Von Claudia Grothus

Mein Bewusstsein steigt wie eine Luftblase aus der Tiefe des Schlafs an die Oberfläche. Ich kann liegenbleiben. Es sind Semesterferien und gestern habe ich meine Prüfung bestanden! Wohlig räkle ich mich. Für diese Prüfung habe ich monatelang bis zur Erschöpfung gelernt. Und jetzt ist sie endlich vorbei und bestanden. 

Mein Handy klingelt. Ich stelle die Weckfunktion aus und lasse mich zurück ins Kissen fallen. Jede Faser meines Körpers fühlt diese geschmeidige Entspannung, die nur dann entsteht, wenn es überhaupt nichts zu tun gibt. Wenn Zeit vor mir liegt wie ein weißes Blatt Papier. 

Gähnend stehe ich auf, tapse barfuß durch den Flur und werfe im Vorbeigehen einen Blick in die Küche. 

Schlagartig bleibe ich stehen. Dort hängt mein gepackter Rucksack an der Stuhllehne. Eine Flasche Mineralwasser und eine Tüte Kekse stehen auf dem Tisch bereit. 

Ich laufe zurück ins Schlafzimmer. Mein Hoodie, eine Jeans und Wäsche sind so hingelegt, dass ich schnell hineinschlüpfen kann – damit ich pünktlich zur Prüfung loskomme! 

Das kann nicht sein! Ich reiße das Handy vom Nachttisch. Heute ist der 12. Juli. Der Tag meiner Prüfung! Ich habe das mit dem Bestehen nur geträumt!

Ich stürze in die Klamotten, packe meinen Rucksack und renne los, um den Bus noch zu kriegen. 

Während der Fahrt schreibe ich an Reni: „Bin fix und fertig. Habe geträumt, dass ich die Prüfung schon bestanden habe.“ Wie banal sich das liest. 

Aber ich bestehe – mein Gehirn fügt ein „wieder“ an. Was diesmal ausbleibt, ist die Erleichterung. Stattdessen hängt mir eine bleierne Erschöpfung in den Gliedern. 

Ich sehne mich nach Urlaub. Am Strand liegen, in einem Straßencafé Cappuccino trinken. Aber mein Budget gibt das nicht her. Es sei denn, es kauft doch noch jemand mein Surfbrett, das schon seit Monaten auf eBay herumdümpelt. 

Am Morgen nach der Prüfung spüre ich zum ersten Mal diese Verunsicherung. Ich schaue nach dem Datum. 13. Juli, alles in Ordnung. 

Nach dem Frühstück nehme ich mir einen Zettel. Bücher zurück!, schreibe ich ganz oben hin. Wenn ich in der Uni-Bibliothek noch einen Tag länger überziehe, wird es richtig teuer.

Dann schreibe ich jede Menge Obst und Gemüse auf eine Einkaufsliste. Langsam verblasst mein Erlebnis mit dem Traum und ich beginne, mich auf die freie Zeit zu freuen. 

Ich jogge. Herrlich diese Bewegung. Meine Lebensgeister kehren zurück. Nachher werde ich mit dem Einkaufszettel losziehen und all das gesunde Zeug kaufen. 

Verschwitzt und mit dem wohligen Gefühl, mich angestrengt zu haben, komme ich zuhause an.
Durst! Ich gehe zum Kühlschrank. Er ist voll. Äpfel, Gurken, Karotten, Salat. Mein Blick wandert ungläubig zur Obstschale auf dem Tisch. Bananen und Tomaten liegen dort in einem unschuldigen Stillleben neben einer Avocado. 

War ich einkaufen? Mein Herz beginnt zu rasen. Ich war nicht einkaufen! Das macht mir solche Angst, dass ich aufschreie

und mit einem unartikulierten Laut erwache. Ich liege auf dem Sofa. Verwirrt setze ich mich auf und schaue aufs Handy. Es ist immer noch der 13. Juli. Auf dem Tisch, in der leeren Obstschale, liegt meine Einkaufsliste. Jetzt erinnere ich mich. Ich habe die Bücher zur Bibliothek gebracht und mich danach nur mal kurz hingelegt. 

Den Kopf in die Hände gestützt denke ich, dass ich vielleicht so etwas wie einen Burnout habe. Ich atme tief durch und gehe einkaufen. 

Mitten in der Nacht springe ich aus dem Bett und sehe nach, ob ich wirklich die Bücher in die Bibliothek gebracht habe. 

Dann sitze ich da heulend auf der Bettkante. Es macht mir Angst. Mir wird beklemmend bewusst, dass es überhaupt keine sicheren Anzeichen für Realität gibt. 

Plötzlich ertönt ein Scheppern aus der Küche. Durch meine Adern rauscht eine Überdosis Adrenalin. Innerlich bebend schleiche ich in den Flur. Alles dunkel und still. Meine Hand tastet zum Lichtschalter. Wenn jetzt das Licht nicht angeht, ist es ein Traum. Aber es macht Klick und wird hell. In der Küche ist ein Bild von der Wand gefallen. Der Nagel ist aus dem Putz gebrochen und hat einen kleinen, sandigen Krater hinterlassen. 

Zitternd krieche ich zurück ins Bett. Mein Herz klopft bis in die Fingerspitzen. 

Früh am Morgen suche ich im Internet nach einem Psychotherapeuten. Wähle eine Nummer nach der anderen. Alle haben Wartezeiten von mehreren Monaten. Ich erkläre, dass ich ein akutes Problem habe. Da könne man nichts machen, aber es gäbe ja die psychiatrische Notfallambulanz. 

Endlich finde ich eine Frau Dr. Bach, die einen freien Termin in vier Wochen hat. 

Bis dahin brauche ich eine Strategie. Ich kaufe mir Lavendelöl und Melissentee. Außerdem ein dickes Schreibheft.

Ab jetzt notiere ich alles in dem Heft, was sicher in der Realität stattgefunden hat. Es wird zum Ritual, abends mit meinem Tee am Küchentisch zu sitzen und den vergangenen Tag festzuhalten. Es funktioniert. Ich werde von Tag zu Tag ruhiger. 

Natürlich träume ich. Aber mit Hilfe meines Tagebuchs bleiben Traum und Wirklichkeit jeweils in ihrer eigenen Welt. 

Wie fragil diese zarte Membran um meine Nerven noch ist, merke ich, als ich eines Abends so unglücklich gegen meine Teekanne stoße, dass sie umkippt. Fast ein Liter Melissentee ergießt sich über mein Tagebuch. Beim Versuch, noch etwas zu retten, verbrühe ich mir die Hand. 

Ich drehe durch. Habe das Gefühl, dass ich ohne das Tagebuch die Kontrolle über meine Realität verliere. Stehe hysterisch schluchzend im Badezimmer und halte meine Hand unter kaltes Wasser. 

Schwer atmend lehne ich meine Stirn gegen die kühlen Fliesen. Dann habe ich eine Eingebung. Ich krame in der Küche nach einem Edding und trage mein aufgeweichtes Tagebuch ins Bad. Oben links, an der ersten Fliese fange ich an. Ich schreibe eine Kopie meines Tagebuchs an die Wand. Vorsichtig blättere ich die durchnässten Seiten zurück und übertrage Wort für Wort. Jede Kachel ist ein Tag aus meiner Realität. Ich schreibe und schreibe, blättere, schwitze, die Wand ist fast voll.

Da höre ich eine Melodie. Es ist mein Handy. Ich suche überall und finde es nicht. Aber immerzu höre ich die Melodie. Und dann wache ich auf. 

Es ist Morgen und heute habe ich den ersten Termin bei Dr. Bach. Ich haste aus dem Bett ins Bad. Natürlich sind die Wände nicht vollgeschrieben. So ein Quatsch.

Trotzdem fühle ich mich ohnmächtig angesichts der Mühe, die ich mir im Traum gemacht habe, der Angst, die ich um meine realen Erinnerungen hatte. 

In der Küche liegt meine Kladde unversehrt auf dem Tisch. Ich setze mich und muss weinen. 

Dr. Bach ist eine vertrauenerweckende Frau in den Vierzigern. Ich erzähle ihr alles und habe dabei das Gefühl, dass mein Problem albern klingt. 

Sie schaut mich ernst an. Dann sagt sie den erlösenden Satz: „Sie sind nicht verrückt und Sie können auch nicht verrückt werden.“ Ich breche schon wieder in Tränen aus. Frau Bach schiebt mir wortlos eine Zupfbox hin. 

Sie will mich einmal pro Woche sehen. 

Beim Verlassen der Praxis fühle ich mich hoffnungsvoll. Die Sonne scheint, und im Straßencafé gegenüber lehnt ein dicker Mann mit einer Kellnerschürze im Türrahmen. Ich lächle ihn an. Er lächelt sehr lieb zurück. 

Ich habe das Schlimmste überstanden. Das Tagebuch, viel Sport und die Besuche bei Dr. Bach tun mir gut. Und jedes Mal, wenn ich nach den Sitzungen aus dem Haus trete, lehnt der nette Cafébesitzer in der Tür und wir lächeln uns zu. 

Endlich verabrede ich mich auch mal wieder mit meiner Freundin Reni. Ich fahre mit dem Auto zu ihr. Sie wohnt am Ende einer abfallenden Straße. Ich rolle den Berg hinunter und bremse ab. Aber der Wagen nimmt immer mehr Fahrt auf. Ich trete wie irre auf die Bremse, rase auf Renis Haus zu. Wach auf!, schreie ich. Wach auf! Und in dem Moment, wo ich gegen das Haus pralle, werde ich wach. 

Puh! Aber das Schöne daran ist, dass es einfach nur irgendein Albtraum war. Das hat jeder mal. 

Ich stehe auf, schneide Obst klein und gebe es in den Mixer. Während mir die Maschine einen Smoothie bereitet, checke ich mein Handy. Jemand will mein Surfbrett kaufen! Ich führe vor Freude ein kleines Tänzchen auf. 

Auf einmal fliegt der Deckel des Mixers ab und verspritzt mein Smoothie durch die ganze Küche. Ich hechte zur Arbeitsplatte, rutsche auf dem nassen Boden aus und falle

in mein Bett! Stöhnend ziehe ich mich unter der Decke zusammen. Ich kann nicht mehr. Das muss aufhören! 

„Wollen Sie es nicht mal mit einem Schlafmittel versuchen?“, fragt Dr. Bach. Ich nicke ergeben. Strecke die Waffen. Irgendetwas daran ist gut. 

Erschöpft schleiche ich aus der Praxis. Der dicke Mann vom Café winkt mich heran.

„Sie sehen aus, als könnten Sie einen Cappuccino brauchen.“ Er lächelt mich so warmherzig an, dass ich zurücklächeln muss. Er stellt mir das herrlich duftende Getränk auf ein Tischchen in der Sonne. „Sonst kommen Sie immer lächelnd aus dieser Tür da drüben“, sagt er. Und dann erzähle ich ihm alles. Angefangen von der Prüfung, bis hin zu dem Rezept, das ich aus meiner Tasche ziehe und ihm hinhalte.

Nachdenklich schaut er den rosa Zettel an. Dann sagt er: „Gib mir mal deine Hand.“ Ich reiche ihm meine Linke. Er hält sie warm und liebevoll fest. Dann schreibt er mit einem Kugelschreiber innen auf mein Handgelenk. 

„Das ist meine Nummer. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du mal wieder aus einem deiner Träume aufwachst.“

Uli wird mein Freund. Oft rufe ich ihn an und erzähle ihm, was ich geträumt habe. Er ist meine Verbindung in die Realität. Ich nehme meine Schlaftabletten. Und ich erkenne, dass Heilung etwas Langsames und Unspektakuläres ist.

Die Semesterferien gehen zu Ende. Ich sitze im Hörsaal und warte, dass meine erste Vorlesung beginnt. Mein Telefon klingelt. Ich tippe auf das grüne Symbol, aber es klingelt weiter. Ungeduldig wische ich über das Display. Wieso funktioniert das nicht? 

Es klingelt so lange, bis ich aufwache. Schlaftrunken taste ich nach dem Telefon auf dem Nachttisch. 

„Praxis Dr. Bach, wir möchten Sie nur an Ihren Termin heute um 11.00 Uhr erinnern.“ 

„Was?“ 

„Sie sind hier für ein Erstgespräch eingetragen. Wir hatten doch kurzfristig einen Termin für Sie frei.“

 

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