Von Vanessa Wedekämper

Wie jeden Freitag saß Dieter schon an einem der Tische vor dem Restaurant. Er hatte zwar später Feierabend als ich, arbeitete aber im Gegensatz zu mir fast um die Ecke. Ich setzte mich zu ihm und er schob mir das obligatorische Bier zu.

 

Dieter und ich kannten uns schon seit der siebten Klasse. Seit er mit seinen Eltern hierhergezogen war. Von dem ersten Moment an hat er unsere Klasse auf den Kopf gestellt. Er machte nur was ihm gefiel und ihm gefiel es vor allem gegen den Strom zu schwimmen. Und seit damals hatte er sich nicht verändert. Mal abgesehen von den nicht zu leugnenden Geheimratsecken und dem kleinen, aber stetig wachsendem Bierbauch. Er hielt sich noch immer an keine Konventionen, doch genau das liebte ich an ihm. Erst wenn ich hier mit Dieter saß, begann das Wochenende für mich.

 

„Und haste endlich?“, fragte er. 

Ich nahm einen großen Schluck Bier, um die Spannung zu erhöhen. Dann nickte ich. „Ja, ich hab endlich eine neue Wohnung gefunden. Und die ist genial. Die hat nicht nur endlich einen Balkon, sondern kostet auch noch 50 € weniger als meine Jetzige.“ 

Dieter lachte anerkennend. „Ich hoffe, du schmeißt eine ordentliche Einweihungsfeier, wenn ich Kisten schleppen soll.“ 

Jeder andere hätte erstmal Fragen zur Wohnung gestellt, aber bei Dieter wunderte ich mich nicht über diesen Gedankensprung. Also antworte ich: „Noch besser. Nur du und ich und ein Keller voller Bier.“ 

Er lachte laut auf und gab der Kellnerin durch ein Handzeichen zu verstehen, dass er gerne noch ein Bier hätte. Dann wandte er sich wieder mir zu: „Und haste die Nachbarn schon abgecheckt?“ 

Kopfschüttelnd versuchte ich, mir das Lachen zu verkneifen. „Nein noch nicht. Aber ich ziehe nach Neustadt, dort ist ja eh mehr Wald, als Familiensiedl…“ Weiter kam ich nicht. 

„Was? Ne, vergiss die Wohnung.“ 

Ich schaute ihn verwirrt an. Neustadt war praktisch. Von da könnte ich mit dem Rad zur Arbeit fahren. Das wusste er doch. „Wieso? Wohnt da eine von deinen Verflossenen?“, fragte ich neckisch. 

„Ja, Betty wohnt da, aber egal“, er wischte den Gedanken mit einer Handbewegung davon. „Da ist doch der Flughafen.“ Er sagte es so, als wäre das eine Erklärung. „Mensch Manfred, die Chemtrails!“, fügte er hinzu. Aber meine erstarrten Gesichtszüge schienen ihm zu verraten, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wovon er redete. Deshalb sprach er noch aufgeregter und lauter weiter. So hatten auch die Gäste an den Nachbartischen kein Problem, unserer Unterhaltung zu folgen. „Die weißen Streifen am Himmel hinter den Flugzeugen. Das ist reine Chemie. Damit soll das Wetter manipuliert werden oder sogar die gesamte Bevölkerung. Und ganz bestimmt ist es sogar krebserregend.“ 

Er hatte sich so in Rage geredet, dass er sich erstmal eine Zigarette anstecken musste. Er sog den Rauch tief ein und während er ihn langsam auspustete, löste ich mich aus meiner Starre. „Sind das nicht normale Flugzeugabgase … so wie beim Auto?“ 

Anscheinend nicht. Denn mit der Frage hatte ich den Weg für einen von Dieters wilden Vorträgen geebnet „Nein, Nein“, sagte er also beschwörend und begann seine Theorie zu erläutern.

 

Die Theorie war zwar überraschend schlüssig, aber dennoch glaubte ich nicht daran. Zu oft hatte ich mir schon seine spannenden, mal mehr und mal weniger nachvollziehbaren Geschichten angehört. Außerdem war die Wohnung ein richtiger Glückstreffer für mich. Ich würde mich auf keinen Fall davon abhalten lassen, sie zu mieten. 

 

So kam es, dass ich genau zwei Wochen später mit dem Makler zusammen die Wohnung verließ. Trotz der Unterschriften, besiegelten wir den Vertrag an der Haustür zusätzlich mit einem Handschlag. Dann gab er mir die Schlüssel und verabschiedete sich. 

Ich hätte Luftsprünge machen können. Stattdessen beschloss ich, mir die Gegend genauer anzuschauen. Umgeben von Wald und militärischen Übungsgelände, wirkte das Hochhaus fehl am Platz. Als hätte man es hier vergessen, als alle anderen ins Stadtzentrum gezogen sind. 

Ich hatte erst befürchtet, dass mich die Flugzeuge störend könnten. Nicht die Abgase, sondern der Lärm. Aber wie sich herausstellte, wurde der Flughafen hauptsächlich von kleinen Flugzeugen angeflogen. Die Motoren waren zwar trotzdem recht laut, aber störten mich nicht weiter. Zur Not würde ich mir vorstellen, dass hier Bären balzten … oder einfach die Fenster schließen. Und laut Dieter war bei kleinen Flugzeugen die Gefahr von Chemtrails wesentlich geringer, sodass selbst er letztendlich mit dem Umzug einverstanden war. 

 

Auch jetzt hörte ich, wie sich ein kleines Flugzeug auf den Start vorbereitete. Und schon konnte man sie am Himmel sehen. Wer sonst hatte so einen schönen Wohnort? Ich war hier nicht nur in der Natur, sondern konnte auch die verschiedensten Flugzeuge beobachten. Aber Moment, etwas stimmte da nicht. Hinter dem Flugzeug bildete sich plötzlich eine Wolke und sie war … rot. Unmöglich! Es hinterließ eine rote Linie am Himmel. Hatte Dieter womöglich doch recht? Aber warum waren die roten Abgase noch niemanden aufgefallen? Und sonst waren die Kondensstreifen doch immer weiß. Dieters Worte hallten in meinem Kopf wieder: „Damit soll das Wetter manipuliert werden oder sogar die gesamte Bevölkerung.“ Dachten wir nur, dass die Kondensstreifen weiß waren? Wurden wir in Wirklichkeit schon mit den Chemikalien manipuliert. Mit zitternden Händen zog ich mein Handy aus der Tasche. Ich musste ein Beweisvideo machen. Vor Aufregung konnte ich die Knöpfe kaum drücken, aber zumindest schaffte ich es, Fotos zu schießen. 

Plötzlich flog das Flugzeug in meine Richtung. Und es flog immer tiefer. Ich musste hier weg. Sofort, bevor ich etwas von den Chemikalien einatmete. Ich rannte, so schnell ich konnte. Als ich mich wieder umdrehte, sah ich, wie das Flugzeug steil nach oben zog. Was hatte es vor? Egal, ich rannte, bis ich mein Auto erreichte. Bei dem Versuch, die Schlüssel ins Schloss zu stecken, fielen sie mir aus der Hand. „Verdammt!“ Doch das Flugzeug war zum Glück nicht mehr zu sehen. Ich stieg ins Auto und schlug die Tür zu. Geistesgegenwärtig dachte ich daran, die Klimaanlage auszuschalten. Nicht, dass noch etwas von dem Gas ins Auto drang. 

 

Diesmal war ich es, der an unserem Stammplatz auf Dieter wartete. Zum einen, weil ich wegen der Schlüsselübergabe freihatte, aber vor allem, weil ich es nicht erwarten konnte Dieter die Bilder zu zeigen. Ich bestellte bei der Kellnerin zwei Bier und einen Korn, den ich sofort trank. 

 

Dieter saß noch nicht ganz, als ich ihm die Ereignisse schilderte und ihm die, zugegeben etwas verwackelten Bilder, zeigte. Er brach in schallendes Gelächter aus. Zwischen dem Lachen krächzte er: „So hatte ich das aber nicht gemeint.“ Als er sich endlich wieder beruhigt hatte, trank er, mit einem schelmischen Grinsen, einen großen Schluck Bier. 

 

Wieso erfuhr ich erst, als ich am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug: „Kunstflieger erregt große Aufmerksamkeit – ein Kunstflieger in Neustadt wollte seiner Freundin einen ganz besonderen Antrag machen. Mit Paraffin- und farbigen Lampenöl erzeugte er erst roten Rauch und zeichnete das Unendlichkeit-Zeichen in die Luft. Danach entrollte er in der Luft ein Banner mit der wahrscheinlich wichtigsten Frage seines Lebens.“ 

Darunter war ein Foto von dem Flugzeug, das ein langes Banner hinter sich herzog. In dem Moment war ich mir sicher, damit würde Dieter mich noch sehr lange aufziehen.

 

Trotz der Unterschriften besiegelten wir den Vertrag an der Haustür zusätzlich mit einem Handschlag.

 

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