Von Anne Ehrhardt

In meinem Magen macht sich ein Gefühl breit, wie ich es bisher nicht kannte.

Mulmig und schön zugleich.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich gleich übergeben muss oder laut loslache.

Alles in mir ist wie Pudding.

Meine Gehirnstränge sind nicht mehr im Stande klare Gedanken zu formulieren.

Is it love? Keinen Plan!

Wer weiß sowas schon mit sechzehn?

Aber ich bin süchtig danach.

 

Meine Eltern sagen, ich soll meine Jugend genießen. Mit dem Alter wird alles nur kompliziert und man sei nie mehr so frei. Doch ich fühle mich so gar nicht frei. Egal wo ich hinschaue. Ich sehe nur Verbote und Zwänge.

„Räum’ dein Zimmer auf.“

„Mach’ deine Hausaufgaben.“

„Sei spätestens um zwei Zuhause.“

„Keinen Alkohol für unter Achtzehnjährige.“

Ich kann es nicht abwarten endlich hier abzuhauen. Endlich mein eigenes Ding durchzuziehen. Endlich wirklich frei sein.

Ich liebe meine Eltern, keine Frage. Aber ich hasse die Kleinstadt, die sich meine Heimat schimpft.

Kein Fehltritt bleibt unbeobachtet, keine Entscheidung unkommentiert.

Meine beste Freundin Anja nehme ich natürlich mit. Und dann erobern wir die Welt.

 

„Das wird unser Sommer.“

„Diesen Sommer werden wir nie vergessen.“

Mit diesen Schlachtrufen starten wir in die Ferien. Es soll nach Rimini gehen. Der erste Urlaub ganz ohne die Eltern. Ich bin so aufgeregt, dass ich die letzten drei Nächte kaum schlafen konnte. Mama und Papa setzen mich und Anja am Treffpunkt ab. Die anderen Mädels sind auch schon da.

„Denkt an die Sonnencreme, ja? Dort unten darf man die Sonne nicht unterschätzen. Und passt schön aufeinander auf. Ruf mich gleich an, wenn ihr angekommen seid, ja? Und macht keinen Unsinn.“

Ich glaube zu bemerken, dass Mama Tränen in den Augen hat. Papa sitzt schon wieder halb im Auto. Hastig drücke ich den beiden jeweils einen Kuss auf die Wange, bejahe Mamas Bitten und murmele ein „Hab euch lieb“. Dann trete ich die Flucht an.

Die Fahrt mit dem Bus nach Italien dauert unfassbare 15 Stunden. Als wir endlich ankommen, kann ich meine Beine kaum noch spüren. Euphorisch stürzen wir in unser Zimmer. Das Hotel ist eine Barracke. Zu sechst teilen wir uns ein Vierbettzimmer, das schon für vier zu klein gewesen wäre. Doch wir können unser Glück kaum fassen.

Es folgen sieben Tage voller Strand und Sonne. Baden und Pizza essen. Partys und Alkohol. Tanzen bis uns die Füße schmerzen. Bis tief in die Nacht quatschen.

Einfach nur Spaß haben und lachen. So viel lachen.

Zwischendurch gibt es auch Streitereien, klar. Doch die sind schnell vergessen.

Noch nie in meinem Leben habe ich mich so leicht gefühlt.

 

Auf der Rückfahrt sind alle recht ruhig, nicht so aufgedreht wie bei der Anreise.

„Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich fand die letzten Tage einfach nur mega. Das sollten wir nächsten Sommer wieder machen. Vielleicht nach Kroatien oder Spanien?“

Die andere stimmen mir alle zu. Aber es wirkt halbherzig. Ich habe das Gefühl, dass es vielleicht nie wieder so sein wird wie jetzt und in mir macht sich Wehmut breit.

Doch das hält nicht lange an. Die Ferien sind noch lange nicht zu Ende und wir können es kaum erwarten, allen von unserer Reise zu berichten.

 

Kaum wieder in der Heimat angekommen, knüpfen wir direkt an die vergangene Woche an.

Wir fahren an den See, holen uns einen Sonnenbrand. Wir treffen uns im Park, quatschen und albern herum. Wir gehen tanzen, tragen viel zu knappe Oberteile und trinken ekelhafte Cocktails.

Und was andere denken, ist uns völlig egal.

Anja hat jetzt schon seit einer Weile einen festen Freund. Seit die beiden zusammen sind, sehen wir uns seltener. Und wenn wir uns sehen, dann spricht sie nur von ihm und wie verliebt sie sind.

„Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie mein Leben ohne ihn wäre. Als wir in Rimini waren, ist mir das erst so richtig klar geworden.“

Ich bin eifersüchtig. Auf sie, weil ich mich auch verlieben möchte, zum allerersten Mal.

Auf ihn, weil er so viel Zeit mit ihr verbringen darf.

Auch die anderen Mädels lernen Jungs kennen und flirten wie wild. Ich fühle mich manchmal zurückgelassen, als würde ich nicht mehr so ganz dazugehören.

Wir treffen uns jetzt regelmäßig mit einer Gruppe Jungs aus unserem Jahrgang. Rein optisch gefällt mir keiner. Ich bin wahrscheinlich zu wählerisch. Doch sie sind alle nett und anständig, keine Bad Boys. Mit Jan verstehe ich mich am besten Wir sind auf einer Wellenlänge.

Doch er ist kein Boyfriend-Material, eher so der Kumpeltyp.

 

Der Sommer vergeht langsam. Die Tage werden kürzer. Die Ferien neigen sich dem Ende zu. Meine Mädels bändeln nach und nach mit den Jungs aus der Clique an. Jan ist jetzt mit einer meiner Freundinnen zusammen. Ich bin irgendwie enttäuscht, weil ich insgeheim gehofft hatte, dass er mich mag. Wenn wir miteinander reden, fühlt sich das ganz natürlich an.

So, als würden wir uns schon ewig kennen. Er lacht über all meine Witze und ich bin die Einzige, die seine Ironie versteht.

 

Es ist die Geburtstagsfeier seines besten Freundes. Wir feiern an einem Tunnel an den Bahngleisen. Es gibt wie immer billigen Fusel und blecherne Musik aus kleinen Boxen.

Wir sitzen zu zweit etwas abseits auf einer Wiese. Es ist etwas kühl. Er legt mir seine Sweatjacke auf die Schultern. Ich nehme all meinen Mut zusammen und gestehe ihm, was ich fühle.

„Weißt du, irgendwie fällt es mir so leicht mit dir zu reden. Ich habe das Gefühl, wir sind auf der selben Wellenlänge. So ging es mir bisher mit noch keinem Typen.“

„Ich weiß, was du meinst. Mir geht es genauso mit dir.“

Wir sitzen noch lange so nebeneinander. Schweigen, ohne dass es unangenehm ist.

Unsere Fingerspitzen berühren sich leicht im Gras.

 

Am nächsten Tag treffe ich mich mit Anja. Ich erzähle ihr von Jan und meinem Kummer.

Sie hört mir geduldig zu.

„Gib der Sache Zeit. Vielleicht ist das ja auch schon ganz bald zu Ende mit den beiden. Und zeig’ ihm die kalte Schulter, das macht die Typen wahnsinnig.“

Manchmal klingt sie dabei richtig altklug, als wäre sie ein alter Hase in Liebesdingen.

„Weißt du noch, wie wir uns früher immer Choreografien ausgedacht haben und sie dann vor unseren Eltern aufgeführt haben?“

„Oder wie du mich in irgendwelche alten Stoffreste gehüllt und dann für Fotos in Szene gesetzt hast?“

„Du warst mein bestes Model.“

„Oder wie wir damals losgezogen sind, um den perfekten Ort für unser Geheimversteck zu finden?“

„Ja, unsere Basis. Und dann haben wir Pläne geschmiedet für unsere Zukunft. Wir wollten unsere eigene WG gründen und zusammen studieren, du Architektur…“

„…und du Modedesign.“

Wir lachen und reden noch eine zeitlang so weiter. Und manchmal fühlt es sich dabei wieder so wie früher an. Irgendwann wird Anja ruhiger und wirkt nachdenklich.

„Ich habe mich letztens mal schlau gemacht, was man bei uns in der Gegend so für Ausbildungen machen kann. Vielleicht mache ich dann nach dem Abi sowas in Richtung Bankkauffrau. Mal schauen. Ist ja auch noch ne Weile hin.“

Wow, das hat gesessen. Innerlich bricht für mich eine kleine Welt zusammen, doch äußerlich lasse ich mir nichts anmerken.

 

Eine Woche später macht Jan Schluss mit meiner Freundin.

Als ich davon erfahre, bin ich überglücklich. Doch meine Freude ist bittersüß. Der Ex einer guten Freundin ist natürlich tabu. Die nächsten beiden Nächte denke ich nur an ihn und wie es wohl wird ihn wiederzusehen.

Am Samstag darauf ist es so weit. Wir treffen uns noch einmal alle im Park. Es ist das letzte Wochenende bevor die Schule wieder losgeht. Alle sind irgendwie seltsam aufgedreht.

Und wenn ich so in die Runde schaue, habe ich das Gefühl, dass sich etwas verändert hat.

Dass wir uns verändert haben.

Jan wirkt heute etwas nervös, obwohl er sonst immer so selbstbewusst daherkommt.

Den ganzen Abend über treffen sich unsere Blicke. Unter einem Vorwand entfernen wir uns von der Gruppe. Händchen haltend schlendern wir durch die Nacht. Eine Weile lang sagt keiner von uns beiden ein Wort. Wir kommen an einen Spielplatz an. Ich setze mich auf eine Schaukel, er stellt sich mir gegenüber auf.

„Ich weiß nicht, was das werden soll mit uns beiden. Du bist doch eigentlich tabu. Aber ich mag dich, sehr.“

Es fällt mir schwer, meine Gedanken in Worte zu fassen. Mein Magen verknotet sich.

Ich gehe zu ihm und umarme ihn. Eine gefühlte Ewigkeit stehen wir einfach so da, meine Arme um ihn geschlungen, sein Kopf zärtlich an meinem lehnend. Als ich aufschaue und sein Gesicht ganz nah ist, rast mein Herz.

Schüchtern berühren sich unsere Lippen.

Auf dem Weg zurück zu den Anderen einigen wir uns darauf, das Ganze erst einmal für uns zu behalten. Als ich abends in mein Bett falle, habe ich eine breites Grinsen auf den Lippen und schlafe wohlig zufrieden ein.

 

Die Schule fängt wieder an und ich fühle mich wie ein neuer Mensch. Jan und ich treffen uns eine Zeit lang heimlich. Doch das Versteckspiel ist sinnlos, weil eh schon alle gecheckt haben, was da läuft. Bei der nächsten Feier machen wir es dann offiziell. Ich bin überglücklich und alle sollen es wissen. Mein erster Freund, meine erste Liebe.

 

Heute, ein gutes Jahrzehnt später, ist es für mich noch immer Jan.

Unsere Liebe ist geblieben und weiter gewachsen.

Wenn ich jetzt zurückdenke an diese Zeit, macht sich wieder das Gefühl von damals in mir breit.

Doch ich stelle fest, dass ich falsch lag, als ich dachte, Jan wäre meine erste große Liebe gewesen. Denn ich war schon vorher Hals über Kopf verliebt.

In diesen Sommer.