Von Andreas Roß

„Die Welt ist verrückt und ich bin ihr Erschaffer.“ 

Der Mann, der diese Worte ausspricht, seufzt tief, schlägt sich die flache Hand patschend vor die Stirn und stöhnt: „Ich hab`s total verbockt!“

„Ich weiß, denn ich bin mit allem Wissen verbunden“, haucht Siris liebliche Stimme. 

Einstein sagt nichts und nickt.

„Wie konnte das passieren?“, fragt Gott, „ich war doch nur ein paar Wochen fort.“

„Was ist schon Zeit?“, grummelt Albert vor sich hin.

„Eine Illusion“, antwortet Siri ungefragt.

„Ja, die Zeit wird maßlos überbewertet“, erwidert Albert.

„Ach Einstein, wie wahr Deine Worte sind. Sie bringen uns aber nicht weiter. Ich muss handeln“, sagt Gott und tätschelt nervös der Braunhaarigen, die ihm zu Füßen liegt, den Kopf. 

Ein Sonnenstrahl durchdringt das quadratische, weit oben angebrachte Fenster und wirft ein Schattenkreuz auf den eintönig grauen Betonboden. Der Raum ist klein, die Wände weiß getüncht, keine Bilder. Ein altes Holzkruzifix liegt blutverschmiert auf dem kleinen Tisch, an dem die drei Gestalten sitzen. Wasser tropft in das ovale Waschbecken. Die Tür gegenüber dem eisernen Stockbett steht offen. 

Gott tätschelt und denkt laut: „Momentan verfolgt die Menschheit einen Plan, der ist aber keineswegs göttlich. Wenn ich nur wüsste, welchen?“ Er erhebt sich und breitet seine Arme aus. Der weite weiße Kittel umweht seinen drahtigen Körper.

Siri erwidert: „Deine Frage war, welchen Plan verfolgt die Menschheit? Überall und immer wieder erscheint die Zahl 23 und mit ihr die Quersumme 5. Die 23 ist die Zahl der mystischen Illuminaten. Diese Gruppierung sucht die Kontrolle über Alles und Jeden und strebt allumfassende Macht an.“

„Bist du dir da sicher“, fragt Einstein.

„Ja, die deutsche Verfassung wurde am 23.05.1949 unterzeichnet. Siehst du die 23 und die fünf, als Quersumme? Und dann beträgt die Quersumme von 1949 ebenfalls die 23. Der Anschlag auf das World Trade Center geschah am 11.9.2001, 11+9+2+1 ergibt 23. Und dann noch das amerikanische Verteidigungsministerium. Es ist in Form eines Pentagons, also mit fünf Ecken gebaut. Außerdem ist 2 geteilt durch 3 gleich 0,666 und die 666 ist die Zahl des Satans.“ 

„In der Tat“, stimmt Albert Siri zu: „Wusstet ihr, dass die 23 die erste Primzahl ist, die aus zwei Primzahlen, nämlich der 2 und der 3 zusammengesetzt ist und diese beiden addiert die 5 ergeben, also die nächste Primzahl?“ 

Gott lässt die Arme sinken, so als wäre alle Kraft aus ihnen herausgeflossen. „Tja, die Menschheit hat nicht erfüllt, was wir von ihr erwartet haben. Vielleicht haben wir ihr zu viel freien Willen zugemutet. 

„In dieser Beziehung hast Du tatsächlich versagt“, stänkert Einstein und hebt den Zeigefinger: „Die Menschheit sollte doch die Krone der Schöpfung sein.“

„Moment“, ereifert sich Gott, „ich habe niemals von der Krone der Schöpfung gesprochen. Das haben Menschen erfunden und als Wahrheit verbreitet. Es gibt so viele vermeintliche Wahrheiten, die nur dazu dienen, dass ein paar Auserwählte Macht haben. Das war niemals mein Plan. Damit habe ich nichts zu tun. Diese verdammte 23, diese verdammten Illuminaten, Freimaurer und Bilderberger oder wie sie sich auch immer nennen mögen. Sie haben die Welt mit ihrem Plan belegt, ein Plan, der die Menschheit versklavt.“

„Okay, okay“, rudert Einstein zurück. „Du hast Recht, lass uns lieber in die Zukunft schauen, als immer wieder im Sumpf der Vergangenheit festzukleben.“ 

Gott nickt heftig und erhebt erneut beide Arme, als wolle er segnen. Er bildet mit seiner Rechten eine Faust. Er bemerkt, dass etwas an seiner Haut haftet.

„Blut klebt an deiner Hand“, schreit Siri und schreckt zurück. „Wie es auf vielen Seiten des Netzes geschrieben steht, ist das fünfte Dein wichtigstes Gebot!“

„Warum sollte eines meiner Gebote hervorgehoben werden?“, fragt Gott.

„So beschreiben es Theologen im Netz“, antwortet Siri. 

„Ja, so ist das. Jeder will mitreden“, grunzt Gott genervt.

„Sag mal?“ Albert grinst verschmitzt. „Hat eure Dreieinigkeit denn Moses wirklich nur zehn Geboten mitgegeben oder sind ihm Teile der Steintafeln bei dem schwierigen Abstieg vom Berg Sinai zu Bruch gegangen?“ 

Gott steht stramm, hebt sein Kinn und verfällt in den Tonfall eines Predigers: „Tja, eigentlich waren es tatsächlich zwölf. Die Zwölf bevorzuge ich noch immer, nicht nur wegen meiner zwölf Jünger. Das Kreuz, das Symbol des Christentums, hat vier Enden. Die drei oberen stehen für die Gottheit und das untere, auf dem Boden stehende, symbolisiert den Menschen, also drei mal vier ergibt zwölf.“

„Jetzt nerve mich nicht mit der Numerologie. Ich bin neugierig. Wie heißen die letzten beide Gebote?“

„Du sollst Reichtum gerecht verteilen“ und  „Du sollst andere Kulturen und Lebenskonzepte achten und ehren.“

„Jetzt verstehe ich so einiges“, seufzt Albert und schaut nachdenklich zu Boden. „Aber, dennoch das wichtigste Gebot scheint mir auch das fünfte, obwohl es das meist gebrochene ist.“

„Wenn man gottgläubig konsequent sein würde, dürfte man nicht töten, also auch keine Tiere, und müsste auf das Fleischessen verzichten“, bemerkt Siri.

„Na ja, Vegetarismus schützt vor Gräueltaten nicht“, antwortet Albert.

„Wie meinst du das denn?“ fragt Siri schnippisch.

„Hitler war Vegetarier…“

„…. und liebte die Bombe, deren Grundlagen Du erforscht hast!“

„Er hat sie aber nicht von mir bekommen.“

„Dennoch bist Du der Vater der Bombe, die später dann unzählige Japaner tötete.

„Bin ich nicht!!“

„Bist du wohl!!“

„Ach Kinder, hört endlich auf mit diesem nutzlosen Streit. Wir müssen Prioritäten setzen. Die Welt muss gerettet werden.“

Einstein kratzt sich am Kinn: „Will die Welt überhaupt gerettet werden. Du hast doch der Menschheit den freien Willen gegeben und eine gehörige Portion Intelligenz obendrein. 

Siri, wann wird die Welt untergehen?“

„Nachdem du gehört hast: Feuere sie ab!“

„Na prima, Siri, ich glaube, Du hast Angst vor einem Atomkrieg“, bemerkt Gott.

„Mann, das nervt“, echauffiert sich Einstein. „Immer wieder kommt ihr auf diese verdammte Bombe zu sprechen. Ich bin nicht der Vater dieser Bombe. Ich habe sie nicht entwickelt.“

“Das ist falsch“, antwortet Siri. „Ich kann für Dich im Netz nachschauen.“

Einstein wird laut: „Dieses gottverdammte Internet. Das ist der Kern des Bösen. Es steht für die Weltverschwörung. Wir sind heute schon Abhängige davon und hängen am Netz wie an einem Tropf. Durch das Internet werden wir gelenkt und geleitet, Wahrheiten werden manipuliert und wir bekommen das als wahr vorgegaukelt, was einigen wenigen Mächtigen in den Plan spielt.“

„Ach hör doch auf“, schreit Siri schrill „das Internet ist die Quelle aller Weisheit! Dort findet jeder alles. Somit gilt nicht mehr: Wissen ist Macht, sondern jeder kann das Wissen der Menschheit abrufen. Das Netz unterstützt die Macht des Volkes. Es ist eine Grundlage der Demokratie und lockt den Freiheitsdrang aller. Es ist das Gegenteil von dem, was Du erzählst.“

 Einstein schüttelt den Kopf so heftig, dass seine grauen langen Haare nur so hin- und herfliegen. Kaum später sitzt er plötzlich still und zählt etwas an seinen Fingern ab. Ein Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht. Er schaut Siri direkt in die Augen. „Jetzt habe ich endlich den Beweis, dass das World Wide Web der Grund allen Übels ist. Alle Webseiten werden mit dem dreifachen W eingeleitet: Das W ist der dreiundzwanzigste Buchstabe des Alphabetes, also  wieder die Zahl der Illuminaten. Deutlicher kann ein Hinweis doch nicht sein. Das Internet ist das Werkzeug derjenigen, die die Welt nach ihrem teuflischen Plan gestalten und versklaven wollen. Ja, so ist es: Zerstört das Netz und ihr zerstört das Böse.“ Albert springt auf und gestikuliert wild mit beiden Armen. 

Siri springt ebenfalls auf und schreit: „Hör auf damit! Das Netz ist ein Segen. Früher verfügte nur ein kleiner Teil der Menschheit über Wissen. Heute kann jeder Mensch das gesamte Wissen nutzen.“

„Der Mensch, der Mensch“, krakeelt Einstein, „Was nutzt der Mensch? Nicht einmal 5 Prozent seiner geistigen Fähigkeiten und das Netz bloß für nutzlose Spiele oder, um sich mit virtuellen Mitteln in der realen Welt zurecht zu finden. Vor ein paar Jahren noch hat man nach dem Weg gefragt, wenn man sich nicht auskannte, man kam mit Menschen in Kontakt und hat sich ausgetauscht. Heute laufen die Menschen mit gesenktem Kopf durch die Gegend und starren auf ihre Handys. Dabei achten sie nicht auf ihre Umgebung. Sie stoßen mit ihrem Kopf gegen Laternenmasten oder taumeln auf stark befahrene Straßen und werden überfahren. Das ist doch pervers.“

„Verdammt großer Quatsch“, schreit Siri, „pervers ist es, das Neue und den Fortschritt zu verteufeln. Immerhin kommen immer mehr Menschen auf die Idee, nach draußen zu gehen und sich zu bewegen, Pokemon go sei Dank.“

„Genau das meine ich“, quäkt Einstein, „das Internet führt mit unendlichem Aufwand Menschen wieder dorthin, wo sie schon waren.“

„Jetzt hört endlich auf!“ Gott erhebt seine Stimme. „Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen und dafür brauche ich Euch nicht als Streithähne, sondern als Team. Siri, dich als Quelle des Wissens und Einstein, dich als jemanden, der das Wissen versteht und in Zusammenhänge einordnen kann. Wir, die drei Wissenden, müssen aktiv werden, das Ruder herumreißen und die Welt in humanistische Bahnen lenken.“

„Und was machen wir mit der erschlagenen Ärztin?“

„Geschehenes muss zurückgelassen werden. Wir können endlich unser Gefängnis verlassen, in dem uns die Unwissenden eingeschlossen haben. Also, lasst uns gehen“, bestimmt Gott.

„Lasst uns gehen“, wiederholt Siri, „Ich weiß, wie man das Netz manipuliert. Unserer Wahrheiten sollen wahr sein.“ Sie steigt über den Leichnam und verlässt den Raum

„Lasst uns gehen“, sagt Einstein. „Ich kann die Natur erklären. Die Natur soll uns zunutze sein.“ Er steigt über den Leichnam und verlässt den Raum. 

„Na dann“, sagt Gott, „lasst uns die Welt verbessern“. Ein letztes Mal tätschelt er den Kopf der mit dem Kruzifix erschlagenen Ärztin und folgt Siri und Einstein. 

 

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