Von Katharina Rieder

„Auch wenn wir jetzt hier leben, sind wir immer noch Kurden!“

Alias Kopf folgt der Schwerkraft. Ihr Vater fuchtelt wie ein Dirigent mit ihrer neuesten Errungenschaft in der Luft herum. Seine mahnenden Worte ergießen sich wie eine eisige Dusche über ihr Haupt. 

In der Küche klappert und klirrt es. Ein aromatischer Duft gebratenen Fleisches und gerösteter Zwiebel kitzelt ihre Nase und durchschneidet die „dicke Luft“.

„Jetzt reg dich doch nicht so auf, Papa!“

„Alia, kommst du bitte den Tisch decken!“, ertönt es aus der Küche.

Das junge Mädchen zuckt entschuldigend mit den Schultern und eilt ihrer Mutter zu Hilfe. Im Flur dreht sie sich noch einmal um, linst durch ihren Pony zu ihrem Vater hinüber. Sie beobachtet, wie er kopfschüttelnd ihr Eigentum in die oberste Schublade seines Schreibtisches verschwinden lässt. 

***

Ein Klopfen an der Zimmertüre reißt Alia aus ihren Gedanken. Sie schreckt hoch, klappt blitzschnell eines ihrer Schulbücher auf. 

„Alia, ich bin gleich weg. Onkel Ibrar wartet im Geschäft auf mich. Kommst du mit?“

„Ich habe noch für die Schule zu tun und möchte gerne hierbleiben“, flunkert Alia. 

Während sich unterhalb ihres Bauchnabels ein ungutes Gefühl ausbreitet, ziehen sich die Mundwinkel ihrer Mutter dem Ventilator an der Decke entgegen. 

‚So ein fleißiges Mädchen, meine Alia!‘

„Ich bin in zwei Stunden wieder da. Papa hat sich vor seinem Nachtdienst noch einmal hingelegt.“

Die Eingangstüre fällt ins Schloss. Alia kramt in der Schublade von Papas Schreibtisch nach ihrem Lippenstift und trägt die kirschrote Farbe locker auf ihre Lippen auf. Sie zwinkert ihrem Abbild im Spiegel zu, schnappt sich eine Sonnenbrille von der Kommode und schlüpft aus der Wohnung. Die Sonne sticht vom Himmel, wenige Wolken schweben dahinter am Horizont. 

Alia rollt über die Treppen zur U-Bahn-Station hinunter, lässt sich Schulter an Schulter mittreiben. 

In der Bahn sitzt sie inmitten von Menschen, die hektisch ihrem Alltag nachgehen. Sobald sie in eine Haltestelle einfährt, gleiten fremde Leute aus und in das Abteil. Alia reckt ihren Hals zur Türe. Ein blonder Schopf taucht vor ihr auf. Ihr Herz flattert wie eine Fahne im Wind. Es kribbelt unter der Haut, so als würden winzige Ameisen ihre Gänge darin graben. Mia lächelt ihr zu, küsst sie auf die Wange und plumpst auf den freien Platz am Fenster.

„Neuer Lippenstift?“, fragt Mia und lässt ihren Blick über Alias Gesicht schweifen. 

Alia nickt mit geröteten Wangen.

„Gestern heimlich gekauft! Aber mein Alter hat`s rausgefunden! „Lippenmagnet für Schurken“ nennt er das und hat ihn sofort an sich genommen, aber vergessen die Schublade zuzusperren!“ 

Alia grinst. 

„Anfänger! Mein Vater würde auch auszucken! Bei uns zu Hause gab es heute wieder Megastress.“

Alia sieht Mia von der Seite aus an. 

„Mein Alter checkt einfach nicht, dass ich ein Mädchen bin! Meine Mutter hat mir ein neues Kleid gekauft, eines mit Rüschen und Glitzer drauf. Voll hübsch. Und er ist total ausgeflippt. ‚Spinnst du jetzt, oder was?‘, fragte er meine Mutter, ‚Hilfst du dem Bengel jetzt auch noch ne` Tunte zu werden, oder was?‘ Total cringe!“

„Übelst peinlich“, bestätigt Alia. 

„Meine Mum dreht auch voll am Rad. Alles muss blitzsauber sein, sie räumt ständig hinter mir her. Früher in Damaskus, als sie noch Rechtsanwältin war, kümmerte sie sich nicht darum. Aber jetzt …“ 

An der nächsten Haltestelle leert sich die Linie. Nur am Ende des Abteils hält sich noch eine Person, unbeachtet von den Mädchen, auf. Alias Hände schwitzen. Die Bahn rattert und wird für eine Weile von der Dunkelheit eines langen Tunnels verschluckt. Das ist der Moment, auf den die zwei sehnsüchtig gewartet haben. Mia legt ihren Kopf auf Alias Schulter ab. Ihre Finger berühren sich zart, spielen Mikado und kreuzen sich. Mias Atem streift Alias Hals und schickt behagliche Blitze durch ihren Körper. Alia beugt sich vor, um Mia zu küssen. Ihre Lippen treffen aufeinander, ihre Zungen tanzen Twist. Mia tastet unbeholfen nach Alias Busen. Während die U-Bahn ihre eigenen Wege fährt, knistert es in der Stille der eigentümlichen Obhut des Untergrundes. 

Sie rattert in die nächste Station. Mia lugt nach draußen, zupft Alia am Ärmel. 

„Komm, wir müssen hier raus!“ 

Drei junge Typen drängen lautstark in das Abteil. Einer davon ist Deen, Alias Cousin. Mia ergreift instinktiv die Hand ihrer Freundin. 

„Na, wen haben wir denn da? Glucose-haltig, Digga!“, meint Deens Kumpel mit der Schildkappe. 

„Lass uns vorbei, du Lauch!“

Der Schildkappenmann verschränkt seine Arme vor der Brust, richtet sich breitbeinig vor ihnen auf. Deen und der Dritte im Bunde, ein molliger Geselle, ragen wie eine Wand hinter ihm auf.

„Und wenn schon. Ich habe heut noch nix vor, außer Sauftrag, Glückskind!“, sagt er und nimmt Mias Kinn in seine rechte Hand. 

Mia dreht ihren Kopf weg. Eine Angstlast dehnt sich in ihrem Innersten aus, lähmt ihren Geist und spannt sich über ihre Muskulatur. Er zieht sie zu sich heran, greift sie wie eine Grillzange das Fleisch und legt seinen Arm um sie. Der säuerliche Duft seines ungewaschenen Daseins lässt Mias Magen rebellieren. 

Die Hand des Dicken kneift indessen dreist in Alias Po. Sie zuckt zusammen und die Typen feixen.

„Eh, Schabernack! Darfst nachher mein Alimentenkabel checken!“, meint der Grapscher und greift in seinen Schritt.

Alia erwacht aus ihrer Angststarre.

„Deen, pfeif sofort deine Bros zurück, oder…“

„Oder was, Alia? Erzählst du zu Hause, dass ich dir in der Bahn mit ner Tucke über den Weg gelaufen bin? Schlechte Idee!“

Alia verstummt, kickt spontan zwischen die Beine des Molligen. Er krümmt sich zusammen, Augäpfel treten hervor, Tränen laufen auf seine pausbackigen Wangen. 

„Du Luder, voll in den Sack!“, quetscht er zwischen den Zähnen hervor. 

Mia befreit sich aus den Fängen des Schildkappenmannes, nimmt Alias Hand und versucht sich an Deen vorbeizuschieben. 

„Jetzt seid ihr fällig!“, sagt er triumphierend und versperrt ihnen neuerlich den Weg.

Ein grauer Stock saust wie aus dem Nichts von hinten auf Deens Schulter nieder.

„He!“

Er dreht sich kampfbereit um und fällt in sich zusammen wie ein Soufflé, das zu früh aus dem Ofen genommen wurde. Alias Mund klappt auf.

„Oma? Was machst du hier?“

Omas Augen funkeln. 

„Entschuldige dich sofort, Deen!“

Ihre raue Stimme dringt scharf in Deens Bewusstsein.

„Sorry“, murmelt er mit hochrotem Kopf vor sich hin. 

Die U-Bahn stoppt, der Dicke und der Schildkappenmann eilen, ohne sich zu verabschieden, hinaus. Deen trägt Omas Einkaufstaschen und trottet hinter Alia und Mia her. 

Eine bedrückende Stille legt sich über die kleine Truppe. Deen wirkt, als wäre ihm die Ehre genommen worden und in Alias Brust sticht es. Sie hat keine Lust auf den Stress, der gleich auf sie zukommen wird.

Zu Hause bei Oma sitzen sie in der behaglichen Küche und trinken Tee. Die alte Frau verliert kein Wort über das Geschehene. Sie greift nach dem Handy.

„Adil, mein Sohn. Alia ist bei mir, ich habe sie gebeten für mich einkaufen zu gehen.“

Alia sieht ihre Oma verwundert an. 

„Kannst du vor deinem Dienst bei mir vorbeikommen. Ich muss mit dir reden!“

Oma legt auf, zwinkert ihrer Enkelin zu und sagt: „Lass mich nur machen, Kind! Und jetzt geh nach Hause.“

Deen erhebt sich erleichtert vom Tisch.

„Du nicht! Adil wird dir gleich eine Lektion, wie man sich als Mann Frauen gegenüber verhält, geben!“

Deen lässt sich seufzend auf den Stuhl zurück plumpsen während Alia und Mia sich mit einem süffisanten Grinsen verabschieden. 

Zweite Version (7761 Zeichen)

 

cringe = englisches Wort, das übersetzt soviel wie „zusammenzucken“ oder „erschaudern“ bedeutet, im heutigen deutschen Sprachgebrauch der Jugend für „fremdschämen“ verwendet.

Digga = Freund, Bruder

Lauch = Schimpfwort, vergleichbar mit Bohnenstange

Sauftrag = das Vorhaben sich zu besaufen.

Schabernack = als Bestätigung für „Ist doch nur ein Witz“

Alimentenkabel = Penis