Von Magdalena Brzuzy

Nachdem Ani ihre morgendliche Runde gedreht, Frühstück verteilt, beim Anziehen geholfen und die ein oder andere Tafel Schokolade zum Einstand abgestaubt hat, eilt sie, um kurz vor elf Uhr, ins Personalbüro. Es haben sich Leute für einen Besichtigungstermin angekündigt. Da das Haus voll besetzt ist, gibt es solche Termine nur selten. Allerdings ist vor knapp zwei Wochen eine Bewohnerin verstorben und daher ein Zimmer frei geworden. Als sie am Büro ankommt, sitzen die Besucher bereits ihrer Chefin gegenüber und kehren der Tür, und somit auch Anni, den Rücken. Sie erkennt eine Frau und zwei Männer, vermutlich Mutter, Vater und der Sohn. Ihre Chefin erzählt ihnen bereits ein paar Details und als sie Ani kommen sieht, sagt sie „Und Frau Henningsen, eine unserer kompetentesten und beliebtesten Mitarbeiterinnen, wird Ihnen gerne das Haus zeigen.“ Damit erhebt sie sich von ihrem Stuhl und deutet in Anis Richtung. Die Besucher erheben sich ebenfalls und drehen sich zu ihr um.

Als sie erkennt, wer da vor ihr steht, setzt ihr Herz plötzlich aus und ihr stockt der Atem. Die Frau und der Mann strecken ihr die Hand zur Begrüßung entgegen und stellen sich vor. „Freut mich“ murmelt Ani. Felix, der Sohn, starrt sie überrascht an. Sie starrt zurück. Ihre Gedanken überschlagen sich. Das kann doch jetzt nicht wahr sein. Eine Monsterwelle von Erinnerungen schwappt über sie und droht, sie zu ertränken. Ihre Beine geben nach und sie muss sich an den Türrahmen lehnen, um nicht umzufallen. Ein Blick in seine Augen, dieses Blau ist immer noch so hypnotisierend wie früher.

Was hätte sie nicht alles getan für diese blauen Augen. Er war ihre erste große Liebe. Doch eine glückliche Beziehung war es nicht. Flashbacks von Drogenexzessen durchzucken sie. Sie hört ihn schreien, fühlt die Ohrfeigen und Schläge am gesamten Körper. Sie verkrampft sich, wird steif wie ein Brett, kann sich nicht rühren. Die Erinnerungen sind so präsent und real, dass ihr Verstand in Panik zu verfallen droht.

So hat sich Ani ihre erste Schicht als festangestellte Altenpflegerin im Pflegeheim St. Josef nicht vorgestellt. Als sie heute Morgen das Gebäude betrat, war sie euphorisch und glücklich, ihre „Ömchen und Öpchen“ weiter betreuen zu können. Alle sind ihr ans Herz gewachsen während ihrer Ausbildung hier. Und fragt man die Bewohner, bekommt man stets die gleiche Antwort: „Ach die Frau Henningsen, ja das ist so eine liebe. Und lustig ist sie, wir haben immer viel Spaß, auch wenn sie eigentlich nicht viel Zeit hat, aber die nimmt sie sich einfach für mich.“ Tatsächlich macht Ani der Beruf Spaß. „Es ist eine Berufung“, sagt sie oft. „Hier muss man einfach mit Herz und Seele dabei sein.“

Sie versucht, sich an diese positiven Gedanken zu klammern, wie ihr Therapeut es ihr für herausfordernde Situationen geraten hat. „Halte dir immer vor Augen, was du geschafft hast und vergiss nie, deswegen stolz auf dich zu sein!“

. „… in Ordnung? Ani?“ Die Stimme ihrer Chefin dringt in ihren Kopf, undeutlich wie durch Watte, und holt sie langsam ins Jetzt zurück. „Was ist los, wieso starrt sie dich so an, Felix, kennt ihr euch?“ Sie merkt, dass sie ihn tatsächlich die ganze Zeit anstarrt. Sie ist gefangen in diesen Augen. Doch als sie langsam wieder zu sich kommt, entdeckt sie unbewusst eine kleine Veränderung in seinem Blick. Sie kann es nicht deuten, doch es hilft ihr, sich aus dem Erinnerungskarussel zu befreien. „Nein, nein“ murmelt sie benommen, „mir war nur etwas schwindelig, entschuldigen Sie bitte. Die Hitze.“ Sie atmet tief durch und findet wieder einen festen Stand. Ihr Blick wandert von einem zum anderen und sie versucht zu lächeln. „Ani, soll ich die Besichtigung übernehmen? Willst du dich hinlegen?“ „Nein, schon in Ordnung, mir geht’s wieder gut. Ich mache das gerne.“ Sie fängt sich wieder und blickt Felix erneut in die Augen, diesmal selbstbewusst. Und plötzlich wird ihr auch klar, was es ist, das sich in seinen Augen verändert hat. Es liegt Traurigkeit darin, Melancholie und Schmerz. Die Wut und Arroganz von damals sind gewichen. Plötzlich empfindet sie Mitleid. Sie betrachtet seine Eltern, beide sehen erschöpft aus. Ihr fallen die Alkoholfahne des Vaters und die dunklen Augenringe und geröteten Augen der Mutter auf. Diese Leute scheinen kein leichtes Leben zu haben, und schaffen es offensichtlich nicht, wie sie selbst, ihre Dämonen unter Kontrolle zu bekommen. Sie hat nach dem Ende der katastrophalen Beziehung so hart dafür gekämpft, aus der Drogensucht herauszukommen und sich ein neues Leben aufzubauen. Sie hat ihre Ausbildung als eine der Besten abgeschlossen und die Therapie hat ihr geholfen, stets positiv zu sein. Und jetzt steht er vor ihr, der Mann, der ihr Leben fast zerstört hätte. Sie könnte ihm all ihre Wut, die sie so lange zerfressen hat, an den Kopf werfen, ihm die Verantwortung für ihren Schmerz und ihr Leid um die Ohren pfeffern. Doch sie empfindet nur Mitleid für ihn. Und Stolz. Auf sich selbst, auf das, was sie erreicht hat. Und da ist auch ein winziger Funken Dankbarkeit, denn dank ihm weiß sie, dass sie alles schaffen kann. Sie ist durch die Hölle gegangen und wie Phoenix aus der Asche stark und unbesiegbar wieder auferstanden. Und so streckt sie ihm lächelnd die Hand entgegen und stellt sich vor, als hätte sie ihn noch nie gesehen und als hätte er sie noch nie geschlagen. Denn im Grunde kennen sie sich nicht, beide sind mit der Zeit andere Menschen geworden und die Vergangenheit zählt nicht mehr.