Von Ursula Riedinger

Die erste Überraschung erwartete sie, als sie hinter dem topmodernen Bahnhofsgebäude die Grenzkontrolle erreichten. Ein riesiges Schild mit dem Wappen des Landes, einem Adler und einem Pfeilbogen auf rotem Grund, verhiess: Welcome to Tungusia. Im Gegensatz dazu erschienen ihnen die beiden Grenzbeamten, eine Frau und ein Mann in einer strengen kakifarbenen Uniform äusserst grimmig. Ohne ein Wort durchsuchten sie ihr gesamtes Gepäck. Sie fragten in einem sehr holprigen Englisch nach ihrem Minitablet, Mikrofon und den Speicherkarten, die Siam sorgfältig gepolstert in seinem Rucksack trug. Zum Glück waren all diese Dinge, die für sie zum Reisen unverzichtbar waren, auf dem für die Einreise erforderlichen, mehrseitigen Visum aufgeführt. Das Reisebüro hatte sich sehr ernsthaft mit den Visumsregeln des wieder zugänglichen Reiselandes Tungusien auseinandergesetzt. Nach einer halben Stunde waren sie durch.

„Fast wie die kalte Grenze, von der Opa Alois immer erzählt hat“, raunte Siam. Er erinnerte sich gut, was Opa Alois, der in der Nachkriegszeit geboren worden war und dessen Vater früh an einer Verletzung  aus dem Krieg gestorben war, seinem Enkel immer über die Grenze erzählte. Spannend war das gewesen, aber auch ein wenig unheimlich.

„Ich dachte, die wollen Touristen in ihrem Land.“ Nara war es gewesen, welche die Ausschreibung gesehen hatte. 

Besuche Tungusien, das Land öffnet seine Grenzen und lädt dich ein, die einzigartigen Naturschönheiten kennenzulernen. Du erhältst kostenlos eine persönliche Reiseführerin und Übersetzerin an deine Seite gestellt, die dir alle Sehenswürdigkeiten und kulturellen Gepflogenheiten näher bringt.

Diese Annonce hatte Nara und Siam gereizt. Sie, die schon fast überall gewesen waren, auch in politisch schwierigen oder sehr schwer zugänglichen Gebieten. Sie hatten an einem Yak-Trekking mit einem Schamanen in der Mongolei teilgenommen, sich von Nachfahren der Buschmänner durch die ausgetrocknete Kalahari führen lassen, Survival Training mit Aborigines erlebt, Nomadenleben in Kanadas Norden ausprobiert … 

Und dieses Land galt als äusserst sicher, keine korrupten Beamten, keine verarmte Bevölkerung, kein Overtourism. Dass eine Reiseleiterin sie begleiten würde erschien ihnen durchaus sinnvoll, denn die Landessprache war schwierig zu erlernen, die Zweitsprache Russisch beherrschten anscheinend nur sehr gebildete Schichten. Aber vielleicht würde es trotzdem mal von Nutzen sein, dass Nara ein wenig Russisch sprach.

Sie sahen sie gleich. Sie hielt ein kleines Schild mit „Welcome Nara + Siam“ in der Hand. Sie war jung, wohl erst Anfang 20, trug ein traditionelles, bunt besticktes Kleid, ihre blonden Zöpfe aufgesteckt. 

„Welcome to Tungusia, ich heisse Lelya.“ Ein verhaltenes Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Gehen wir an einen ruhigeren Ort, so dass ich Ihnen die Regeln erklären kann.“

‚Was für Regeln?‘ wunderte sich Nara. 

Die Grenze war ja nicht gerade überlaufen, aber schön war es hier tatsächlich nicht. 

Lelya führte sie in ein traditionelles Café, das sehr hübsch eingerichtet, aber beinahe leer war. Sie bestellte Tee und Gebäck, das sehr süss war. Siam mochte so etwas überhaupt nicht. 

Zuerst zeigte Lelya ihnen auf einer kleinen Karte, wo sie im Laufe der nächsten 6 Tage hinführen würde – ein längeres Visum war nicht möglich gewesen. Der Weg war mit Rot eingezeichnet. 

„Hier, die grosse Steinwüste, dann die frühere Tundra, wo jetzt wieder Bäume aufgeforstet werden, das Gebiet der Geysire, und zuletzt das Vulkangebiet rund um den Vulkan Popovki.„

„Und die Hauptstadt? Wir möchten doch auch Menschen kennenlernen.“

„Die grossen Schönheiten unseres Landes liegen in der Natur. Die Hauptstadt …, sie ist nicht so interessant für Touristen.“

Nara und Siam sahen sich verstohlen an. 

„Trinken Sie jetzt Ihren Tee, damit ich Ihnen die Regeln erklären kann.“

Damit holte Lelya ein dicht beschriebenes Dokument hervor und las es ihnen mit starrer Stimme vor.

  • Nicht mit den Einwohnern sprechen. Sie sind sehr schüchtern. Und sie sprechen nur Tungusisch.
  • Keine Geschenke von Einheimischen annehmen. Sie sind reich, die Bewohner im Vergleich arm.
  • Den Bewohnern keine Geschenke oder andere Dinge geben, die sie nicht kennen.
  • Sich nicht von den Orten entfernen, die wir zusammen besuchen. 
  • Nur Fotos machen, wo das erlaubt ist. Die Reiseleiterin wird darauf hinweisen. Vor allem keine Menschen fotografieren, das macht ihnen Angst.
  • Die Unterkunft abends nicht mehr verlassen, das wäre gefährlich.
  • Den Anweisungen der Reiseleiterin folgen.

„So, hier müssen Sie unterschreiben.“

Siam und Nara waren zu verwirrt, um zu protestieren und unterschrieben.

„Das diskutieren wir noch, wenn wir alleine sind,“ flüsterte Nara Siam auf Schweizerdeutsch zu.

„Bitte sprechen Sie Englisch!“ Lelya schien etwas aus dem Konzept gebracht.

‚Vielleicht sind wir ihre ersten Touristen …‘

Sie führte sie zu ihrer Pension, die traditionell eingerichtet war, aber ausser ihnen kaum Gäste zu haben schien. 

„Ruhen Sie sich aus, ich hole Sie in zwei Stunden zum Nachtessen ab.“

Sie richteten sich ein, legten sich etwas hin auf den engen Betten.

„Schau mal aus dem Fenster, ob uns jemand beobachtet.“

Nara spähte hinter dem dicken Vorhang vorsichtig nach draussen, wo es langsam dämmrig wurde.

„Du hast recht, da drüben steht glaub einer. Ich versteh das nicht, ich hab doch gelesen, dass das Land jetzt frei ist und alles besucht werden kann. Überwachung wie früher gibt es nicht mehr.“

Tungusien ist nach jahrelanger Diktatur zu einem freien und demokratischen Land geworden, wo die Kultur blüht, die Menschen sich entfalten können. Es öffnet seine Grenzen wieder für Touristen, um diese an den Schönheiten und Errungenschaften teilnehmen zu lassen. Die Begleitung einer Übersetzerin wird empfohlen, weil die Einheimischen noch keine Fremdsprachen beherrschen. Aber sie sind äusserst gastfreundlich und möchten ihr Land Besuchern gerne näher bringen.

„Na, lassen wir uns mal überraschen.“

Das Nachtessen verlief gut, Lelya erzählte lebhaft von ihrem Land, ein wenig auch von sich, während sie bemüht waren, den Hammelbraten, die Spezialität des Landes, serviert mit einen dicken, mit Milch angereicherten Getreidebrei, runterzukriegen. Beide assen schon seit Jahren kein Fleisch mehr, aber auf Reisen musste man Kompromisse eingehen, das war in der Kalahari und der Mongolei nicht anders gewesen.

Sie schliefen nicht besonders gut, aber machten sich mit etwas kaltem Wasser erfrischt pünktlich nach unten, wo ein kleines Frühstück aus Getreidebrei, einem Fruchtpüree und frischem Tee auf sie wartete. 

„Der Kaffee ist leider ausgegangen,“ meinte Lelya entschuldigend.

„Kein Problem, wir mögen den Tee hier sehr gerne.“

Lelya hatte draussen den jeepartigen Wagen abgestellt, mit dem sie unterwegs sein würden.

‚Mit so einem Wagen ist mein Vater noch gefahren, bevor sie verboten wurden,‘ ging es Nara durch den Kopf. 

Neugierig betrachteten sie die Landschaft, die kleinen Orte und die Menschen, die an ihnen vorbeiglitten. Die meisten sahen eher ärmlich aus. Sie schwiegen jedoch, um Lelya nicht zu erzürnen.

Bei einem Gebäude, das wie ein Supermarkt aussah, ausser dass auf dem Parkplatz nur wenige Autos standen, hielten sie an. 

„Warten Sie hier auf mich, ich gehe für uns einkaufen.“

Als sie weg war, meinte Nara: „Eigentlich möchte ich so einen Markt gerne sehen. Ist doch immer interessant.“

„Sie will uns aber offensichtlich nicht dabei haben.“

Nara öffnete die Wagentür und ging trotzdem rüber zum Eingang, wo sie durch die Scheibe ins Innere spähte.

Lelya ertappte sie, als sie aus dem Laden kam, und sah sie streng an.

„Was machen Sie hier? Ich habe doch gesagt, dass Sie warten sollten.“

„Ich habe bloss eine Toilette gesucht.“

„Das gibt es hier nicht.“

Lelya schien verstimmt, aber dann riss sie sich zusammen und erzählte ihnen die Geschichte ihres Landes. Sie erzählte vom tungusischen Volk, das im Einklang mit der Natur lebte, vom Fortschritt und dem Reichtum, die das Land dank seiner Bodenschätze errungen hatte. Über den früheren Diktator schwieg sie sich aus. 

„Es ist sicher eine grosse Erleichterung für Ihr Volk, dass das Land jetzt frei ist.“ Siam konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. 

Lelya nickte. „Natürlich.“

Ihre nächste Unterkunft war sehr einfach, wie ein Ferienheim für Schulklassen. 

„Wir sehen uns morgen früh im Esssaal. Wir müssen rechtzeitig aufbrechen, der Weg ins Gebiet der Geysire ist sehr weit.„

„Und, was hast du gesehen?“ platzte Siam heraus, als sie alleine waren.

„Es gab fast nichts da drinnen, ein halbleeres Gestell mit Brot und ein anderes mit Kohlköpfen. An der Wand ein Turm von gleichartigen Dosen. Mehr konnte ich nicht sehen, es war ziemlich dunkel da drinnen.“

„Genau, was Opa Alois erzählt hat …“

Am andern Morgen waren sie fast alleine im Speisesaal, wo es Hunderte von Tischen gab. Ausser ihnen vielleicht noch zwei andere Gruppen mit ihren Reiseleiterinnen. Sie erhielten ein Frühstück mit Kartoffelpuffern, Schafskäse und etwas Brot auf einem Tablett serviert. Und dazu der übliche Tee. 

Auf den Weg zum Auto trafen sie im Treppenhaus eine der anderen Reisegruppen. Nara sprach sie auf gut Glück auf Englisch an. 

„Hallo, was ist euer Eindruck von diesem Land?“

Ein Mann mit rötlichen Haaren und einem Bart antwortete. 

„Ein schönes Land, aber irgend etwas stimmt da nicht.“

Sie hätten gerne weitergesprochen, aber Lelya rief von unten nach ihnen.

Sie sah sie böse an und zischte: „Nicht mit anderen Touristen sprechen.“

Das hatten sie bei den Regeln, die sie unterzeichnet hatten, offenbar vergessen.

Die Tage vergingen wie im Flug. Die Landschaften waren grossartig. Nara fotografierte, was erlaubt war, Siam machte sich Notizen über die Geologie und Natur des Landes, über das er zuhause etwas schreiben wollte.

Menschen trafen sie nur selten. Als sie im Gebiet der Vulkane ankamen, verliess gerade die Gruppe um den Mann mit den rötlichen Haaren den Parkplatz.

In ihrer letzten Unterkunft, die wieder ganz traditionell eingerichtet war, mit Schaffellen, einem offenen Feuer, bestickten Tischdecken, erwartete sie ein folkloristischer Abschlussabend  

Die Gelegenheit ergab sich, als Siam und Nara – unerlaubterweise – vor dem Essen das Haus erforschten. Im Untergeschoss machten sich gerade einige der Musiker bereit. Als sich ihren Weg kreuzten, blickten die Männer rasch weg.

„Frag was auf Russisch, Nara.“

„Wie geht’s? Tungusien schönes Land.“

Viel mehr Konversation konnte sie ohnehin nicht machen. 

Zwei der Männer blieben stehen. Der Ältere legte sich den Finger an die Lippen. Er flüsterte auf Englisch:

„Ist verboten zu sprechen. Gefährlich.“

Und damit zog er seinen Kollegen rasch weiter. 

Sie gaben sich Mühe, fröhlich zu sein und lobten das Land während des Essens, aber sie konnten den Abend doch nicht richtig geniessen. Lelya hingegen war richtig gut gelaunt und gesprächig.

‚Wahrscheinlich ist sie froh, dass alles gut gegangen ist.‘

Das Essen, das sie und noch vier, fünf andere Reisegruppen aufgetischt erhielten, war sehr gut, aber viel zu reichlich. Am Schluss mussten sie unbedingt den Birkenlikör probieren, auch Wodka wurde ihnen immer wieder zugeschoben. Sie stiessen mit Lelya an und bedankten sich bei ihr für die gute Führung. 

Als die Musikgruppe schliesslich aufspielte, erreichte der Abend seinen Höhepunkt.

Der ältere Musiker, der ein dreieckiges Zupfinstrument spielte, schaute kurz ängstlich zu ihnen rüber.

Siam legte, als Lelya kurz den Raum verliess, ganz kurz seinen Finger an die Lippen und lächelte ihm zu. 

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