Von Andrea Jerger

Schweigend saßen wir da. Ich konnte seinen warmen Atem in meinem Nacken spüren, sog den wohligen Duft seines herben Parfums mit jeder Faser in mich ein. Ich wünschte, die Zeit würde still stehen und ich könnte diesen einen Moment für immer festhalten, wie ein Bild auf einem Blatt Papier. Dieser Moment, ich hielt daran fest und ließ nicht los. Niemals.

 

Nicht einmal zehn Jahre später.

 

Ich saß auf der Veranda und dachte an ihn. Dachte an sein Lächeln, seine gebräunte Haut und die haselnussbraunen Augen. Manchmal, wenn ich träumte, da sah ich ihn vor mir stehen, zum Greifen nah. Im nächsten Moment war er wieder verschwunden und ich stand da. Allein.

 

Doch ich sehnte mich nicht nur in einsamen Momenten nach ihm. Selbst wenn Freunde und Familie um mich herum waren, konnte ich nur an Eines denken um meinem öden Alltag zu entgehen. Und dann wünschte ich plötzlich er würde vor mir stehen, wie in einem schlechten Film. Ich stellte mir oft vor, wie ich durch einen überfüllten Bahnhof lief, an all den hektischen Menschen vorbei, direkt in seine Arme. Oft genug spielte ich dieses Szenario in meinem Kopf durch. Mein eigenes Drehbuch unter meiner Regie.

 

Ich wusste es war verrückt, ich wusste es würde mich irgendwann zerstören. Von Anfang an. Eine amour fou, zum Scheitern verurteilt. Und dennoch küssten wir uns stunden-, manchmal sogar tagelang, über Monate hinweg. Wir sprachen nie über die Zukunft, geschweige denn von Familie, Kindern oder einem Eigenheim. Wir lebten den Moment. Wir liebten den Moment. Keine Sekunde wurde vergeudet, und so begehrten wir einander einen ganzen Sommer lang.

 

Es war magisch. Es war verrückt. Es war Liebe.

 

Selbst als ich heiratete und Kinder bekam. Das Gefühl war nie wieder dasselbe. Ich war glücklich, ich war gesund. Doch ich verspürte nie wieder eine vergleichbare Erregung, kein Hochgefühl dieser Art. Manchmal fühlte ich mich leer, innerlich. Ich war wie eine Gefangene meiner selbst und wollte ausbrechen. Ich wollte mich wieder lebendig fühlen, frei, ungezügelt. Doch ich wusste, ohne ihn war das nicht möglich. Nie wieder.

 

Und dann, eines Tages, stand er vor mir. Wie aus dem Nichts. Wie aus meinem eigenen Drehbuch, welches ich über die Jahre perfektioniert hatte. Ein dramaturgisches Meisterwerk. Ich konnte es nicht fassen. Es war schlicht und einfach nicht möglich. Er war immer ein weit entfernter Traum, eine Wunschvorstellung die niemals real werden konnte. Es war, als sei er aus dem Gefängnis meiner Fantasie ausgebrochen. Ich hielt ihn dort beinahe ein Jahrzehnt gefangen.

 

Er war immer noch groß und gut gebaut. Eine dunkle Strähne seines welligen Haars fiel ihm ins Gesicht und verdeckte einen Teil der Sommersprossen in seinem Gesicht. Seine Haut war gebräunt, wie von der Sonne geküsst und betonte seinen athletischen Körper noch mehr. Ein Bild von einem Mann.

 

Ich schluckte.

 

Würde er mich wieder erkennen? Was würde nun geschehen? Egal, wie oft ich dieses Szenario durchspielte – die Realität war immer vollkommen anders. Ich fühlte mich hilflos, wie ein Tier in der Falle. Sollte ich den ersten Schritt machen? Oder sollte ich einfach umdrehen und gehen. So als sei nie etwas geschehen. Ich könnte mich wieder zurück in meinen Alltag flüchten und weiter träumen.

 

Plötzlich sah ich etwas an seiner linken Hand aufblitzen. Ein schlichter, silberner Ring stach mir sofort ins Auge. Ich sah instinktiv weg und blickte ihm nun direkt in seine ruhigen, haselnussbraunen Augen. Er lächelte.

 

„Hallo, schön dich wieder zu sehen. Wie geht es dir?“

 

Der Bann war gebrochen. Und ich brachte keinen Ton heraus. Ich dachte an die vielen Dingen die ich ihm sagen wollte. Wie es mir ergangen war, wie sehr ich mich nach ihm sehnte. Ich wollte ihm von meiner Familie erzählen, meinem Ehemann und von meinen beiden Kindern. Meinem Vollzeitjob, den ich manchmal hasste, manchmal liebte. Wie jeder normale Mensch eben.

 

Und natürlich wollte ich ihm sagen, wie sehr ich mich all die Jahre nach im sehnte. Nach unseren Küssen, den zarten Berührungen. Es war der magischste Sommer meines Lebens.

 

Doch in diesem Moment realisierte ich, dass es vollkommen unwichtig war.

 

Er war ein Fremder. Ein normaler Mann der mir jeden Tag auf der Straße begegnen könnte, ohne dass ich ihn bemerken würde. Ich hatte mich jahrelang in diese Fantasie geflüchtet, eine dramatische Liebesgeschichte wie in einem schlechten Groschenroman.

 

„Danke, mir geht es fantastisch.“

 

Ich hörte nur wie automatisch die höflichen Floskeln aus meinem Mund sprudelten. Ich stand meinem wahr gewordenen Traum direkt gegenüber. Aber ich verspürt nichts. Rein gar nichts.

 

„Du bist immer noch wunderschön.“

 

Ich lächelte höflich. Meine Mutter hatte mich schließlich so erzogen. Er war immer noch ein Gentleman. Doch irgendwie zog er mich nicht mehr in seinen Bann. Ich realisierte plötzlich, dass er auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut war. Nicht mehr und nicht weniger. Ich war nun vollkommen desillusioniert, der Zauber war verschwunden und ich wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

 

Wir tauschten noch ein paar weitere höfliche Floskeln aus, dann verabschiedeten wir uns beide – mit einer Umarmung. Sie war weder zärtlich noch freundschaftlich. Irgendwie war ich erleichtert, gleichzeitig erfüllte mich ein Gefühl von Trauer. Er sah mich an und ich bemerkte, dass er mich küssen wollte. Verlegen drehte ich mich zur Seite. Ich wusste, es war falsch, denn ich war nicht mehr 17. Und ich war nicht mehr „ich“ von damals. Mir wurde plötzlich bewusst, wie vergänglich alles war.

 

Das Leben ist wie eine Achterbahn, mit Höhen und Tiefen. Manchmal erscheint uns Sicherheit und Bodenständigkeit wie ein langweiliges Übel und wir suchen nach „dem Kick“, der uns in ungeahnte Höhen katapultiert. Solange wir unten sind, warten wir darauf, dass es wieder bergauf geht. Wir sehnen uns nach Kurven und verrückten Wendungen in unserem Leben. Doch sobald wir ganz oben angekommen sind, wollen wir uns einfach nur fallen lassen. Zurück in die Normalität. Zurück in den Alltag zu unserer Familie und unseren Freunden.

 

So ist es auch mit der Liebe. Wir verlieben uns, wir küssen uns, wir kommen uns nah wie nie zuvor. Dann streiten wir uns, trennen uns, der Liebeskummer bringt uns beinahe um. Doch das Leben geht weiter. Wir entwickeln uns, werden zu den Menschen die wir sein wollen, verlieben uns neu, lernen zu vergeben, streiten und vertragen uns wieder und wieder. Und der Kreis schließt sich.

 

Als ich mich endgültig verabschiedete, fiel mir plötzlich ein Stein vom Herzen. Ich war wieder ich, erlöst von seinem Bann. Und ich verspürte ein Hochgefühl in meiner Brust, wie niemals zuvor.