Von Clara Sinn

Sie wischte die Tränen ab.

Diese Frau aus dem Seminar hatte ihr spontan ihr Parfüm vererbt. Cartier. „Von dir hätte ich gerne mehr gehört.“ An Beiträgen. In der Diskussion. „Was für ein selten geiler Duft!“, hatte sie geäußert. Gleich am ersten Tag.

Wann hatte ihr jemand etwas geschenkt? Jemand je Wertschätzung bezeigt? Jemand jemals Liebe? Wie es sich richtig anfühlte.

Sie klappte den Schminkspiegel weg zur Seite.

Sah ein überbehütet glückliches Kind.
Nicht falsch.

Ein großer Garten, prächtige Nuss- und Mirabellenbäume, eine sich aufopfernde Mutter. „Damit du alles haben kannst.“ Am besten einen Zahnarzt.

„Wenn du nicht mehr mit zur Kirche willst, komm ich auch nicht zu eurer Aufführung.“ Da war ihr Vater wertetreu. Sie 13.
„Wenn du dies Jahr mit uns nach Österreich mitkommst, kriegst du das Geld.“ Da war ihre Mutter entscheidungsstark. Sie 16.
Ihr Traum war nicht unter 400 Euro zu haben. Die rasantesten Overknees der Welt. Aus tief, tief dunkellila Wildleder. Fast wie schwarz.

Sie fühlte sich weiter wie verstört.

Sah ein lieblos abgespeistes Kind.
Richtig.

Eine narzisstische Glucke, die auf den ersten Preis abzielte in Punkto „gute Mutter“. Immer „nur das Beste“ gewollt hatte. Gott sei ihr Zeuge.
Ein pharisäischer Ernährer, der für gutes Versorgtsein hienieden nur Hohn übrig ließ. Dessen Götze „die Auferstehung“, „das ewige Leben“, „das Paradies“ war. Das im Jenseits.

Sie spürte immer noch diesen Kloß im Hals.

Widmete sich ganz dem Kloß. Diesem Unbeweinten. Von allen nur herumgestoßenen Kind. Wie es grad passte. Von den zerzankten Eltern. Die mehr Eigenpartei waren als Elternpaar. Als Liebende. Ihrer Brut.

Ließ sich auf diese Kleine, die da so litt, ganz ein. Die brav einen Mann geheiratet hatte, wie sie Liebe kennen gelernt hatte. Versorgt, erpresst.

Als sich ihr aus schwer bedecktem Himmel plötzlich alles erhellte. Sie dieser niederstreckende Blitz traf.
Alles nicht unwahr.

Und doch …

Warum hast DU dies Kind im Stich gelassen?
So lange.

Mama und Papa mochten unbestreitbar Loyalität der Liebe vorziehen. Berührende Liebe. Nichtmal kennen.
SIE wusste, wie Liebe geht. Und hatte sie sich all die Jahre vorenthalten. Mitgemacht im Götzenchor. War jetzt 37.

Drehte sich um zum großen Spiegel gegenüber.

Sah dieses blasse, nackte, sterbende Kind. Konnte vor Liebe gar nicht mehr aufhören zu weinen.

Wie einst auf der Berghütte. Als alle diese einzige, schreckliche Wurst aufs Brot bekamen und sie von der Hüttenwirtin Käse. Nur, weil sie keine Wurst aß. Wie damals in Genua. Als ihr die Prüferin im Examen fünf Fehlerpunkte mehr einräumte. Bloß wegen des Sprachhandicaps.

Sie zählte. Mit Betonung auf sie. In ihrer Art. Würdig. Wie sie war. Dass eine für sie einstand.
Wahr.

Sie hatte seit über 20, 15 Jahren nicht eingestanden für das, was ihr Liebe war.
Wahrer.

Folgte dem Weg des Kloßes in die Tiefe dieses dunklen, eisigen Grabes zu ihrem nackten, dem Verenden preisgegebenen Kind.

Musste an diese Straßen-Wahrsagerin denken: „Warum du so traurig?“

„Ich habe dich“, sagte sie diesem in ihren Armen gerade verstorbenen Wesen, „nicht gesehen“. Vorher.

Aber jetzt. War sie stolz. Auf diese Kleine. Mein geliebtes Kind. Verlassen, verlöscht, egal. Ein Kind, auf das sie unumwunden stolz war. Mir darfst du egal wie sein, verletzt, tot, ganz egal. Und sie spürte dieses grenzenlose kosmische Ja, dieses unendlich wohlige Wohlwollende der Wärme der Liebe. Dies eben Auferstandene in ihr. Dieses vitale, heilige, strahlende Kind.

Und sie begriff, dass es nicht darum ging, alles richtig zu machen, sondern sich ein torheitsverschrieenes Gefühl zu erlauben. Und dass Götter ewig leben von selbst konnten, nur von freien, fehlerhaften Eigengeschöpfen geliebt werden nicht. 

Verstand, was ihr spinnerter Vater mit Auferstehung ansprach, was er gar nicht wusste, aber sie. Jetzt. Verstand, was ihre ehrgeizige Mutter geschafft hatte, ihr einzupflanzen, ebenfalls ohne, dass sie es so gemeint hätte, dies nur Beste, Größte. Das sie endlich gefunden hatte. Hier.

Die beste Ausgabe ihrer selbst. Als Frau.

Eine tief Verwundete. Mit diesem Loch. Im Herzen. In dem sich ein überaus Fürsorge bedürftiges göttliches Wesen

sauwohl fühlte.

Und sie wusste mit einem Mal, wessen es bedurfte, damit sich die offene Wunde nie wieder schloss. Damit dieses unschuldige weibliche Wesen in ihr

immer atmen konnte.

 

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