Von Angelika Brox

Wir werden zu spät kommen. Ausgerechnet heute muss das Kombi-Instrument in meinem Wagen den Geist aufgeben. Totalausfall des Tachos, dafür jede Menge blinkende Warnmeldungen. Notgedrungen fahren wir jetzt mit Philipps Auto. Ich hocke neben ihm auf dem Beifahrersitz, schaue dauernd auf die Uhr und trommle mit den Fingern auf meinen Oberschenkeln herum. Flippo ist zwar mein bester Freund, aber leider ein zum Verzweifeln langsamer Fahrer – er nennt das „vorsichtig“.
„Entspann dich, Patrick“, sagt er. „Du könntest ja mal da anrufen und Bescheid geben, dass wir es nicht pünktlich schaffen.“
Sechs Minuten vor zehn. Um zehn beginnt die Veranstaltung und wir brauchen mindestens noch eine halbe Stunde. Weil wir beide vor einigen Monaten ein Start-up gegründet haben, wollten wir uns mal was gönnen und haben uns zu diesem schweineteuren Business-Coaching-Wochenende angemeldet, von dem wir nun den Anfang verpassen.

Um viertel vor elf parken wir endlich vor dem ländlichen Anwesen, in dem man Seminarräume und Gästezimmer untergebracht hat.
Schon von draußen hören wir ausgelassene Rufe und Gelächter.
„Sind wir hier richtig?“, fragt Philipp stirnrunzelnd.
Ich zucke mit den Schultern und  öffne die Tür. Ein Dutzend Führungskräfte stehen im Raum verteilt, sie werfen kleine, bunte Knautschbälle im Bogen durch die Luft und versuchen, sie mit der anderen Hand wieder aufzufangen. Einige probieren es sogar mit zwei Bällen über Kreuz, lassen sie aber ständig fallen oder stoßen mit dem Nachbarn zusammen. Ein munteres Treiben.
Eine Dame, deren Styling von Kopf bis Fuß Kompetenz ausstrahlt, kommt lächelnd auf uns zu. „Schön, dass Sie hier sind. Die Vorstellungsrunde haben Sie leider verpasst, aber das können Sie ja beim Mittagessen nachholen. – Wir lernen gerade Jonglieren, eine wunderbare Übung, um beide Gehirnhälften zu synchronisieren. Auch zur Entspannung im Büro bestens geeignet.“
Sie gibt jedem von uns einen Ball in die rechte Hand, den wir senkrecht hochwerfen und wieder fangen sollen. Das klappt ganz gut, aber mit der linken Hand ist es schon schwieriger. Mit zwei Bällen gleichzeitig wird es eine echte Herausforderung, doch es fängt an, Spaß zu machen, und ich komme mir allmählich nicht mehr albern vor.
Zwischendurch werfe ich diskrete Blicke auf die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Wie sie so konzentriert bei der Sache sind und lachen, wenn ihnen mal wieder Bälle entwischen, wirken sie auf mich recht sympathisch. Alle bis auf einen – Mitte dreißig und genau die Sorte Mann, auf die ich stets allergisch reagiere: zwar attraktiv, aber mit blasiertem Gesichtsausdruck, teures Outfit, perfekte Fönfrisur und mit jeder Bewegung subtil verkündend: „Seht her, wie toll ich bin!“
Natürlich jongliert er bereits locker mit drei Bällen und als er bemerkt, dass ich ihn beobachte, hebt er ein Bein an, wirft einen Ball darunter hindurch und fängt ihn wieder auf. Dabei lächelt er selbstzufrieden.
Flippo arbeitet sich zu mir vor und grummelt in mein Ohr: „Dem würde ich am liebsten einen Ball an den Kopf werfen.“
Er spricht mir aus der Seele.

Während des Mittagessens stellen wir uns vor und erfahren auch von den anderen Teilnehmern die Eckdaten.
Das Jonglier-Ass sagt: „Ich bin Marcel, Projektmanager bei einem IT-Dienstleister mit Leistungsschwerpunkt Betrieb und Betreuung kommunaler Anwendungen unter SAP ERP, zuständig für Netzwerkanalyse, IT-Solutions und Support der IT-Infrastruktur.“
„Klingt interessant“, meint Philipp höflich.
Ich sage lieber nichts dazu.
Nach einer Weile fällt mir auf, dass mein Freund immer wieder verstohlen zu einer jungen Frau mit schwarz glänzenden Haaren hinüberschaut, die sich als Kyomi aus Japan vorgestellt hat. Kyomi ihrerseits scheint allerdings ihre hübschen Mandelaugen auf Marcel geworfen zu haben. Ausgiebig lobt sie, wie geschickt er mit Bällen umgehen könne.
„Ach, das ist doch nicht der Rede wert.“ Das bescheidene Lächeln hat er wahrscheinlich vorm Spiegel geübt. „Mein Ballgefühl stammt wohl noch aus der Zeit, als ich in der Baseball-Jugendmannschaft gespielt habe.“
Ich tippe Philipp auf die Schulter. „Lass uns auf die Terrasse gehen, ich brauche frische Luft.“
Sofort steht er auf. „Gute Idee. Wer kommt mit?“
Tatsächlich folgen uns alle. Bis auf Marcel. Ich freue mich schon für Flippo, aber da erscheint der smarte Projektmanager leider doch noch – mit einer Gitarre in der Hand! Er setzt sich neben Kyomi und zupft die Spanische Romanze. Ärgerlicherweise nicht mal schlecht.
Als er fertig ist, seufzt Kyomi: „So schön wie du würde ich auch gerne spielen.“
Marcel winkt ab. „Ach, das ist nur ein Ausgleich zu meinem stressigen Job. Zu Hause spiele ich meistens Klavier.“
„Ich spiele auch Klavier“, platzt es aus Flippo heraus.
Seit wann das denn?
Er presst die Lippen aufeinander.
„Großartig“, meint Marcel. „Im Kaminzimmer steht ein Klavier, da können wir heute Abend ein kleines Konzert geben.“
Philipp wird blass.

Als wir uns nach der Mittagspause wieder im Seminarraum versammeln, flüstert er mir zu: „Ich geh‘ mal kurz auf mein Zimmer.“
Nach zehn Minuten folge ich ihm. Er hockt auf seinem Bett, tippt und wischt hektisch auf seinem Handy herum und sieht aus, als wäre ihm schlecht.
Ich setzte mich neben ihn.
„Du kannst gar nicht Klavier spielen, stimmt’s?“
Er stöhnt. „Als Kind hatte ich mal ein halbes Jahr lang Unterricht, aber ich war leider tiefbegabt. Über den Fröhlichen Landmann kam ich nie hinaus.“
„Also hast du immerhin nicht total gelogen.“
Ein kleines Lächeln huscht über sein Gesicht. „Eigentlich habe ich die Wahrheit nur ein bisschen gedehnt.“
„Genau. Alternative Fakten.“ Ich grinse. „Und was jetzt?“
„Ich durchforste schon das Internet nach Noten für Anfänger. Aber selbst die sehen zu schwierig aus.“
„Damit würdest du neben Marcel sowieso keinen Blumentopf gewinnen. Der präsentiert mindestens die Mondscheinsonate.“
„Ich weiß“, seufzt er. „Am besten verbinde ich mir eine Hand und behaupte, sie wäre verstaucht.“
In diesem Moment kommt mir die rettende Idee. „Es gibt da so eine schräge Komposition von John Cage, neulich habe ich im Fernsehen einen Pianisten gesehen, der das Stück aufführte.“
Rasch nehme ich mein Handy aus der Tasche und tippe ein paar Suchbegriffe ein. „Warte mal, ich glaube, es heißt 4 Minuten 33 Sekunden. – Ja, guck mal hier, 4‘33‘‘, eine Aufführung der Berliner Philharmoniker.“
Wir sehen uns das Video an. Philipps Gesichtsausdruck wechselt von ungläubigem Staunen über Belustigung zu breitem Grinsen.
„Ist ja abgefahren!“
Er ruft einen Online-Notenverlag auf und wird tatsächlich fündig.
„Los, Paddy“, sagt er, „wir fragen mal im Büro, ob wir uns die Partitur ausdrucken dürfen.“

Und so sitzen wir nun nach dem Abendessen alle im Kaminzimmer in bequemen Sesseln und lauschen Marcels Klavierspiel. Wie erwartet, gibt er die Mondscheinsonate zum Besten. Ein Typ wie er weiß eben, was bei Frauen ankommt.
Dann wird es ernst. Philipp hält das Deckblatt hoch und kündigt an: „Ich werde die Komposition 4‘33‘‘ von John Cage aus dem Jahr 1952 aufführen.“
Bedächtig nimmt er auf dem Klavierhocker Platz, stellt die Partitur aufs Notenpult, programmiert den Timer seines Handys, legt es aufs Klavier, lässt die Finger über den Tasten schweben … und verharrt in dieser Position, als wäre er eingefroren.
Die Zeit dehnt sich.
Nur ich weiß, dass sie sich genau über 4 Minuten und 33 Sekunden hinziehen wird. Ansonsten wird nichts passieren, so will es der Komponist.
Von ihrem Platz aus können die anderen nicht sehen, dass die Notenblätter leer sind. Nur Linien, aber keine einzige Note.
Bei der Uraufführung gab es damals einen Skandal.
Schon höre ich einige Seminarteilnehmer miteinander flüstern. Sie wechseln erstaunte Blicke, einer zuckt mit den Achseln und schmunzelt.
Ich bewundere meinen Freund für seine starken Nerven. Unbeirrt schaut er auf die Partitur und sitzt da wie ein Denkmal des jungen Artur Rubinstein.
Marcel beugt sich vor und will offensichtlich etwas sagen. In weiser Voraussicht hatte ich es so eingerichtet, dass ich neben ihm sitze. Schnell ziehe ich ihn am Ärmel und lege meinen Zeigefinger an den Mund. Er starrt mich empört an, schluckt seinen Kommentar aber herunter.
Die anderen entspannen sich nach und nach, scheinen sich auf die Sache einzulassen. Sie schauen auf den Pianisten oder aus dem Fenster oder haben die Augen geschlossen.
Endlich ertönt leises Meeresrauschen aus Philipps Handy. Er stoppt den Timer, steht auf und verbeugt sich.
Ich beginne zu klatschen.
„Gibt’s das auch auf CD?“, ruft Marcel und kräuselt spöttisch die Lippen.
„Selbstverständlich“, antwortet Flippo. „Zum Beispiel gibt es ein Album mit Interpretationen von Depeche Mode, Erasure, Einstürzende Neubauten und vielen anderen bekannten Bands. Es heißt STUMM433.“
„Einfach genial“, bemerkt Timo, einer der Teilnehmer. „Ich habe eben kurz nachgerechnet: 4 Minuten und 33 Sekunden sind genau 273 Sekunden und minus 273°C ist der absolute Nullpunkt, wo jede Bewegung aufhört.“
„Philipp, ich bewundere dich“, sagt Teilnehmerin Merle. „Das hätte ich mich niemals getraut.“
Die Seminarleiterin zwinkert ihm zu. „Ich werde das Stück in mein Achtsamkeitstraining für Manager aufnehmen.“
„Erst fand ich es ungewohnt“, erzählt Kyomi, „aber dann habe ich die Stille genossen. Draußen sang ein Vogel, der Wind rauschte in den Bäumen, ab und zu hörte ich leise Geräusche von euch. Irgendwie war das auch Musik. Danke für diese schönen 4 ½ Minuten!“
Sie lächelt Philipp an und er lächelt zurück.
Ich wiederum grinse Marcel an, der ein Gesicht macht, als hätte er Zahnschmerzen. Vielleicht hat er das Stück nicht verstanden. Er sollte es sich noch einmal anhören.

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Dies ist der Link, den Patrick aufruft:
https://www.youtube.com/watch?v=AWVUp12XPpU