Von Claudia Aristov

 

Seufzend legte Mrs. Smith die Abendzeitung zur Seite und gab sich trübsinnigen Gedanken hin, während Regen unerbittlich an die Scheiben des adretten Wintergartens klopfte. Mrs. Smith war eine merkwürdige kleine Frau. Mit ihren ängstlich dreinblickenden, dunklen Augen und dem winzigen Kopf erinnerte sie auf geradezu frappierende Weise an eine Wachtel. Das ruckartige Bewegen des Kopfes, insbesondere bei Aufregung, unterstrich diesen Eindruck ebenso wie die Wahl ihrer Garderobe. Mrs. Smith bevorzugte erdfarbene Töne, ganz so, also wolle sie mit der Tristesse des Hauses verschmelzen.

Nochmals glitt Mrs. Smith Blick über die Annonce: Gemütliches Häuschen im mittelalterlichen Hügeldorf La Roque sur Cèze kostengünstig zu vermieten. Wenige Worte nur und schon schwelgte ihr Geist in den wundervollsten Bildern: Olivenhaine, deren Böden von rotem Mohn übersät waren, wechselten sich mit endlosen Lavendelfeldern ab, während verwunschene Schlossruinen über verschlafene Bergdörfer wachten, deren pittoreske Gassen sich träge einen Hang hinabschlängelten. So musste das Paradies sein.

Schon lange hegte Mrs. Smith eine unbändige Sehnsucht nach den Weiten der Provence. Ihr letzter Versuch, eine solche Reise ihrem Mann anzudienen, lag 15 Jahre zurück. Doch, besonnen und genügsam wie Mr. Smith nun einmal war, riet er dringend von der Verwirklichung einer solch törichten Idee ab, die zudem seiner ausgeprägten Neigung zur Sparsamkeit zuwiderlief. Stattdessen schenkte er seiner Frau zum Geburtstag Marcel Pagnols Kindheitserinnerung nebst aufmunternden Worten: „Glaub mir Liebes, die Realität würde dich nur enttäuschen. Sie ist nie so glanzvoll wie die Phantasie.“

Es mutete sie ein wenig seltsam an, das Wort Phantasie ausgerechnet aus dem Munde ihres pedantischen Gatten zu hören. Es schien so gar nicht zu ihm zu passen. Gleichwohl hatte er bestimmt Recht; es konnte gar nicht anders sein. Nie wäre es Mrs. Smith in den Sinn gekommen, an dem Wahrheitsgehalt seiner Äußerungen zu zweifeln. Und auch dieses Mal schien er nicht fehlgegangen zu sein. Denn Mrs. Smith liebte, ja lebte, dieses Buch, las es wieder und wieder, bis die Seiten vergilbt und abgegriffen waren. Unter dem Zirpen der Zikaden sprang sie über Wiesen und Hügel, spürte das weiche Gras unter ihren Füßen und atmete den betäubenden Duft der Lavendelfelder.

Nie hätte Mrs. Smith den Versuch gewagt, allein zu verreisen, dafür hatte ihr Mann sie in den mehr als 40 Ehejahren viel zu gut erzogen. An dem stets übellaunigen Mr. Smith, ein Umstand, der eindeutig und ausschließlich einer sich zunehmend desaströs gestaltenden geopolitischen Lage geschuldet war, gab es, abgesehen von einem gewissen Hang zur Rechthaberei und Polygamie, eigentlich nichts auszusetzen. Er war ein vernünftiger Mann, der das Geld zusammenhielt und Mrs. Smith schon vor so mancher Torheit, wie beispielsweise dem sinnlosen Erwerb einer Handtasche aus echtem Leder, bewahrt hatte. Sie konnte wirklich dankbar sein, dass er sie geheiratet hatte und vergalt es ihrem Gatten mit treuer Hingabe.

Mrs. Smith studierte die Kleinanzeigen erneut. Neben der charmanten Einladung ins romantische Hügeldorf hatte eine weitere Annonce ihre Aufmerksamkeit gefesselt.

Sie straffte die Schultern, und vielleicht zum ersten Mal in all den Jahrzehnten glomm ein Hauch von Selbstachtung in ihren Augen auf, während sich gleichzeitig ihre Züge verhärteten. Der ansonsten schlaffe Mund, fest zusammengepresst, bildete eine dünne, weiße Linie, und über ihrer Nasenwurzel erwuchs eine steile Falte.

Ja, sie würde ihrem Mann diese Anzeige zeigen und ihm gleich übermorgen früh ihren Wunsch antragen. Sie wollte dies mit besonderer Behutsamkeit tun, so, wie es sich für eine treusorgende Gattin geziemte, die gleichzeitig dem schwachen Herzen ihres Ehemannes Rechnung zu tragen hatte.

Nun aber galt es, sich abfahrbereit zu machen, musste sie doch bei der schon sehr betagten aber nichtsdestoweniger äußerst vitalen Tante ihres Mannes nach dem Rechten sehen. Tante Agnes, wie Mrs. Smith sie in – für sie unüblicher – zärtlicher Zuneigung nannte, gehörte zu jenen unverwüstlichen Naturen, denen weder Weltkriege noch sämtliche Zähne der Zeit etwas anzuhaben vermochten. Sie lebte, nein residierte, einen Ort weiter in einer schon etwas heruntergekommenen Villa, aus der sie sich partout nicht vertreiben lassen wollte – selbst nicht von Mr. Smith, der um den Wert der Immobile wusste, sich aber an der Hartnäckigkeit seiner Tante die Zähne ausbiss.

Abgesehen davon, dass Mrs. Smith diese kleinen Ausflüge sehr gelegen kamen, da sie sie mit einigen, selbstredend notwendigen, Besorgungen zu verbinden wusste, kostete sie ihre seltenen Logierbesuche und die damit verbundenen Plauderstunden mit äußerster Hingabe aus. Ja, sie labte sich daran, so wie sich eine Rose am ersten Morgentau erquickt.

Dies galt umso mehr, als dass Mr. Smith seiner werten Gattin sehr eindringlich und unmissverständlich erörtert hatte, dass Kinder „laut, schmutzig und unwirtschaftlich“ seien. Mrs. Smith vermochte sich dieser Argumentation selbstredend nicht zu verschließen und verzichtete, wenngleich auch mit großem Kummer, auf Nachwuchs. Umso mehr wünschte sie sich, Tante Agnes häufiger und länger besuchen zu können. Doch so sehr sie ihrem Gatten auch bedeutete, wie kostbar jene seltenen Momente für sie waren, stieß ihr Ansinnen auf vehemente Ablehnung bei Mr. Smith, der bezüglich seines leiblichen Wohls ein wenig heikel war und es gar nicht schätzte, die vorgekochten und im Kühlschrank hinterlegten Mahlzeiten selbsttätig aufwärmen zu müssen.

Auf den der Gesundheit so zuträglichen Johanniskrauttee allerdings würde er dieses Mal verzichten müssen, wie Mrs. Smith ungewohnt spontan und nicht nur wegen der fortgeschrittenen Stunde entschieden hatte. Überhaupt rüttelten abends und besonders des Nachts, dann, wenn die Dämonen der Dunkelheit die lichten Geister der Vernunft erfolgreich in die Flucht treiben, frevlerische, ja geradezu sakrilegische, Gedanken an den Gitterstäben ihres Bewusstseins. In solchen Momenten fragte sie sich, weswegen ein Mann, der Zeit seines Lebens den Verzicht predigte, ja ihm geradezu huldigte, überhaupt den Wunsch hegte, hundert Jahre alt werden zu wollen. Für einen kurzen Moment umwehte eine Strophe aus Heines Wintermärchen ihren Geist. Doch sie tat dies mit äußerster Flüchtigkeit, so dass Mrs. Smith ihrer nicht habhaft werden konnte.

Ein wenig schwerfällig erhob sie sich aus ihrem Weidenkorbsessel. Es wurde Zeit, sich in einen der überfüllten Busse zu zwängen. Die Inanspruchnahme eines Taxis wäre einem Frevel gleichgekommen und hätte des Weiteren die Missachtung von Mr. Smiths Credo bedeutet: Spar in der Zeit, so hast du in der Not.

Mit einem abgekauten Bleistiftstummel, auch hier wurde geknausert, umrandete Mrs. Smith großzügig das Objekt ihrer Sehnsüchte. Dann legte sie die Zeitung gut sichtbar auf den Esstisch, an dem bereits für eine Person aufgedeckt war. Eine Flasche fränkischer Bocksbeutel nebst Glas sowie ein zartes Sträußchen aus Vergissmeinnicht und weißen Chrysanthemen, an das sie im letzten Moment noch gedacht hatte, komplettierten das geschmackvolle Arrangement.

Mrs. Smith ergriff die bereitstehende Reisetasche und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Als sich Mrs. Smith, wie vereinbart, zwei Tage später ihrem durchaus nicht bescheidenen Heim näherte, stellte sie eher interessiert als schockiert fest, dass vor ihrem Haus ein Notarztwagen parkte.

Unscheinbar, wie eh und je, und deswegen gänzlich unbeachtet, betrat sie das Haus. Und doch hatte sich etwas verändert. Der Schritt war zielgerichtet und ihre Miene strahlte eine nie gekannte Festigkeit aus. Stimmengewirr umflorte ihr Ohr.

„.. hat sich jetzt erst getraut anzurufen.

„War ohnehin sofort tot.“

„Könnte eine Überdosis Digoxin gewesen sein.“

„Quatsch. Ganz klar zu viel Spaß gehabt. Kein Wunder in dem Alter und noch dazu mit Herzproblemen.“

„Na ja, klug war’s nicht – aber vermutlich echt geil! So gesehen: ein starker Abgang und mit Sicherheit nicht der schlechteste.“ Die Intonation des Sanitäters drückte unverhohlene Bewunderung aus.

„Ja, der hat es gestern Abend richtig krachen lassen, der alte Knabe. Und dann gleich drei, äh, Damen.“

Auf dem Tisch lag noch immer die Zeitung. Ein Artikel erläuterte die stimmungsaufhellenden Eigenschaften von Johanniskraut nebst Warnung, dass eben dieses Kraut die Wirksamkeit einiger Medikamente deutlich einschränken könne. Desgleichen müsse aus eben diesem Grunde nach Beendigung einer kurmäßigen Einnahme von Johanniskraut eine Dosisanpassung anderer Medikamente erfolgen. Ansonsten bestehe die Gefahr einer Überdosierung. Direkt oberhalb der Einladung ins mittelalterliche französische Hügeldörfchen aber fand sich folgende Anzeige:

 

Club Esmeralda

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