Von Herbert Glaser

„Mama ist tot, stimmts?“ Der sechsjährige Thomas ließ unentwegt Spielzeugautos gegeneinander krachen.

Gerhard ging vor seinem Sohn in die Hocke und strich ihm zärtlich über die Haare. „Mama ist vom Pferd gefallen und hat sich am Kopf verletzt, aber sie ist nicht tot. Sie schläft sehr fest, das nennt man Koma. Ihr Körper versucht, sich dadurch selbst zu heilen.“

„Sie hat mich angeschaut, Papa.“ Mit feuchten Augen blickte er seinen Vater an.

„Du meinst … nach dem Unfall, als sie am Boden lag?“

„Sie hat mich direkt angeschaut, aber … sie war nicht da … das war nicht Mama.“

Gerhard hatte Mühe, seine Tränen zurückzuhalten.

„Die Ärzte tun alles, was sie können. Mama braucht jetzt viel Ruhe, um gesund zu werden … denk an Dornröschen.“

„Aber“, schrie Thomas, „Dornröschen hat hundert Jahre geschlafen!“

 

Zwei Tage später hatte sich Michaelas Zustand soweit stabilisiert, dass sie aus der Intensivstation verlegt werden konnte. Der Doktor brachte Gerhard und seine Schwiegermutter auf den neuesten Stand.

„Abgesehen von den Schwellungen im Gesicht ist sie physisch völlig gesund. Trotzdem hat sie das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.“

„Wie lange kann so etwas dauern?“, hakte Rosa nach.

„Manche Patienten wachen nach wenigen Tagen auf, andere bleiben jahrelang im Koma. Auch wenn im Moment nichts darauf hindeutet, so müssen wir doch einen Hirnschaden in Betracht ziehen … mit allen denkbaren Folgen.“

 

Als sie alleine waren, legte Rosa ihrem Schwiegersohn eine Hand auf die Schulter. „Der Glaube an Gott kann dir Halt geben.“

„Ich war schon lange nicht mehr in der Kirche, Rosa.“

„Wenn du nicht mit Gott reden kannst, dann sprich mit Michaela. Sie muss daran erinnert werden, dass sie hier ein Leben hat … dass jemand auf sie wartet … dass sie geliebt wird.“

„Und wenn sie unsere Liebe nicht zurückholt?“

„Sie wird sie zurückholen! Michaela hat sich an einen dunklen Ort verirrt. Wir müssen unsere Stimmen gebrauchen wie Taschenlampen, damit sie wieder zurückfindet.“

 

Langsam kehrte der Alltag zurück. Rosa kümmerte sich um Thomas, während sein Vater wieder arbeitete.

„Was ist los, Gerhard, du bist schon den ganzen Abend so seltsam, gibt es etwas, das du mir sagen möchtest?“ Thomas war bereits im Bett, als Rosa ihren Schwiegersohn ansprach.

„Es gibt tatsächlich etwas. Seit fünf Wochen tue ich alles, was mir möglich ist, um zu Michaela durchzudringen. Ich spreche jeden Tag mit ihr, spiele ihre Lieblings-CD`s und habe sogar einen getragenen Pullover von Thomas auf ihr Kopfkissen gelegt … nichts!“

„Gerhard, ich weiß wie schwer es ist, aber du musst Geduld …“ Mit einer Geste unterbrach er sie.

„Da ist noch etwas anderes, Rosa. Gestern habe ich Das gefunden.“ Er hielt ihr ein Hochzeitsalbum hin, auf dessen Einband Michaela mit einen anderen Mann zu sehen war.

Er schloss die Augen und erinnerte sich.

 

„Willst du mich heiraten?“ Gerhard kniete vor Michaela. Strahlend blickte sie auf ihn herab, dann wurde sie nachdenklich. „Du weißt, dass ich schon einmal verheiratet war? Wir hatten keine gemeinsame Zukunft und unsere Trennung war der richtige Schritt, aber …“

„Ich weiß“, gab Gerhard zurück, stand auf und küsste Michaela zärtlich.

 

„Du hast doch vor Michaela sicherlich auch schon eine Frau geliebt. Das hier ist eine alte Geschichte, Gerhard. Michaela war damals doch noch so jung.“

„Die Mondlandung ist eine alte Geschichte, das hier ist etwas anderes! Du hattest recht, Michaela kann uns hören. Sie hat uns die ganze Zeit gehört, aber wir haben die falschen Dinge gesagt. Weißt du, warum das hier keine alte Geschichte ist? Ich habe heute an Michaelas Bett nur seinen Namen erwähnt, Sascha Kehl … und sie hat reagiert.“

Fragend starrte Rosa ihn an.

„Ihre Augen haben sich unter den Lidern bewegt und sie hat geblinzelt. Nach den vielen Wochen ohne Reaktion wäre es schon ein unglaublicher Zufall, wenn das nichts zu bedeuten hätte, meinst du nicht auch?“

„Was sagen denn die Ärzte dazu?“

Gerhard winkte ab. „Ich brauche keine medizinischen Daten, um zu wissen, dass es nicht um meine Liebe zu ihr geht, sondern … um Michaelas Liebe zu ihm.“ Gerhard straffte sich. „Ich möchte, dass du ihr über das frühere Leben erzählst, das sie geführt hat. Erinnere sie daran, wie sehr sie diesen Sascha geliebt hat.“

Rosa schlug die Hände vor das Gesicht und schüttelte energisch den Kopf.

„Es geht um ihr Leben, Rosa. Wir dürfen nichts unversucht lassen.“

„Wie du meinst, aber es wird weh tun … es wird dir weh tun, Gerhard.“

„Mag sein, aber es wird Zeit, endlich die Frau richtig kennen zu lernen, die ich geheiratet habe.“

 

Zwei Wochen später.

„Alle Tests deuten darauf hin, dass sich ihr Zustand verbessert. Sie sind auf dem richtigen Weg.“ Der Arzt lächelte aufmunternd. „Es fehlt meiner Meinung nach nur noch ein Impuls, vergleichbar dem Schlag, den sie auf den Kopf bekommen hat – natürlich nur im übertragenen Sinn. Ein einschneidendes Erlebnis, auch ein negatives, könnte alles ändern.“

Rosa sah Gerhard betreten an. Der zuckte niedergeschlagen mit den Schultern. „Dann werde ich diesen Sascha mal anrufen.“

 

„Hallo Micha … ich bin `s, Sascha.“ Er stand am Krankenbett und hielt ihre Hand, an dem sie ihren neuen Ehering trug. „Kann sie mich hören?“, fragte er, ohne sich zu Gerhard oder dem auch anwesenden Arzt umzudrehen.

„Deshalb habe ich Sie angerufen. Wir sind überzeugt, dass Michaela … „

„Sie hat auf meinen Namen reagiert, nicht wahr?“

„Es sieht so aus.“

„Mann, Sie müssen sie wirklich lieben … ich meine, wenn Sie mich anrufen.“

Gerhard musste all seine Selbstbeherrschung aufbieten, um ruhig zu bleiben.

„Wo sind denn deine schönen langen Haare“, sprach Sascha weiter mit seiner Ex-Frau, „Micha, hörst du mich … ich bin `s, Sascha.“

Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete Michaela die Augen.

„Es ist so hell“, stammelte sie blinzelnd mit brüchiger Stimme. „Sascha … du bist zurückgekommen.“

„Hallo Micha, wie geht es dir?“

„Was ist passiert … wo bin ich?“

„Du bist im Krankenhaus“, schaltete sich Gerhard in das Gespräch ein und trat an das Krankenbett, „du hattest einen Unfall, und …“

Michaela sah ihn verständnislos an. „Wer sind Sie?“

„Retrograde Amnesie“, begann der Arzt zu erklären, „ist bei posttraumatischen …“

„Moment mal“, unterbrach Sascha ihn, „ich verstehe kein Wort. Kann man das auch für jemanden erklären, der kein Hochschulstudium hat?“

„Eine Amnesie ist ein Erinnerungsverlust. Wenn sich dieser Verlust, so wie hier, auf die Zeit vor Eintritt der Störung bezieht, spricht man von rückschreitender – retrograder – Amnesie.“

„Aha“, kombinierte Sascha, „das heißt, sie kann sich an den Unfall nicht erinnern?“

„Mehr als das“, ergänzte Gerhard mit nur mühsam unterdrücktem Zorn. „Michaela glaubt offenbar, dass Sie sich gerade getrennt haben und nun zu ihr zurückgekehrt sind.“

„Ich werd ` verrückt!“

„Ich würde gerne einen Moment mit meiner Frau alleine sein.“

Widerwillig verließ Sascha das Zimmer, gefolgt von dem Arzt. Gerhard fixierte seine Frau.

„Erinnerst du dich an mich?“

„Sie sind die Stimme.“

„Welche Stimme?“

„Die Stimme aus meinen Träumen, ich bin mir ganz sicher.“

„Dann weißt du wieder, wer ich bin?“ Gerhard blickte erwartungsvoll.

„Ich erinnere mich … Sie sind einer der Ärzte.“

 

„Glaubst du, dass sie mich jemals geliebt hat?“ Gerhard saß zusammengesunken auf der Couch.

„Natürlich!“ Rosa legte so viel Überzeugungskraft wie möglich in ihre Stimme. „Michaela weiß, welches Glück sie mit dir hat.“

„Und er, liebt er sie immer noch?“

„Ich glaube nicht, dass er sie jemals wirklich geliebt hat.“ Ihre Stimme wurde sanft. „Du musst noch etwas Geduld haben, der erste Impuls durch Sascha war erfolgreich, sie ist aufgewacht. Nun sollte der nächste folgen, damit sie sich erinnert. Du weißt, was zu tun ist.“

 

Unruhig trippelte Thomas vor der geschlossenen Tür hin und her. Als Gerhard ihm aufmunternd zunickte, drückte er die Klinke herunter und betrat das Krankenzimmer.

Überrascht setzte Michaela sich in ihrem Bett auf. „Hallo, kleiner Mann.“

Thomas stürmte zu ihr, bereit für die erlösende Umarmung.

„Wer bist du denn?“, riss seine Mutter ihn aus allen Träumen.

Thomas schluchzte laut auf und stürzte aus dem Zimmer. Verstört blickte sie ihm nach.

 

Michaela versuchte sich zu erinnern. Die Bilder in ihrem Kopf waren jedoch wie Versteinerungen, die man mühsam aus einer Felswand herausschlagen musste.

 

Völlig verwirrt versuchte sie, aus ihrem Bett zu steigen … zu schnell für ihren geschwächten Körper. Alles um sie herum drehte sich, ihr wurde schwarz vor Augen. Gerhard versuchte noch, sie aufzufangen – zu spät. Hart schlug sie auf dem Boden auf.

 

Langsam kam Michaela wieder zu sich. Als sie endlich die Augen öffnete, entdeckte sie Sascha, der an der einen Seite ihres Bettes stand. Überrascht begann sie zu lächeln. „Sascha, was machst du denn hier?“

„Ich wollte nach dir sehen, du hattest einen Unfall … bist gestürzt, und …“

„Deswegen bist du extra gekommen … das ist sehr nett von dir, aber … wo ist mein Mann?“

Sascha schloss kurz die Augen und nickte dann Gerhard zu, der auf der anderen Seite des Bettes stand. Michaela drehte den Kopf zu ihm und begann glücklich zu lächeln. Mit tränennassen Augen beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie. „Schön, dass du wieder da bist, Schatz, wir haben dich so sehr vermisst.“

„Ich würde dich niemals verlassen, das weißt du doch“, tadelte sie ihn liebevoll. „Und wo ist Thomas?“

 

ENDE

 

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