Von Bernd Kleber

Sie ließ die Zeitung sinken. Sprang auf, der Stuhl kippte um und krachte auf die Dielen. „Ursula, Marga kommt sofort her, ich muss euch was zeigen!“

„Was denn?“ Marga trabte heran und Ursula kam aus einer anderen Ecke der Gründerzeitwohnung.

„Ist die Zeitung da?“

Heidi hielt sie hoch und zeigte ihren beiden Mitbewohnerinnen das Deckblatt. Auf der Titelseite stand in Großlettern: „Drei `Alte Schachteln` machen Alarm“. Darunter ein Foto, welches Ursula, Marga und Heidi zeigte, die sich bogen vor Lachen.

***

„Was macht ihr denn in nächster Zeit, es ist ja eine gähnende Langeweile, nicht zum Aushalten!?“, nuschelte, gerade hatte sie vom Frühstücksbrötchen abgebissen, Heidi.

„Mir geht es ebenso… nichts vor“, schlürfte Marga ihren 2 Minuten Earl Grey.

„Wir haben insgesamt sechs Enkel von vier Kindern und wann haben wir sie zuletzt gesehen? Kein Wunder, dass diese bescheuerten Enkeltrick-Betrüger immer wieder Erfolg haben!“

Ursula hob die Augenbrauen: „Jeder ist seines eigen Glückes Schmied!“

„Ursula!“, erscholl es im Duett.

„Als ich von der Handelsschule kam, bezog ich in einem Kellergeschoß meine erste Wohnung. Das waren noch Zeiten. Überall standen noch diese Ruinen und ich rannte in den bewohnten Häusern mit Wahlzetteln die Treppen auf und ab. Die Westberliner Altnazis versuchten mich mit ihren Gehstöcken aus den Häusern zu vertreiben. Wohnten in Luxus-Wohnungen und scherten sich um keine Ruinen. Nun wohnen wir drei auch in so einer Wohnung, sind träge und kein Hahn kräht mehr nach uns.“

„Du immer mit deinen Wahlkampf-Geschichten von anno dunnemals, als Nächstes kommt die Buchenwaldspende wieder…“

„Ja, da war ich sehr stolz drauf. Wer weiß, was aus diesem Mahnmal geworden wäre, wenn wir damals nicht für dessen Erhalt und notwendige Spenden dafür geworben hätten. Schließlich ist das ein Ort grausiger deutscher Geschichte.“

„Ja, Ursula. Du hast ja Recht, wir sind sehr stolz auf Dich.“ Heidi und Marga warfen sich zwinkernd verschwörerische Blicke zu.

„Wisst ihr was, Mädels, wir sollten mal wieder Mitmischen. Seht hier, in der Zeitung die Anzeige für die Demo in drei Wochen, es werden bis zu einer Million daran teilnehmen. Aus aller Welt.“

„So viele?“

„Ja!“

„Und seht euch mal die Fotos vergangener Jahre an, wieviel Medieninteresse es gab… Da machen wir diesmal mit!“

„Wie bitte? Was willst du dort? Wir gehören zum alten Eisen! Und die demonstrieren für Dinge, die ich nicht mal kenne, sorry, Ursel!“

„Papperlapapp, wir gründen eine neue Gruppe, die auch beachtet gehört! Alle, die dort für Gleichberechtigung und Anerkennung demonstrieren, sich schrill gestalten oder auffällig präsentieren, sind jung. Und all die haben auch Eltern und Großeltern. Wo sind die denn? Wir setzen ein Zeichen für Nächstenliebe im wörtlichen Sinne! Dazu muss man nicht aus dem gleichen Stall kommen.“

„Darf ich mal daran erinnern, dass wir Aufregung und Anstrengung vermeiden sollen, ärztlich verordnet. Dass hier jemand eine neue Hüfte benötigt. Dazu kommen Diabetes, Herzinsuffizienz. Klingt nicht gerade sehr nach Kur und vernünftig. Frage mich, was unsere Ärzte dazu sagen?“

„Gestatte eine weitere, ist denn einer unserer Enkel auch dabei?“

„Wir sagen unseren Ärzten ja nichts. Wir schwänzen unser Altsein! Unvernünftig sein gehört zum Widerstand. Das Leben hat mit uns noch was vor! Und was unsere Enkel anbelangt, jeder nach seiner Fasson, hat schon der Alte Fritz gesagt oder so ähnlich…“

Alle drei lachten und fingen an, lebhaft zu diskutieren, sie machten Pläne, besprachen Ideen und amüsierten sich.

Feixend wurde die Zeitung herum gereicht und alle flachsten wie Schulmädchen, welchen bedeutenden Platz sie in der Demo einnehmen würden.

„Ich hole ´ne Flasche Schampus, dann diskutiert es sich leichter.“

„Pass´ aber auf, dass du den Rollator nicht gegen die Wand fährst …“

Jauchzen erfüllte die Wohnküche. Durch das offene Fenster lachte die alte Sonne mit. Der Lärm scholl über den grünen Innenhof hinaus ins bürgerliche Wilmersdorf.

***

„Ja, bitte von dem Organza in goldfarben auch noch drei Meter. Dieser Stoff dort, der aussieht wie Leder, ist der starr oder elastisch und wie viel kostet der Meter?“

Die Verkäuferin machte ein zischendes Geräusch: „Liegt zwei breit zum Schuss und kostet je 9,40 ohne Verschnitt…. Er ist natürlich elastisch, aber franst nicht aus, Chemiefaser!“

„Und dann hat er einen Schuss?“, Marga lachte, „Geben Sie sechs Meter. Und wissen Sie,  was ich auch sehr keck finde, die Riesenknöpfe dort.“ Sie zeigte in das Regal hinter der Bedienung.

„Keck?“ Die Verkaufskraft zog eine Braue hoch.

„Ja, junges Fräulein, keck! Brauchen Sie einen Duden?“

Die junge Frau eilte zum Regal und holte die Schachtel vom Bord, an der ein tellergroßer bunter Knopf befestigt war.

„Es gibt diese Riesenknöpfe in einfarbig schwarz, blau, rot, gelb und in diesem bunten Farbgemisch“, näselte sie herablassend beim Öffnen der Schachtel.

„Ich nehme je einen roten, blauen und bunten.“

Breit lächelnd verließ Marga mit dem Eingekauften den Stoffladen auf der Frankfurter Allee und stieg ins wartende Taxi.

***

„Benny, du wirst mir doch eine Stange an das Fahrrad schweißen können, das kann doch nicht so schwer sein!“, sie fuchtelte mit den Armen ausladende Kreise.

„Ist es auch nicht, Oma, aber es entspricht dann ja nicht mehr den Sicherheitsvorschriften.“ Benny kniff die Lippen fest zusammen.

„Du kannst sie  nach unserem Einsatz wieder entfernen. Sei doch nicht so spießig. Man muss im Leben auch mal jenseits der Norm agieren, wir sind doch keine Roboter.“

„Aber wenn du stürzt? Ich könnte es mir nicht verzeihen.“ Er hatte seine Stirn im Waschbrettmodus gefaltet.

„Mensch Benny, es sind Dreiräder!“, beschwichtigte ihn seine Oma und lächelte verschmitzt. Ihre Augen funkelten wie die des Teufels Großmutter, die ja bekanntlich gut in Ausreden war.

„Aber mal was anderes, Benny, hast du eigentlich eine Freundin?“ Benny stöhnte. Demonstrativ hielt er sich die Ohren zu. Gegen seine Omi hatte er nie eine Chance. Dann umarmte er sie. „Ja! Und ich stelle sie dir nächste Woche mal vor. Du wirst staunen.“, er räusperte sich kurz, „Zu wann sollen die Räder fertig sein?“

„Übermorgen!!! Alle drei! Und wehe nicht, sonst jibt it Dresche.“ Nun lachten sie beide herzhaft.

***

„Ich bin so aufgeregt. Sie werden uns auslachen. Wir machen uns zum Gespött der Leute.“

„Gespött? Wenn wir Glück haben, werden wir wie immer übersehen!“

„Wer bitte, soll uns, so wie wir uns ausstaffiert haben, übersehen? Es wird megapeinlich.“

„Nein, nein, nein! Nicht zum Gespött und auch nicht peinlich, sondern die Vorhut einer ganzen Generation werden wir sein, die man dabei ist, zu vergessen. Das geht so nicht! Also: Power to the people! The old people!”

„Aber meinst du nicht, die Leute werden angesichts unserer Oberteile erblinden? Man sieht alles!“

„Ich sage immer: Eine Handvoll ist fein, zu viel ist gemein…“

Alle drei quiekten, bekamen kaum Luft.

„Die Hose kneift mich an einer Stelle, die ich schon vergessen hatte!“

Nun waren sie erst recht nicht mehr zu halten und gackerten und alberten.

Die Sektflöten klangen gefährlich laut beim Anstoßen und signalisierten, dass sie startklar waren.

***

Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Die ersten Wagen hämmerten ihre Elektrobeats hart über den Ku-Damm und bogen in den Tauentzien ein, vorbei an der Gedächtniskirche.

Ein Tross Journalisten bewegte sich plötzlich in entgegengesetzter Richtung. Hastige Rufe, eilige Kommandos füllten die Lücken zwischen den stampfenden Bässen. Mehr und mehr liefen eilig von der Pressetribüne hinab zu einem konkreten Ziel.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich eine gewisse Kunde. Auch Fernsehteams setzten sich in Trab. Man hatte etwas aufgeschnappt, was unbedingt jeder zuerst sehen, festhalten und senden oder berichten wollte.

Auf Dreirädern für Erwachsene, die mit einem Korbwagen versehen waren, fuhr ein Trio Damen in der Kolonne der Tieflader und LKW. Sie hatten bunte durchscheinende Kleider an. Jede trug eine andere Farbe. Man sah Haut und Busen. Die Beine waren mit hautengen Lederleggings bedeckt, wie sie Catwoman gerecht geworden wären. Jedenfalls sah das Material wie Leder aus. Die drei fuhren nebeneinander und wirkten wie Magierinnen aus einer anderen Welt. Der bunte glitzernde Organza-Stoff flatterte ihnen als meterlange Schleppe nach. Der Schweif glitzerte und funkelte im Tanz mit dem verliebten Wind. Die Frisuren der Damen waren fast 50 cm hoch und flimmerten. Ihre Gesichter waren mondän geschminkt. Große Schmetterlinge flirrten als Wimpern über dunkel gerahmte Augen.

Marga jammerte immer wieder leise: „Meine Hüfte, meine Hüfte!“ Und Ursula zischelte: „Durchhalten! Busento raus!“

Auf den Einkaufswagen vor den Lenkern waren Boxen befestigt, aus denen Musik drang. Amerikanischer Swing aus den 50ern paarte sich mit deutschen Schlagern jener Zeit. Benny Goodman , Doris Day, Dean Martin, Frank Sinatra wechselten sich ab mit Conny Froboes, Dalida, Alexandra, Ralf Bendix und Klaus Havenstein und vielen anderen.

An den beiden äußeren Fahrzeugen waren Stangen montiert, die je ein Plakat trugen.

Das Alter fragt nicht nach Geschlecht, im Alter ist dir Liebe Recht!

Eure Power-Omis!

Um die kleine bunte Formation versammelte sich eine große Gruppe junger Frauen und Männer, wie Bienen um ihre Königinnen. Diese Christopher-Street-Day-Parade hatte ihre Sensation und alle sangen laut im Chor:

Que sera, sera

whatever will be, will be

the future’s not ours to see

Que sera, sera

what will be, will be…*

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*1956 Ray Evans und Jay Livingston

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