Von Angelika Brox
Am liebsten würde sie überhaupt nicht hingehen. Aber was half es, den Kopf in den Sand zu stecken?
Seufzend zog Anja den Wagenschlüssel aus der Jackentasche, zielte mit der Fernbedienung auf ihr Auto und drückte die Entriegelungstaste. Das Schloss antwortete mit einem klackenden Geräusch, doch ehe sie die Fahrertür öffnen konnte, klackte es erneut und die Tür war wieder versperrt.
Verwundert probierte Anja es ein zweites Mal – mit demselben Ergebnis. Zwar reagierte das Auto auf ihren Befehl, doch dann machte es ihn rückgängig und ließ sie nicht einsteigen.
Nach dem dritten vergeblichen Versuch gab sie auf. Kopfschüttelnd steckte sie den Schlüssel ein. Jetzt musste sie sich beeilen. Mit schnellen Schritten lief sie zur nächsten U-Bahn-Station.
Die U2 Richtung Uni-Kliniken stand abfahrbereit auf dem Bahnsteig. Während Anja die Treppe herunterhastete, schlossen sich die Türen. Sie rannte zum letzten Wagen und presste eine Hand auf den Öffnerknopf. Keine Reaktion. Die U2 rauschte ohne sie davon.
Offensichtlich war heute nicht ihr Tag.
„Have a wonderful day“, hatte ein Graffiti-Künstler an die Wand gesprüht; daneben lächelte ein Smiley.
Anja verzog den Mund und schnaufte leise. Ein Wunder könnte sie wahrlich gut gebrauchen.
Überraschend lief eine weitere Bahn ein. Sie bestand nur aus einem einzigen Waggon.
„U2 Sonderfahrt“ stand über dem Führerhaus. Direkt vor ihr hielt sie an, die hintere Tür glitt zur Seite und Anja stieg ein.
Als Erstes fiel ihr Blick auf einen jungen Mann in einer zerschlissenen Kapuzenjacke. Er wirkte krank, das Gesicht vorzeitig gealtert. Crystal Meth, kam ihr sofort in den Sinn. Zusammengesunken hing er auf seinem Sitz und starrte ins Leere.
Weiter vorne saß eine alte Frau mit einem Korb auf dem Schoß.
Die übrigen Plätze waren frei.
Anja ließ sich in Höhe der Frau auf der anderen Seite des Gangs nieder und schaute aus dem Fenster.
Die U-Bahn fuhr an und tauchte in den dunklen Tunnel ein.
Anja schloss die Augen und dachte an ihren Termin. Vermutlich würde der Arzt ihr wenig Ermutigendes mitzuteilen haben. Dann musste sie sich überlegen, wie sie damit umgehen wollte …
Draußen wurde es hell. Sie erreichten die Haltestelle Nordfriedhof.
Die alte Dame erhob sich mühsam und ging zur Tür. Aber die U2 rauschte mit kaum verminderter Geschwindigkeit durch den Bahnhof und verschwand wieder im Tunnel.
„Ich muss doch hier raus!“ Aufgeregt schwenkte die Frau ihren Korb.
„Hallo!“, rief Anja dem Fahrer zu. „Warum haben wir nicht gehalten?“
Der Mann schaute über die Schulter, lächelte und meinte: „Alles wird gut.“
Anschließend blickte er wieder nach vorne.
Anja sah ihre Mitreisende stirnrunzelnd an. „Das verstehe ich nicht. Am besten steigen Sie an der nächsten Station aus und fahren dann zurück.“
Mit unsicheren Schritten kehrte die alte Dame auf ihren Sitzplatz zurück. Als sie sich niederließ, nickte sie Anja zu.
Sie fuhren und fuhren. Eigentlich hätte die nächste Haltestelle längst kommen müssen. Doch draußen blieb es unverändert dunkel.
„Hallo!“, rief Anja. „Wo sind wir überhaupt?“
Wieder schaute der Fahrer lächelnd über die Schulter und sagte: „Alles wird gut.“
Was für ein seltsames Verhalten! Setzten die in der U-Bahn etwa schon Roboter ein?
Ihre Reisegefährtin starrte sie ängstlich an. Um sie abzulenken, setzte Anja sich neben sie und fragte: „Wollen Sie zum Friedhof?“
„Ja, ich besuche dort jeden Tag meinen Mann.“
„Oh, tut mir leid.“
„Das muss es nicht. Wolfgang ist schon seit zehn Jahren tot und vorher durfte ich über vierzig Jahre mit ihm zusammen sein.“
„So eine lange Ehe, wie schön.“ Anja seufzte. „Haben Sie Kinder?“
„Ja, zwei. Unsere Tochter lebt mit ihrer Familie in der Schweiz und unser Sohn unterrichtet an einer Universität in Amerika.“
Schon kramte sie ein kleines Einsteckalbum aus ihrem Korb und zeigte Fotos von Wolfgang, den Kindern und den Enkeln.
Für eine Weile vergaß Anja die Zeit. Irgendwann wurde ihr bewusst, dass sie immer noch durch den Tunnel rasten und keinen einzigen Bahnhof passiert hatten.
„Hallo!“, rief sie. „Wohin fahren wir eigentlich?“
Der Fahrer schaute sich um und lächelte.
Allmählich wurde die Situation wirklich unheimlich. Ihre Hände begannen zu zittern.
„Wann kommt die nächste Haltestelle?“, schrie sie. „Was ist hier überhaupt los?“
„Alles wird gut.“
Anjas Kopfhaut kribbelte, als stünden ihre Haarwurzeln unter Strom.
Mit weichen Knien ging sie zum Führerstand und tippte dem Mann auf die Schulter.
Im gleichen Moment tauchte in weiter Ferne ein kleines Licht auf. Kam nun endlich das Ende des Tunnels in Sicht? Gebannt schaute sie durch die Frontscheibe und beobachtete, wie sich das Licht langsam ausdehnte. Immer größer und heller leuchtete es, sandte ihnen golden und silbern schimmernde Strahlen entgegen. Sie konnte den Blick nicht abwenden.
Neben ihr stand auf einmal der Junkie. Ergriffen hauchte er: „Wow, was für ein Trip!“
Auch die Frau war aufgestanden und schaute ins Licht.
„Wunderschön“, murmelte sie.
In gemäßigtem Tempo rollte die U2 aus dem Tunnel heraus, tauchte ein in das Glitzern und Funkeln und kam sanft zum Stehen.
Sie stiegen aus. Der warme, wohltuende Schein umhüllte sie, als würden sie selber leuchten.
Auf dem Bahnsteig standen wartende Menschen.
Dem Junkie rannen Tränen übers Gesicht. Er flüsterte: „Jenny … Basti … Matze …“
„Wolfgang!“, schrie die alte Frau und lief auf einen Mann zu, der ihr mit ausgestreckten Armen entgegenging.
„Willkommen, Anni!“, sagte eine vertraute Stimme und jemand winkte Anja zu. Sie blinzelte ungläubig. Konnte das sein? Sandra? Gesund und glücklich sah sie aus, als wäre sie niemals krank gewesen. Wie sehr hatte sie ihre Schwester vermisst!
Der Fahrer kletterte aus dem Wagen, schaute lächelnd den Umarmungen zu und sagte: „Alles ist gut.“
V2
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