Von Ingo Pietsch

Ich war damals fünfzehn gewesen und wohnte mit meinen Eltern in einem dieser Viertel am Rande der Stadt mit dreistöckigen Wohnblocks.

Es gab zwar einige Spielplätze, wo ich mich mit meinen Freunden traf, die waren aber meistens von älteren Jugendlichen belagert und die verjagten uns dann.

Also gingen wir in die Stadt. Vorbei an einem stillgelegten Freibad und durch ein kleines Waldstück.

Meine Eltern mochten nicht, wenn wir querfeldein gingen und nicht die Hauptstraße entlang. Sie meinten, ich wäre ja schon ein großer Junge, aber es könnte ja sonst was passieren.

Ich versicherte ihnen dann immer, dass mich die „Mädels“ beschützen würden. Was aber auch nicht viel half.

Die Mädels waren Tülay aus dem Erdgeschoss und Nina von gegenüber.

Mit denen war ich meistens unterwegs und wir gingen in dieselbe Klasse.

Meine Eltern hatten auch nichts dagegen, weil sie wussten, dass wir uns alle benehmen konnten.

Damals, in jenem Sommer, hatte es diesen einen schrecklich heißen Tag gegeben.

Bereits am frühen Morgen brannte die Sonne derart, dass man schon bei der geringsten Bewegung anfing zu schwitzen.

Je mehr man trank, desto schlimmer wurde es.

Es war mitten in den Ferien und ich langweilte mich tierisch, da meine Eltern beide arbeiten mussten und ich allein zu Hause war.

Das Schwimmbad befand sich am anderen Ende der Stadt und wenn ich mit dem Fahrrad gefahren wäre, hätte ich wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen.

Ich beschloss, bei Nina zu klingeln und sie zu fragen, ob sie mit in die Stadt wollte, um ein Eis essen zu gehen.

„Klar komme ich mit. Ich muss noch ein bisschen aufräumen, dann können wir los. Wartest du bitte hier?“

Sie lehnte die Tür nur an. Ich hörte Gläser klirren und ablaufendes Spülwasser. Ich war noch nie bei ihr in der Wohnung gewesen. Ihr Vater arbeitete auf dem Bau und kam erst spät abends wieder. Eine Mutter hatte Nina nicht mehr. Sie war als kleines Kind mit ihrem Vater aus Polen gekommen und kümmerte sich nach der Schule immer um den Haushalt.

Und was mir aufgefallen war, dass man die beiden kaum miteinander reden hörte. Unsere Wände waren sehr dünn, trotzdem drangen nur manchmal die Geräusche des Fernsehers oder der Klospülung in unsere Wohnung. Nicht mal Radiomusik.

Mein T-Shirt und meine Hose klebten mir am Leib.

Nina auch. Ich fand sie sehr hübsch mit ihren schulterlangen braunen Haaren mit dem leichten Stich ins Orange. Aber sie lachte nie. Sie lächelte auch nicht. In der Schule war sie immer konzentriert und wenn Pausen waren, blickte sie nur nachdenklich in die Luft, wenn sie nicht mit uns redete.

Nina schlug vor, noch Tülay abzuholen.

Und schon standen wir an ihrer Tür. Hier roch es immer nach fremdländischen Gewürzen. Ihr Vater öffnete. Er fragte, was wir wollten und sagte: „Sie kann leider nicht mit.“

Tülay schob sich an ihm vorbei und meinte: „Baba, ich kann für mich selbst entscheiden! Kommt, wir gehen.“ Und schon stürmte sie nach draußen.

„Gel hemen geri!“, rief er ihr hinterher. Seine Frau hielt ihn an der Schulter fest. Er riss sich los und verschwand wieder. „Gäht ruhik“, sagte sie in gebrochenem Deutsch.

Tülay stritt sich oft mit ihrem Vater.

Sie hatte uns einmal erzählt, dass sie einem Fremden versprochen war.

Wenn sie mit der Schule fertig und siebzehn war, würde sie heiraten müssen. Deswegen benahm sie sich so rebellisch.

Tülay wartete draußen auf uns im Schatten des Müllcontainerhäuschens.

Hier war es natürlich auch nicht kühler und außerdem stank es bestialisch.

„Wir wollen in die Stadt. Eis essen“, sagte ich. Hier gab es leider keinen Supermarkt. Nicht mal einen Tante-Emma-Laden.

„Hauptsache weg von hier!“, meinte sie und wir gingen los.

Sie trug ein langes Oberteil und eine lange Hose aus dunklem, leichtem Stoff und kein Kopftuch, wie ihre Mutter es trug. Sie hatte sich sogar die Haare kurz geschnitten und eine Strähne blau gefärbt, um ihren Vater zu ärgern.

„Ist dir nicht heiß, mit den schwarzen Sachen?“, fragte ich sie.

Sie sah mich von der Seite an. Nicht eine einzige Schweißperle stand ihr auf der Stirn. „Willst du etwa, dass ich mich ausziehe?“, fragte sie ernst.

„Ich, nein, ich“, stammelte ich. Das wäre mir nie in den Sinn gekommen, wir waren doch nur Freunde.

„Ich wollte dich nur ärgern“, meinte sie dann scherzhaft. Sie breitete die Arme aus und tat so, als wolle sie fliegen.

Nina fand das eher weniger witzig mit dem Scherz und grummelte etwas in sich hinein.

Wir suchten auf dem Weg immer wieder den Schatten der spärlich gesäten Bäume. Bis zur Abkürzung durch das Waldstück war es noch ein Stück hin.

Dann tauchte der Maschendrahtzaun des alten Freibads vor uns auf.

Die Zufahrt und die Umkleiden befanden sich auf der anderen Seite des Grundstücks. Alles war zugewuchert mit Büschen und Birken. Das Gras war mindesten einen Meter zwanzig hoch und man konnte nur den Sprungturm sehen. Zumindest den Dreier und den Fünfer.

Die weiße Farbe war fast ganz abgeblättert.

„Seid ihr schon mal auf dem Gelände gewesen?“, wollte Tülay wissen.

Nina sagte wie immer nichts und ich antwortete: „Meine Eltern sagen, es wäre lebensgefährlich.“

„Habt euch nicht so, da vorne kommt gleich eine Lücke. Da können wir durchschlüpfen.“ Sie rannte vor und war schon im hohen Gras verschwunden.

Nina zuckte mit den Achseln und folgte ihr. Ich hatte also keine andere Wahl.

Wir kämpften uns durch das Dickicht und an den laut zirpenden Grillen vorbei.

Die Umkleiden waren auch schon halb verfallen. Teile der Dachverkleidung hingen herunter, die Scheiben waren teilweise kaputt und man konnte sehen, dass ab und zu ein Feuer angezündet worden war. Die Wege waren bis auf ein paar Grasbüschel frei und das Schwimmerbecken gut zu überschauen.

Erstaunlicherweise war das Becken fast vollständig mit Wasser gefüllt. Das war bestimmt noch Tauwasser vom Winter und dem vielen Regen im Frühjahr. Wahrscheinlich war der Abfluss mit Blättern und Unrat verstopft, sodass das Becken immer voll blieb.

„Und, wollen wir uns abkühlen?“ Tülay starrte in das Becken. Es kam mir seltsam vor, dass ausgerechnet sie die Frage gestellte hatte. Sie nahm ja auch nicht am Schwimmunterricht in der Schule teil.

Man konnte ungefähr zwei, drei Meter tief sehen, dann begann eine Schlammschicht.

„Gehst du etwa zuerst da rein?“ Ich war skeptisch.

„Ich?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich setze mich da hinten in den Schatten. Aber ihr beide könntet ja eine Runde schwimmen.“

„OK“, sagte ich gedehnt. „Aber ich habe keine Schwimmsachen.“

„Jetzt stell dich nicht so an.“ Tülay saß unter einer kleinen Birke und nickte mir zu.

Neben mir war Nina dabei sich auszuziehen. Sie streifte ihre Hose ab und trug nur noch BH und Slip. Sie sah für mich auch nicht wie ein Mädchen aus, sondern wie eine Frau.

Sie drehte sich weg und glitt ins Wasser.

Ich konnte noch die vielen blaugelben Flecken auf ihren Armen und ihrem Rücken sehen, bevor sie schon eine halbe Bahn geschwommen war.

Ich wusste, dass die Verletzungen mit ihrem Vater zu tun hatten. Aber sie war dem Thema immer wieder ausgewichen, wenn ich sie darauf ansprach und sie meinte es sei alles in Ordnung.

„Hast du keine Angst?“, rief ich.

Sie schüttelte den Kopf. „Es ist schön kühl hier drinnen.“

Ich entkleidete mich ebenfalls bis auf meine Unterhose und sprang hinterher. Das Wasser war im ersten Moment eiskalt, aber nach den ersten Schwimmzügen erfrischend.

Ich versuchte Nina einzuholen, doch sie war schon zum Sprungturm geschwommen und zum Einmeterbrett hochgeklettert.

Vorsichtig wippte sie auf dem Brett. Es knarrte und quietschte furchtbar.

„Spring nicht. Du weißt nicht, was alles im Schlamm stecken könnte.“

Das interessierte sie allerdings nicht. Sie nahm Anlauf und sprang. Sie machte eine Bombe und Wasser spritzte mir ins Gesicht.

Sie tauchte so dicht neben mir auf, dass es mir fast unangenehm war. „Das solltest du auch mal probieren.“ Und sie lächelte sogar!

Ich tat es ihr nach und stand schließlich am Ende des Brettes. Ich hüpfte ein paar Mal auf und nieder, dann brach das Sprungbrett hinter mir ab und ich fiel ins Wasser.

Erschrocken tauchte ich schnell wieder auf.

Tülay stand am Beckenrand: „Ist dir was passiert?“

„Nein, alles in Ordnung.“ Ich wischte mir meine Haare aus dem Gesicht.

Das hätte auch anders ausgehen können.

„Dann müssen wir wohl noch höher gehen.“

„Bist du verrückt? In der Pampe könnte alles Mögliche sein. Ein Auto zum Beispiel.“

„Ja, sicher.“ Nina zog mich hinterher.

Wir kletterten tatsächlich auf den Dreimeterturm. Dort gingen wir bis an den Rand.

Ich beugte mich vor: Tülay sah von hier oben wie eine Ameise aus.

Nina tat so, als wolle sie mich schupsen. Ich klammerte mich an ihr fest und irgendwie berührten sich unsere Lippen.

Wir waren uns so nah, dass ich Gänsehaut bekam. Es war gleichzeitig angenehm und unangenehm.

Und plötzlich war sie verschwunden und ich hörte ein lautes Platschen. Sie hatte sich einfach rücklings fallen gelassen.

Ich sah ihr nach. Sie winkte zu mir hoch. „Los, es kann gar nichts passieren.“

Ich holte tief Luft und kniff die Augen fest zu. Dann sprang ich hinterher.

Der freie Fall war herrlich.

Wir sprangen an dem Nachmittag noch ein paar Mal vom Dreier. Den Fünfer aber mieden wir.

Es war bei dem einen Kuss geblieben und wir haben auch nie mehr darüber gesprochen, denn kurz vor Ferienende war Nina mit ihrem Vater einfach weggezogen. Sie hatte sich nicht einmal verabschiedet.

Wir zogen ein Jahr später in die Nachbarstadt. Leider habe ich weder Nina, noch Tülay je wiedergesehen.

Ich hatte sie besuchen wollen, doch Tülay wohnte nicht mehr bei ihren Eltern und die meinten, es wäre besser, wenn sie keinen Kontakt mehr zu ihren alten Freunden hätte.

Aber es war ein ganz toller Sommer `94 gewesen.