegen, um wo auch immer anzukommen. Ich drehe und wende mich und suche nach einer Öffnung nach draußen, aber es gibt nur die beiden Bahnsteige mit den Röhren, die links und rechts in die Dunkelheit führen, dann gibt es Treppen am Ende jeden Bahnsteigs,und es gibt diese orangen Plastikschalensitze, einer neben dem anderen, so daß sich niemand, der vielleicht müde ist, zu einem Schläfchen niederlegen kann. (Ich weiß, wovon ich rede.) Da sind auch Schilder mit dem Namen der Station – Place Monge steht da in weißer Schrift auf blauem Grund, in hübschen gemauerten Porzellanziegeln -, und es gibt riesige bunte Werbeplakate. Auf einem ist ein weit geöffnetes Fenster, durch das man ein meerblaues Gewässer und strahlendweiße Gebäude sehen kann.

Wieder die Stimme neben mir: Versuche es gar nicht erst. Du holst dir bloß eine virtuelle Beule. Hier unten gibt es keine echte Verbindung nach draußen. Keiner wird für dich das Fenster öffnen, so daß du davonfliegen kannst.

Ich bemerke, daß man meine materiellen Reste bereits weggeschafft hat. Muß leicht gewesen sein, ich wog ja gegen Ende kaum mehr was. Wo werden sie die Clocharde begraben?

Es interessiert mich eigentlich nicht.

Ich bin gefangen in einer Métrostation, und ich stelle mich auf eine sehr, sehr lange Zeit des Wartens ein.Wie war das noch mal mit dem Jüngsten Tag? Und wenn er denn gekommen ist, findet mich der Erzengel überhaupt?

 

*

 

Die Métro Numéro 7 Direction Villejuif verläßt die Station Jussieu in Richtung Place Monge.

Sie nimmt Fahrt auf, um alsbald wieder zu verlangsamen, die Entfernung ist nicht groß. Schon von weitem hört sie wieder dieses Jammern und Wehklagen – das ist wohl diese neue Seele, die sich mit ihrem Eingesperrtsein nicht abfinden will. Die andere, die Selbstmörder-Seele, ist fein still – sie weiß, daß sie sowieso nicht mit Erlösung rechnen kann.

Die Métro fährt ein in den Bahnhof, stoppt, die Türen öffnen sich mit einem Zischen.

Das Weinen ist nun sehr laut, die arme Seele hockt wohl genau neben der Tür, die der Fahrerkabine am nächsten ist. Da hat die Métro plötzlich Mitleid und eine Idee. Sie flüstert vernehmlich: Steig ein, fahr mit, ich sag dir, was du tun sollst.

Die Seele läßt sich das nicht zweimal sagen, alles ist besser als weiter hier unten zu sein. Sie schlüpft ins Abteil und kauert sich in die Ecke unter die Klappsitze nahe am Eingang. Die Métro fährt wieder los, passiert die Stationen Censier-Daubenton und Les Gobelins und gelangt zur Place d’Italie.

Nun steig aus, flüstert die Métro erneut, und suche die Linie 6 Direction Charles de Gaulle Etoile. Schönen Gruß von mir, sie soll dich mitnehmen und dich an der Station Bir-Hakeim rauslassen. Da wirst du sehen, daß …

Aber das hört die Seele nicht mehr, sie sitzt schon im nächsten Zug Richtung Charles de Gaulle Etoile, spitzt die Ohren und wartet gespannt.

Plötzlich weicht die Dunkelheit, die Métro schießt aus der Erde in die Helligkeit des Tages, fährt ein in die Station Bir-Hakeim, die Türen öffnen sich – und die Seele, endlich befreit, taumelt ins Licht, breitet ihre Flügel aus und kann endlich, endlich entschweben – wohin auch immer.

Die Métro schaut ihr sehnsüchtig nach. Sie ist nicht lebendig, muß also auch nicht sterben.

Aber fliegen, fliegen wird sie nie.