Von Ulrich Dörfler

Neulich an der Pforte.   
Hallo, lässt Du mich rein?       
Hallo, mein Lieber, Du siehst aber ganz schön überfahren aus! Sag mir, was ist Dir denn passiert?  
Muss das sein, lass mich doch rein, bitte.          
Sorry, mein Bester, aber ohne Beichte kommst Du an mir nicht vorbei. Erzähl doch einfach.
Also gut. Wenns sein muss. Dann hör mal zu:  

Der Club ist brechend voll. Ein bekannter DJ legt heute Abend auf. Die Beats rollen vibrierend durch den Saal. Auf dem Dancefloor zappelt die Menge verzückt zu den Rhythmen der Tracks.

Vom Tanzen erschöpft, stehe ich an der Bar und bestelle einen Gin-Tonic. Es ist bereits der fünfte heute Abend. Ich bemerke kaum, wie mir der Alkohol langsam zu Kopfe steigt.

Lena kommt lächelnd auf mich zu. Sie sieht meinen Drink, und augenblicklich verfinstert sich ihre Mine. Wütend stößt sie hervor: „Wolltest du heute Abend nicht nüchtern bleiben?“ „Ach was soll´s, heut ist so ein geiler Abend, an Morgen denk ich nicht“ gebe ich ihr gespielt locker zurück. „Du weißt doch genau was Morgen für ein Tag für Mich ist“ sie scheint nun richtig sauer zu sein. „Du hast mir versprochen, mich zu meiner neuen Arbeitsstelle zu bringen. Und jetzt das.“ Ihre Augen funkeln wütend. „Oh, ähm, ja, das hab ich total vergessen“, bringe ich stammelnd hervor. Doch sie hat sich schon umgedreht und läuft Richtung Ausgang. Hektisch werfe ich dem Barkeeper einen Geldschein hin und versuche ihr durch die Menge zu folgen. Am Ausgang sehe ich gerade noch, wie sie in ein Taxi steigt. Ich versuche hinterher zu sprinten, doch das Taxi fährt zügig an und verschwindet mit Lena in der Nacht.

Ich bleibe atemlos auf der Straße zurück. An den Club und den DJ verschwende ich keinen Gedanken mehr. Zu sehr nagt die Wut über mich selbst in mir. Angetrunken stolpere ich in Richtung U-Bahnstation.

„Hey Alter, brauchst was? Warst schon ewig nich mehr hier“ raunt mich eine Gestalt aus einem, im Halbdunkel liegenden, Eingang an. Ich erkenne Erik, er dealt hier in der Gegend. Ich habe schon mal was bei ihm geholt. Jedoch, seit ich Lena kenne, habe ich das gelassen. „Was solls“, denke ich bei mir, „der Abend ist eh am Arsch“. Ich strecke ihm meinen letzten Zwanziger hin und er kramt aus einer seiner Taschen ein Plastikbeutelchen mit einer Pille hervor. Ich schnappe es mir und gehe grußlos weiter Richtung U-Bahnstation.

Die Tür schließt sich zischend hinter mir. Gerade noch rechtzeitig geschafft. Es sind nicht allzu viele Fahrgäste da. Ich lasse mich auf den freien Sitz fallen, ziehe mein Handy raus und checke die Nachrichten. Mist, Lena hat sich nicht gemeldet.

Ich denke an die Zeit zurück, als ich sie kennen lernte, da stoppt die Bahn am nächsten Halt. Die Tür geht auf und ein Schwall muffiger, schmierölgeschwängerter Luft dringt in meine Nase. Aber noch etwas anderes. Ein penetranter Gestank! Irritiert hebe ich den Kopf und fokussiere die Quelle des ungeheuerlichen Geruches: Ein bärtiger Mann mittleren Alters mit ungepflegtem, fettigem Haar und geschätzte 270 Pfund schwer. Seine Jogginghose wird zum Schritt hin immer dunkler und nässer. Wie die Ringe eines Baumes zeigen weiße kristalline Streifen das Alter der Nässeflecken an. Noch bevor ich überhaupt realisiere, was dies eigentlich ist, würgt mich ein Brechreiz. Mit angehaltenem Atem und kräftigem Schlucken halte ich dagegen. Blitzartig verlasse ich meinen Sitzplatz und flüchte ins nächste Abteil.

Finde Platz gegenüber von zwei jungen Frauen. Sie scheinen ein Paar zu sein und würdigen mich keines Blickes. Ich sehe mich im Abteil um. Da kommt ein kleiner, spindeldürrer Mann herein mit orangefarbenem Turban und einer ebensolchen, über den Oberkörper und die Hüften geschlungenen, Stola. Die Beine und Füße sind nackt. Er setzt sich im Schneidersitz mir links gegenüber, bemerkt meinen Blick und meint freundlich: “Namaste“ Im gleichen Augenblick betritt eine Gruppe von fünf jungen Leuten das Abteil. Sie haben einen riesigen Bluetooth Lautsprecher dabei, der laute Technomusik von sich gibt.

Die beiden Mädels gegenüber haben zu knutschen begonnen. Ihre außergewöhnlich langen Zungen scheinen wie Schlangen im Mund der jeweils anderen zu verschwinden. Sie halten kurz inne, sehen mich mit feurig roten Augen an und aus ihren Kehlen erschallt irres Gelächter. Das ganze Abteil scheint sich nun in einen Rave zu verwandeln. Eine Oma steppt mit ihrem Rollator, ein Banker reißt sich die Kleider vom Leib und tanzt mit freiem Oberkörper. Kaum ein Fahrgast sitzt noch auf seinem Platz. Nur ich versinke immer tiefer in meinem. Der Inder sieht unverändert aus, jedoch schwebt er jetzt zehn Zentimeter über seinem Sitz.

Die Bahn hat ein höllisches Tempo erreicht. Alles vibriert und klappert dröhnend. Ein riesiger Fahrkartenkontrolleur betritt das Abteil. Er steht mit dem Rücken zu mir. Als er sich umdreht, glotzen mich zwei leere, schwarze Augenhöhlen an. Die Haut seiner Wangen hängt in Fetzen herab, nicht blutig, sondern lederartig vertrocknet.

Er stößt einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Hey, Bursche, du hast dich wohl im Abteil vertan! Ich möchte am liebsten in meinen Sitz verschwinden, bleibe aber wie festgenagelt sitzen. Er packt mich am Kragen meines Jacketts, und ich spüre seinen unglaublich frostigen Atem. Mit dem eisernen Griff seiner verfaulten, knochigen Hand schleift er mich vor zum Zugführer ins Führerhaus, der, eine Flasche Wodka in der einen Hand und die andere am Gashebel, russische Volkslieder singt. Das letzte was ich sehe, bevor mich der Kontrolleur aus der fahrenden Bahn kickt, ist eine Frau auf den Gleisen. Direkt vor dem Zug. Sie kommt mir seltsam bekannt vor. Oh mein Gott, ja ich kenne sie. Ich muss ihr…   Dann wird mir schwarz vor den Augen.

 

Mit einem schrecklichen Geschmack im Mund wache ich um halb eins in meinem Bett auf. Das letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, wie der Zombieschaffner, oder wer auch immer, mich aus dem Zug wirft. Danach – Filmriss. Was für ein Höllentrip. Ich habe keine Ahnung, wie ich es nach Hause geschafft habe.

Ich fasse mir an den Kopf, an den Arm, den Bauch und zucke vor Schmerz zusammen. Erst jetzt begreife ich, dass es meine Hand ist, die schmerzt. Ich muss wohl darauf gestürzt sein. Erst nach Zähneputzen, ausgiebigem Duschen und einem Katerfrühstück komme ich langsam zu mir.

Lena hat sich noch nicht gemeldet. In mir kriecht die Angst hoch. Ich schreibe ihr eine Nachricht und bitte sie um Entschuldigung. Doch sie meldet sich nicht. Was bin ich nur für ein Idiot, alles lief so gut. Seit sechs Wochen war ich clean. Weg von den Pillen und dem Dealen von schlechtem Stoff. Und nun alles Aus; Rückfall und wieder allein.

Meine Hand ist angeschwollen und schmerzt stark. Ich beschließe, zu einem Arzt zu gehen. Nach einem Anruf in der Praxis bekomme ich prompt einen Termin zweieinhalb Stunden später.

Mit dem Bus geht es in die Residenzstraße. In eine U-Bahn bekommt mich heute niemand mehr. Von dort dauert es noch zehn Minuten bis zur Praxis.

 

Plötzlich höre ich jemanden meinen Namen rufen. Ich drehe mich um, und beginne im gleichen Moment, in dem ich den Typen erkenne, zu rennen. Er folgt mir im gleichen Tempo. Wie eine muskelbepackte Kampfmaschine schiebt er sich immer näher an mich heran. Ich versuche schneller zu laufen, mein Puls schlägt hoch bis zu meinen Ohren, in meinem Mund macht sich ein metallischer Geschmack breit. Der Typ lässt sich nicht abschütteln. Er schreit hinter mir, so etwas wie: „Bleib stehen, du Arsch, und gib mir meine Kohle“. Ich denke nicht dran. Von mir gibts heut kein Geld. Selbst schuld, wenn du Dir von mir schlechten Stoff andrehen lässt.

Vor mir taucht eine U-Bahnstation auf. „Meine Rettung“ blitzt es durch mein Gehirn. Ich renne die Treppe hinunter, vier Stufen auf einmal. Plötzlich durchdringt ein stechender Schmerz meinen Knöchel. Humpelnd schleppe ich mich in Richtung Bahnsteig.

Jetzt ist er hinter mir. Er schreit: „Bleib endlich stehen, Arschloch“ holt aber bereits zu einem Schlag aus. Der trifft mich am Kopf. Ich taumle noch einige Schritte zur Bahnsteigkante. Dann spüre ich, wie ich falle.

Der Aufschlag auf die Schienen ist hart. Im Hochrappeln bemerke ich eine Bugwelle stickiger Luft, die auf mich zuströmt. Ich hebe den Kopf und sehe die Bahn quietschend auf mich zurollen. Der Gleiskörper beginnt zu vibrieren. Die Zeit scheint jetzt in Zeitlupe zu vergehen. Der Fahrer versucht panisch eine Notbremsung. Er hebt den Kopf. Die Haare auf meinen Armen und Nacken stellen sich auf, kalter Schweiß läuft meinen Rücken herunter und ich bekomme eine Gänsehaut, als ich ihn anstarre.

Nein, ich starre sie an.

Es sind Lenas große, braune, panische Augen, in die ich starre.

 

Version 3