Von Peter Burkhard

Zürich, im April 1958

Mein lieber Cédric

Seit Mittag giesst es in Strömen. Unsicher und ruhelos streift mein Blick über die schimmernden Dächer der Altstadt und verliert sich im launischen Regengrau des Himmels. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn ich trage mich mit bösen Gedanken, die in mir wuchern, aber viel schlimmer noch: Ich vermisse Dich!

Welch ein Segen, dass wir noch brieflich miteinander verbunden sind und uns über die Dinge austauschen können, welche unser Gemüt bewegen und über die sich vortrefflich debattieren lässt. Bevor ich aber meinem Ärger freien Lauf lasse, möchte ich Dir kurz von einer Erkenntnis berichten, die mich unlängst ereilt hat.
Meine Wahrnehmung mag Dir seltsam erscheinen oder unerheblich, ich erachte sie allemal als bedenkenswert. Es geht um einen simplen Rotwein aus dem Südtirol, den ich aus Nachsicht nicht genauer bezeichnen möchte. Ein, zwei Glas dieses rubinroten Tropfens in den Höhen der Schweizer Bergwelt und mit Musse genehmigt, passen hervorragend zu Alpkäse, Bündner Trockenfleisch und Roggenbrot. Du kennst sie bestimmt, solche Genussmomente, die man festhalten möchte, oder täusche ich mich diesbezüglich?
Zu Hause hingegen, in den Niederungen unserer heimischen Gefilde lässt sich der gleiche Rebensaft – nicht etwa als Opfer eines muffigen Korkens – nur ernüchtert wegschütten. Es muss also am hehren Ambiente der Alpen liegen oder an der Reinheit der Höhenluft, welche diesem Wein etwas Liebliches, Gehaltvolles verleihen, anders kann ich es mir nicht erklären.
Ein ähnliches Phänomen, der Vergleich ist zwar etwas weit hergeholt, erlebe ich heute Nachmittag mit des verehrten kubanischen Sängers Benny Moré unvergleichlicher Liebesschnulze Corazón Rebelde. Noch ist es keine sechsunddreissig Stunden her, als der kubanische Taxifahrer und ich auf der Fahrt zum Flughafen, wobei Flughafen für Havanna leicht übertrieben ist, überschwänglich mitgeträllert haben. Doch kaum bin ich zurück in den eigenen vier Wänden, hat die gleiche Melodie bereits an Kraft ihres Reizes verloren. Wie kommt es?
Ist es wie beim Trinken des erwähnten Rotweins einzig das Zusammenwirken von lokalem Ambiente und melancholisch verklärtem Glücksempfinden, welches meine Gefühlswelt aus dem Gleichgewicht geraten lässt? Auf jeden Fall sitze ich jetzt auf meinem Drehstuhl, vor mir der begonnene Brief und eben noch wollte ich mir auf 78 Touren etwas kubanisches Flair in mein Arbeitszimmer holen. Leider Gottes hat es nicht funktioniert, denn irritierenderweise gehen mir diese karibischen Rhythmen zurzeit nur auf den Geist.

Du hast es sicherlich bemerkt, lieber Freund, ich bin vom Hundertsten ins Tausendste gekommen. Das passiert mir immer dann, wenn ich derlei Gedanken zu Papier bringe, die handstreichartig ihre eigenen Wege fahren. Ich weiss, dass Du jetzt die Stirn runzelst und mir hoffentlich dennoch verzeihen wirst, da Du meine Schwächen kennst.
Es mag sein, dass ich deshalb noch nicht zum Wesentlichen gelangt bin, weil ich befürchte, ausfällig zu werden. Denn der wahre Grund für mein jetziges Unbehagen, mehr noch für meine Verzweiflung, liegt nicht im Entferntesten bei entwurzelter kubanischer Musik. Es ist vielmehr ein Auftrag, eine Obliegenheit, gepaart mit meiner Ungeduld, die mir zu schaffen machen.
Warum nur habe ich das verhängnisvolle Schreiben geöffnet? Hätte ich das Lesen der ferienhalber aufgelaufenen Briefpost auf morgen verschoben, dann wär ich jetzt besser dran. Nichtsdestotrotz, selbst sachlich betrachtet, komme ich zum Schluss, dass ER es ist, der meine momentane Drangsal zu verantworten hat. Ich bin überzeugt, dass er sich deswegen sogar in seinem zweifelhaften Dünkel suhlt. Nur schon seine Idee lässt mich schaudern und erst recht der plumpe Versuch, uns dieses Thema schriftlich und aus sicherer Distanz schmackhaft zu machen. Cédric, Du weisst, dass ich keine Herausforderungen scheue. Aber das, womit ich mich jetzt konfrontiert sehe, entspringt einfach nur bösem Willen und erweckt in mir ein Gefühl, das ich nicht benennen kann.
Ich hocke hier auf fünfundvierzig mal fünfundvierzig Zentimetern gepolstertem Holz, alleingelassen, entnervt und dazu gedrängt, diesen Auftrag zu erfüllen. Stattdessen schaue ich aus dem Fenster und schreibe Dir Hilfe suchend diese Zeilen.
Noch nie hat mich das Blütenweiss eines leeren Blattes Papier derart provoziert: „Komm schon, schreib was, du Narr! Und hör auf dich zu bemitleiden, schliesslich hast du dich selbst in diese Situation gebracht.“
Hab ich das? Nun gut, wenn ich der Sache tiefer auf den Grund gehe, dann trifft es zu. Ich hätte sie ja nicht zu heiraten brauchen.
„Unternimm etwas und lass dich nicht hängen“, das waren Almas Worte, kaum dass ich der Arbeitswelt entflohen war. „Sammle Briefmarken oder züchte Pilze – welch simples Ansinnen – oder besser noch mach mit bei einem Schreibkurs für Menschen, die zum Vergnügen schreiben, aber tu was!“
Vertrauensselig habe ich ihren Rat befolgt, wie schon so oft und darum sitze ich jetzt hier, beschimpfe kleinmütig den Verursacher meiner Misere und trage mich mit Mordgedanken. Kurzfristig wäre es das Wirkungsvollste, ihn aus dem Weg zu räumen und mit ihm das Problem. Nur fehlt mir dazu einerseits der Mut und andererseits ist der Kerl unerreichbar weit weg.

Es wäre verfehlt zu behaupten, dass ich beim Wälzen obiger Gedanken einen Schritt weiter gekommen sei. Noch immer fordert mich die gähnende Leere des Papiers heraus und das Objekt des Themas rattert in seinem ureigenen Takt pausenlos durch mein Gehirn, egal wo ich es geografisch verorte. Es ist doch so, lieber Freund, ob in London, Buenos Aires oder Hamburg: U-Bahn bleibt U-Bahn und lärmen tun sie alle gleich, auch wenn einige etwas anderes behaupten mögen. Wie liebe ich es, dieses Gedröhne der einfahrenden Ungetüme, wenn sie scheinbar widerstandslos und krachend aus dem Dunkel der Röhre hervorbrechen. Es hat mich immer schon fasziniert bis heute, bis jetzt. Doch nun droht mir das alles verloren zu gehen!
Nicht minder fesselt mich jeweils das Quietschen der Bremsen, das zischende Öffnen der Türen, aus denen sich die Massen ergiessen und dann dieses ruckende Anfahrgeräusch der Züge. Als einer vom Land sind diese Eindrücke für mich alles andere als alltäglich, im Gegenteil, sie verheissen Grossstadt, Fremde, Rummel, Erwartung. Selbst die kühle, dreckigstaubige Luft tief unter der Erdoberfläche, der Geruch der malträtierten Schienen und der steife Wind, der den Zügen vorauseilt, gehören für mich unabdingbar zu einer U-Bahn wie das Amen in der Kirche.
Damit soll es nun vorbei sein?
Es steht zu befürchten, denn all die schönen Reminiszenzen verdirbt er mir, der Kursleiter mit seinem geradezu grotesken Thema. Er verhunzt sie nachgerade, beschädigt die vielen haften gebliebenen Erinnerungen an die U-Bahnen in aller Welt und lässt mich zukünftig nur schon den Gedanken an ein Fortkommen unter dem Boden verdrängen.

Aus diesen Gründen – ich wünsche es mir als klaren Protest verstanden – beschliesse ich hier und jetzt, mich der gestellten Aufgabe zu verweigern. Kein Wort werde ich schreiben über eine U-Bahn, die eigene Wege fährt, keinen weiteren Gedanken verschwenden an ein solch absurdes Ansinnen. Die Kündigung des Schreibkurses dagegen, das kann ich Dir versichern, mein lieber Freund, die liegt so gut wie bereit.

Nach dem Verfassen dieser Zeilen fühle ich mich merklich befreiter. Ich hoffe darauf, dass Du mir zumindest gedanklich zur Seite stehen wirst, wenn Du diesen Brief zu Ende gelesen hast.

In tiefer, fortwährender Verbundenheit.
Dein Albert

 

V2 / 7541 Zeichen