Von Beate Fischer

  1. März 2013

 

„Du bist wo?“ Die Stimme meiner Schwester hallt durch das Telefon. Die Verbindung flackert.

„Du hast mich schon verstanden“, fauche ich zurück. „Wenn ich zurückkomme, melde ich mich. Vielleicht.“

Ich beende das Gespräch und nehme den Akku aus dem Handy.

Von dem Hügel, auf dem ich sitze, habe ich einen ungehinderten Blick auf den Ätna. Eine Rauchsäule schlängelt sich in den Himmel und taucht in die Gewitterwolken ein, die sich dort zusammenballen.

An einen Baumstamm, gelehnt lese ich noch einmal die Geschichte von Hephaistos, dem hässlichen Gott, der seine Schmiede im Ätna betreibt und sie jedes Mal anfeuert, wenn er vor Eifersucht auf seine Frau Aphrodite schier platzt. Ich kann ihn gut verstehen. Am liebsten hätte ich das Bett, in dem ich meinen Mann mit diesem Flittchen erwischt habe, mit einem Flammenwerfer in ein Inferno verwandelt. Aber ich war, wie immer, vernünftig. Habe mir seine Anschuldigungen angehört und dann die Scheidung eingereicht. Doch alle, von denen ich dachte, dass sie mir nahestehen, haben in dieselbe Kerbe geschlagen. Ich wäre selbst schuld. Hätte ihn vernachlässigt, mich nur um meine Interessen gekümmert, den Beruf über die Beziehung gestellt. Nur weil ich ihm morgens keinen Kaffee gekocht habe, er auch mal das Klo putzen musste und ich nicht allzeit bereit für ihn war. Da ist mir der Kragen geplatzt und jetzt bin ich hier. Mein Ziel ist das Nordkap. Über 5000 Kilometer mit dem Fahrrad liegen vor mir. Und bis vor zehn Minuten wusste niemand außer mir von diesem Plan.

 

  1. April 2013

 

Ich radle nicht weit von Bari eine schmale Straße entlang und sehe die Sonne wie eine glühende Herdplatte aus dem Meer aufsteigen. Ob Hephaistos auch hier seine Finger im Spiel hat? Ich sehe nur noch die Schönheit, meine Wut ist verraucht. Über 600 Kilometer habe ich jetzt schon in den Beinen und auch wenn ich regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit gefahren bin: Mit zwei Satteltaschen, einem Schlafsack, einem Rucksack und einer Lenkertasche ist das doch etwas anderes. Immer wieder musste ich Ruhetage einlegen, um meinen wunden Po und meine schmerzenden Muskeln zu pflegen, war eigenbrötlerisch und habe nur das Nötigste mit anderen gesprochen. Meine ganze Konzentration ruhte auf den Pedalen, auf der Landschaft und ab dem Nachmittag auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit und einer guten Trattoria. Doch die letzten Tage haben mich verändert. Ich habe Menschen gefunden, die mich verstehen.

 

Vorgestern saß ich am Abend auf einem Felsen an einem menschenleeren Strand und ließ die Wellen um meine Füße plätschern, als plötzlich jemand auf Deutsch um Hilfe rief. Ich sprang auf und schaute mich um. Keine fünfzig Meter entfernt kniete jemand im Sand. Ich sprintete los. Ein alter Mann lag am Boden und stöhnte. Seine Frau strich ihm unbeholfen übers Haar und murmelte vor sich hin.

„Was ist denn passiert? Kann ich helfen?“. Mein Herz stolperte.

„Er blutet“. Die Frau wischte sich eine Träne von der Wange. „Er muss irgendwo hinein getreten sein.“

Ich folgte ihrem Blick. Und tatsächlich: Von seinem Ballen floss aus einem tiefen Riss ein roter Strom in den Sand, der schon einen dunklen Sumpf um seine Ferse gebildet hatte. Ich riss mein Verbandszeug aus dem Rucksack und machte mich an die Arbeit. Zwischendurch dankte ich meinem verstorbenen Vater, dass er mich jahrelang zum Ortsverein des Roten Kreuzes geschleppt hatte und ich dadurch Meisterin in Erster Hilfe war.

Nachdem die Blutung nachgelassen hatte, suchte ich den Strand ab. Niemand zu sehen. Bis zum Ort waren es mindestens fünfhundert Meter und die Frau war sicher keine große Hilfe.

„Haben Sie ein Handy?“, fragte ich, erntete aber nur ein Kopfschütteln und ein nuscheliges „Zu Hause“.

„Dann muss ich Hilfe holen gehen.“ Ich strich ihr sanft über den Arm. „Machen Sie sich keine Sorgen, das Schlimmste ist überstanden. Aber trotzdem muss sich das noch ein Arzt anschauen. Wahrscheinlich ist es besser, den Schnitt zu nähen.“

Alles ging gut. Drei Stunden später saß ich in einem gemütlichen Häuschen auf der Couch und trank mit dem Pärchen, das ich in der Zwischenzeit Erna und Helmut nannte, einen Grappa auf den Schrecken.

 

Heute, nach einer Woche bei meinen neuen Freunden und unzähligen Gesprächen über Gott, die Welt und das Leben, fahre ich weiter. Als ich vorhin mit den beiden in der Küche stand und in meinem Cappuccino rührte, luden sie mich ein: „Komm uns doch besuchen, wenn du aus dem hohen Norden zurück bist. Wir sind auf jeden Fall von Oktober bis April wieder hier. Du bist uns jederzeit willkommen.“

 

 

  1. April 2013

 

Neapel und Rom habe ich links liegen lassen. Nun sitze ich in Ancona und mache mir ernsthaft Gedanken, wie ich über die Alpen komme. In einem Internetcafé suche ich nach Möglichkeiten und entscheide mich schließlich für den Alpe-Adria-Radweg. Immerhin bin ich dafür schon auf der richtigen Seite des Stiefels. Manchmal verfluche ich meinen Plan, ohne Plan loszufahren. Mich treiben zu lassen, von einem Tag auf den anderen zu leben. Heute ist es wieder so weit. Alle Welt scheint sich zu amüsieren. Doch durch meine Augen ist die Welt nur grau. Wieso kann ich nicht einfach fröhlich sein? Ich denke an Erna und Helmut, die harte Zeiten miteinander durchgemacht haben.

„Du hast also deine Arbeit gekündigt und bist einfach losgefahren, ohne jemandem davon zu erzählen“, hatte Helmut am zweiten Tag gesagt. „So etwas Ähnliches habe ich auch schon einmal gemacht. Und dabei mein großes Glück gefunden.“ Er streichelte Erna lächelnd über die Wange und erzählte, wie er 1962 nach Kanada auswandern wollte. Kurz vor dem Mauerbau war er nach Westdeutschland geflüchtet, aber er schaffte es nicht, dort Fuß zu fassen. Auf der Schiffsreise hatte er Erna kennen gelernt. Sie war auf dem Weg zur Hochzeit ihrer Cousine in Montreal. Auf diese Reise hatte sie fast zwei Jahre gespart. Sobald sie zurück sein würde, sollte sie die Schneiderei ihres Vaters übernehmen. Helmut begleitete sie zum Fest und zurück nach Deutschland. Ein Leben ohne Erna kam für ihn nicht mehr in Frage.

Ich setze mich an den Strand und schreibe den beiden eine Postkarte. Im nächsten Augenblick erfüllt mich tiefe Zufriedenheit.

 

  1. Mai 2013

 

Ich habe das Mittelmeer erst vor Kurzem hinter mir gelassen und schon macht sich das Gefühl in mir breit, dass es nur noch bergauf geht. In der Zwischenzeit bin ich Hügel und kleinere Berge gewöhnt, aber jetzt geht es in die Alpen hinein. Ich schimpfe auf mich, mein Gepäck und meine Hirngespinste. Trotzdem strample ich fleißig weiter.

 

  1. Mai 2013

 

Nicht weit vor der österreichischen Grenze gibt mein Fahrrad den Geist auf. Mitten im Nirgendwo. Die Kette hat sich verhakt. Meine gewaltsamen Reparaturversuche verschlimmern die Sache nur. Das Kettenblatt verbiegt sich und nichts geht mehr. Jetzt habe ich den Salat. Den letzten kleinen Ort habe ich vor ungefähr einer Stunde durchquert. Ich will weiter, nicht zurück. Wenn meine Karte stimmt, muss ganz in der Nähe eine Hütte sein. Dann eben schieben. Nicht einmal zwei Kilometer später habe ich genug. Der Schweiß brennt in meinen Augen und ich stinke wie ein Schwein. Den ganzen Tag haben mich irgendwelche Sportradler überholt. Jetzt ist weit und breit niemand zu sehen.

„Wo seid ihr, wenn man euch braucht?“, maule ich vor mich hin.

Als sich auch nach der nächsten Biegung keine Menschenseele blicken lässt, werfe ich mich und mein Rad auf eine Wiese, reiße das unschuldige Gras aus und fange an zu schreien. Dann verschwimmt die Welt und alles um mich wird dunkelgrau.

Als meine Sinne wieder erwachen, steht die Sonne bedenklich tief. Ich spüre, wie die Feuchtigkeit meine Kleider durchdrungen hat und fange an zu zittern. Die Gipfel rundherum sind mit Schnee bedeckt.

„Ich will nicht erfrieren“, brülle ich panisch. Die Berge werfen das Echo zurück und ich breche in hysterisches Gelächter aus.

Als ich in meiner Satteltasche nach meiner Jacke krame, habe ich Halluzinationen. Kühe muhen in der Ferne, Glocken läuten, eine Motorsäge brummt. Ist da jemand? Bin ich doch nicht ganz alleine? Ich stapfe querfeldein und als ich eine kleine Kuppe erklommen habe, liegt sie vor mir: Die schönste Alm, die ich jemals gesehen habe.

Eine Frau mit blauen Zöpfen treibt gerade eine kleine Kuhherde Richtung Stall. Während ich ihr hechelnd näher komme, bemerkt sie mich und ruft: „Steffi, wir haben Besuch.“

 

  1. Juli 2013

 

Caro hat mein Fahrrad repariert, aber ich bleibe trotzdem bis zum Almabtrieb auf dem Berg. Ich habe gelernt, Kühe zu melken und Käse zu schöpfen, Butter zu stampfen und ohne Strom zu kochen. Die Wanderer, die bei uns übernachten, sind ganz verrückt nach meinen Speckknödeln. Manchmal, wenn die Wolken so tief hängen, dass ich auf sie hinunterschauen kann, breite ich die Arme aus und laufe kreischend über die Wiese. Vielleicht war es nicht klug, meinen Job hinzuschmeißen und einfach loszuziehen, aber ich habe mich noch nie in meinem Leben so frei und so glücklich gefühlt.

Die nächste Stadt ist nur eine Autostunde entfernt, aber ich hatte, seit ich hier bin, noch keine Sekunde das Bedürfnis in die „Zivilisation“ zurückzukehren. Meine Tage sind mit Arbeit ausgefüllt und am Abend tüfteln Steffi, Caro und ich an einem Roman. Er handelt von drei Frauen, die sich auf einer Reise treffen oder von einer Bergsteigerin, die von einem Schneesturm in einer Bergwand festgehalten wird. Vielleicht kommt auch eine Insel in der Südsee darin vor oder ein Lepra-Krankenhaus in Indien. Wir haben uns noch nicht entschieden. Auf jeden Fall werden Frauen die Hauptrolle spielen. Männer, auch die netten, kommen nur als Nebenfiguren vor. Wir vermissen sie nicht in unserem Sommer auf der Alm, nicht tagsüber und auch nicht nachts im Bett.

Das Nordkap muss bis nächstes Jahr auf mich warten, oder noch länger. Im Herbst fahre ich zu Erna und Helmut. Wir telefonieren jede Woche. Gemeinsam wollen wir ihre Geschichte aufschreiben. Nur für die beiden habe ich mein Handy wieder ausgepackt. Caro und Steffi laden es auf, wenn sie zum Markt in die Stadt fahren.

Was danach kommt? Wer weiß – solange es Menschen gibt, denen ich vertraue, kann nichts mehr schief gehen.

 

 

 

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