Von Maria Lehner

(18:05)

Tine (eigentlich heißt sie Christine Morawek) ist da. Ein Kunstprojekt wird vorgestellt, Tine gilt als Institution. In ihrer Kolumne in der Zeitung – sie schreibt nur für diese eine – textet sie mit scharfer Klinge. Mit einem einzigen Satz kann sie Schein-Thesen enttarnen, Lügengebäude zum Einsturz bringen, Halbwahrheiten hinweglachen oder Fake-News durchschauen. Solche Nachrichten bekommt sie immer wieder. Warum sie als Expertin gilt? Ganz einfach: Sie checkt Fakten, erkennt Argumentationsmuster der Schwurbler, sichtet Leerstellen und Knotenpunkte in Beweisketten, vergleicht sie mit der Machart historischer Fake News. Doch was tut sie hier? Wird sie etwa über die Ausstellung schreiben?

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(18:20)

Ah, sagt jemand, wegen ihres Neffen ist sie da: er hat die Fotos gemacht, die ausgestellt werden. Tine bleibt vor einem der Bilder der Ausstellung stehen: „Lost Place, Lobau“. Immer noch findet man in dieser verwundeten Landschaft Reste aufgelassener Industrieruinen oder Verwaltungsgebäude, die vor sich hindämmern. Sie sieht das Bild, an dem der Schriftzug „AFI“ noch deutlich hervortritt. Zerbröckelnde Gebäudeteile, aber das Firmenschild intakt: „AFI“ murmelt sie konzentriert, als wäre sie eine Erstklässerin und entdecke gerade die Buchstaben.

Tine wird von ihrem Neffen befragt, ob es ein Bild gebe, das ihr besonders gefalle. Sie zeigt tatsächlich auf den „AFI“-Schriftzug. „Ja. Der Verein…“, sagt sie nachdenklich; während des Studiums habe sie dort gearbeitet. Nach einiger Zeit sei aber im Vereinsregister die Auflösung eingetragen worden. So habe sie wenigstens Anlass und Zeit gehabt, ihr Studium ernsthaft fortzusetzen. Ihr Neffe nickt interessiert, dann wird er fortgezogen. Tine bleibt noch kurz stehen und geht nachdenklich heim.

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(20:30 bis 23:50)

Tine kramt. Im Abstellraum in einer Plastikbox ganz unten neben Studienunterlagen und Zeugnissen sowie alten Mitschriften findet sie das Arbeitszeugnis: „Frl. Christine Morawek war vom 1. März 1979 bis zum 30. September 1981 bei AFI, e.V., tätig. Ihre Aufgabe in der Poststelle hat sie größtenteils zur Zufriedenheit erfüllt. Wir wünschen ihr für die weitere Laufbahn alles Gute. Für den Verein…(unleserlich), Wien, 30. September 1981“. Das Zeugnis ist unbrauchbar wegen des „größtenteils“, sie ärgert sich noch heute darüber. Kleinlich ist so was. Wegen der paar Male…

Tine erinnert sich, wie alles begonnen hatte: Mit der Frage des Professors, ob sie Zeit und Lust habe, in seinem Verein mitzuarbeiten; ordnungsgemäß angemeldet für 20 Stunden in der Woche. Sortieren und Verteilen von Poststücken. Diskretion Voraussetzung.

Tine nimmt die Durchschrift eines Schriftstücks aus der Mappe. Auf dünnem Papier hatte man damals mit zwischengelegtem Kohlepapier eine Zweitschrift angefertigt: „Verschwiegenheitsverpflichtung“. Das Original lag – so lang AFI bestand – von ihr unterzeichnet im Tresor. Sie liest: „Sämtliche Bedienstete der AFI verpflichten sich, über Wahrnehmungen aus dem Dienstvollzug ausnahmslos, überall und jederzeit zu schweigen“. Das hatte sie bis heute immer so gehalten. Es hatte auch nie jemand gefragt. Am Seitenende war noch der Stempel: „AFI. Agentur für Information“. Das war der offizielle Name. In Wirklichkeit hätte es eigentlich heißen müssen: „Agentur für Informationselastizität. Produktion, Transformation, Falsifikation, Distribution von Halbwahrheiten sowie Unwahrheiten erster und zweiter Ordnung“.

Tine holt ihr altes Tagebuch: „3. März 1979: Es ist so langweilig. Post sortieren. Ankommende und ausgehende. Eingehende Bestellungen den entsprechenden Abteilungen übergeben und fertige Aufträge, die an die Kunden ergehen, kuvertieren. Aber ich bin jetzt krankenversichert“.

Dann ein Eintrag vom 28. März: „Die Aufträge klingen interessant. Ich würde dort gern mehr tun, als bloß Kuverts zu entleeren oder zu befüllen“.

Tine blättert weiter: „10. September 1979: „So jetzt ist der Sommer vorbei. Ich bin schon ein halbes Jahr hier. Es war spannend. Ich durfte N. während des Sommers bei einer Auftragsarbeit über die Schulter schauen (war natürlich verboten, aber…). Viel gelernt!“

Zum Eintrag gibt es ein Postskriptum: „Der Auftraggeber ist ein erfolgreicher Unternehmer, der in seiner Schullaufbahn an Latein gescheitert ist. Er bestellt eine Geschichtsfälschung, nämlich dass wir in Mitteleuropa eher von den Kelten abstammen und die Römer uns – auch sprachlich – unterdrückt und uns ihren kulturellen Stempel aufgedrückt haben, dass anstelle von Latein daher anderes gelehrt werden solle. Interessant. Der Auftraggeber ist als Finanzier mächtiger, als der Verband der Lateinlehrer.“

Tine hat im November des Jahres geschrieben: „Kann das gut brauchen für das Seminar über Immanuel Kant. Ist genau wie er sagt, nämlich dass der Mensch unmündig ist und nicht vermag, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Finde, wir machen hier wichtige Arbeit, um das zu beweisen“.

Dann sind wir schon wieder im März: „Ein Jahr bin ich da! Immer noch nur Post. Kann aber schon sehr viel. Sie lassen mich nicht.“

Der letzte Eintrag erfolgt ziemlich genau ein Jahr später: „Ich habe eine verwegene Idee. Das wird ein Spaß…“.

Tine lächelt, als ihr einfällt, was für ein Gefühl es war, als sie das erste Mal einen vorgesehenen Antwortbrief nicht ins Kuvert steckte, sondern die Antwort ins Gegenteil verkehrte und damit nicht wie bestellt eine elastifizierte Wahrheit lieferte, sondern eine Original-Wahrheit. Es gab einen Eklat in einem Konzern. Das sprengte den gesamten Vorstand. Kurz darauf ein anderer Skandal: Machenschaften in Zusammenhang mit dem Einsturz einer Autobahnbrücke wurden öffentlich gemacht. Alle waren sie AFI-Kunden. Der Verein überlebte das nicht. Von AFI blieb nur der Schriftzug, so solide angebracht und aus so widerstandsfähigem Material, dass er nicht verrottete.

Tine zieht eine Studienurkunde hervor. Der Titel der Abschlussarbeit ist darauf zitiert: „Der Mensch am Ende des Zeitalters der Aufklärung“.  Später wurde die Arbeit gedruckt. Daraufhin ist sie dem Leiter des Ressorts „Meinung“ einer Tageszeitung aufgefallen. „TiMor“ ist in der Redaktion bis heute tätig. Als Fake-News-Aufdeckerin ist sie gefürchtet. Sie erkennt das gesamte Muster – auch wenn es noch so komplex ist und sie nur einen Ausschnitt davon sieht. Nächsten Monat geht sie in den Ruhestand.

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(Zwei Tage nach der Vernissage, 7:45)

Tine hat es getan. In der Kolumne heißt es: „Drunt in der Lobau. Expedition zum Quell der Unwahrheit. TiMor“. Jetzt hat sie entgegen ihrer Verschwiegenheitsverpflichtung gehandelt. Sie schreibt über AFI unter Anderem „Wer alternative Fakten schafft, hat ein steuerndes Interesse; wer sie verbreitet, wird zur eingeweihten Person, die den Überblick hat. Das war in der Antike so, kennzeichnete das AFI-Geschäftsmodell und funktioniert auch heute noch zuverlässig“.

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(Ein paar Monate später)

Tine hat sich zurückgezogen. Ab und zu geistert sie durch Social Media. Bei den Fake-Busters oder bei Mimikama finden wir Textstellen, die durchaus von ihr sein könnten. Und als krönenden Abschluss ihrer Berufslaufbahn, hat sie nach allen Regeln der Kunst selbst alternative Fakten konstruiert und verbreitet: „Die Bierverschwörung“. Von einigen wenigen Oktoberfestbesuchern ausgehend bewegt sich (sehr rasch und natürlich bezogen auf den Ursprung meisterhaft verschleiert) die Geschichte von der Bierverschwörung durch die ganze Welt: Plötzlich fanden sich Facebook- und Twitterpostings: Menschen – Frauen ebenso wie Männer – berichteten, was Ihnen widerfahren war: Sie wurden (vermutlich war das in den großen Bierlokalen auf dem Münchner Oktoberfest geschehen) in den Toiletten durch Lichtschranken an sehr intimen Stellen mit Strichcodes versehen. Die sind unsichtbar und unabwaschbar. Es heißt, diese Personen gelten seitdem als Trans-Menschen, die übergehen in den Besitz des Pharmakartells, das – für ein neues Blasenmedikament – mit diesen Messungen die Häufigkeit und Ergiebigkeit der Blasenentleerung nach Bierkonsum auslesen kann. Was für ein Eingriff in die Intimsphäre! Die Toilettenanlagen werden untersucht – man findet nichts. Aber im kurzen Zeitraum von zwei Tagen ist ziemlicher Schaden durch den Einbruch des Bierkonsums entstanden. Wieder einmal. Und so schnell wie das Gerücht gewachsen ist, ist es auch schon wieder verschwunden. Tine wird gebeten, der Urheberschaft auf den Grund zu gehen. Müde winkt sie ab: „Ich darf auch einmal im Ruhestand sein, oder?“

Tine gibt aber keine Ruhe. Sie ist da, liest, lacht, und handelt, indem sie die Muster aufmerksam betrachtet und immer öfter auch selbst konstruiert. Ihr Blick fällt auf das Bild, das ihr Neffe ihr geschenkt hatte: „Lost Place, Lobau“. Das mit dem AFI-Schriftzug. Sie spiegelt sich darin. „Prost, Tine!“ sagt sie, denn sie genehmigt sich schon um elf Uhr vormittags ein Bier. Das erinnert sie an das Oktoberfest und die angenehme Atmosphäre in den beinahe leeren Hallen damals.

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