Von Gerhard Schönbeck

Unschlüssig hielt er noch einmal inne. Eigentlich hatte er es immer für Unsinn gehalten – Erinnerungen waren etwas für verweichlichte Nostalgiker, die dem Hier und Jetzt nicht standhielten und einen Fluchtpunkt aus der Realität suchten. Erinnerungen hielten nur auf. Die Zukunft war das, worauf der Blick gerichtet zu sein hatte, in ihr würde man schließlich leben. Trotzdem bemerkte er in Konversationen welcher Natur auch immer, dass seine Gesprächspartner immer häufiger nahezu zwingend auf das Thema Jugenderinnerungen zu sprechen kamen und ihn dann scheel anblickten, wenn er kundtat, keine zu haben. Hatte er tatsächlich nicht. An irgendeinem Punkt seines Lebens hatte er sich – wahrscheinlich unbewusst – davon verabschiedet. Gut, die Rahmenbedingungen seines Lebens hatte er natürlich im Gedächtnis behalten, Ausbildungs- und Studienrichtung und so weiter. Aber von den Feinheiten waren nicht einmal verblasste Reminiszenzen zurückgeblieben, gar nichts Und jetzt, wenn es darum ging, Unterhaltungen am Laufen zu halten, holte ihn das beinhart ein.

Na gut. „Agentur für Erinnerungen jeglicher Art – you name it, we remind you.“ Gespannte Erwartung, als er auf das Summen des Türöffners hin eintrat.

„Schönen guten Tag! Was kann ich Ihnen gutes tun?“ fragte ein übertrieben fröhlicher Mitarbeiter.

„Ich hätte gern die eine oder andere Jugenderinnerung. Kann ruhig auch ein bisschen wehmütig oder gruselig sein.“

„Sehr gerne. In welche Richtung soll es denn inhaltlich gehen?“

„Was hätten Sie denn so?“

„Alles mögliche – Sonnenuntergänge im Strandurlaubsort der frühen Kindheit, Almsommer (wenn gewünscht mit Kuhattacke), Jugendliebe in der Tanzschule, was das Herz begehrt. Wir übernehmen Ihre Wunschkategorien und stellen ein Programm zusammen. Suchen Sie sich einfach was aus unserem Katalog aus und beantworten Sie diese Fragenliste.“

Er schlug das Heft auf. Vielleicht waren ja Sachen dabei, mit denen man sich anfreunden konnte.

„Okay, mal sehen… Klingt eigentlich gar nicht schlecht. Ja, das auch. Jugendliebe nehme ich auch dazu, allerdings nicht in der Tanzschule. Ich bin ein grauenhafter Tänzer. Ah ja, Modifikation: in der Universität zu Beginn des Studiums. Ich glaube das wars.“

„Wunderbar. Darf ich um den Fragebogen bitten? Vielen Dank. Exposé und ausformulierte Version schicken wir Ihnen dann gerne binnen vier, fünf Tagen per Mail, wenn Sie wollen.“

„Wunderbar. Großartige Idee übrigens, Ihr Konzept. Ich hätte wirklich keine Lust darauf gehabt, einen Chip eingepflanzt zu bekommen oder sowas in der Art.“ Zufrieden brach er nach Hause auf.

 

Gespanntes Warten.

 

Endlich.

 

„Mal sehen. Ah, sehr gut. Ferienlager am Bauernhof mit Rätselrallye, dritter Platz. Erstes Bier am Lagerfeuer mit Freunden – Jonas und Albert. Weiter… Jaah, hier: Studium. Im ersten Semester bei einem Tutorium mit einer Kommilitonin ins Gespräch gekommen, die den Eindruck gemacht hat, als würde sie sich auskennen. Man ist sich sympathisch, hilft sich gegenseitig, ich bin von ihrem Lächeln fasziniert… Hach, schön… Ich könnte mich glatt tatsächlich in die Frau verlieben. Dann beschließt sie, sich selbst finden zu müssen und zieht weg. Leise Wehmut, großartig. Das sitzt.“ Zufrieden lehnte er sich zurück und freute sich darauf, in künftigen Gesprächen nicht mehr wie ein Idiot dazustehen.

______________________________

 

Pause, endlich. Warum hatte sie sich auch breitschlagen lassen, in Vertretung ihrer besten Freundin hierherzukommen? Die Entwicklung der mittelhochdeutschen Liebeslyrik im Spannungsfeld zwischen höfischer Etikette und bäuerlichem Pragmatismus, was für ein sterbenslangweiliger Käse. Sie brauchte jetzt jedenfalls dringend einen Sekt. Und ein bisschen Ruhe.

„Verzeihen Sie, dass ich Sie so einfach anspreche, aber…“ meldete sich eine Männerstimme neben ihr. Das durfte nicht wahr sein. „Was?“ fuhr sie gereizt herum.

„Sie machen irgendwie den Eindruck, als würden Sie sich hier nicht richtig wohl fühlen.“

„Was wird das jetzt?“

„Bitte verstehen Sie mich nicht falsch – ich langweile mich hier zu Tode und hätte gehofft, ich hätte eine Leidensgenossin gefunden.“ Sie sah ihn an und ihr Ärger begann zu schwinden.

„Haben Sie. Ich bin eigentlich nur hier, damit das Abo meiner Freundin voll genutzt wird“, entgegnete sie. Seltsam… Irgendwie war er ihr vertraut, sie wusste aber nicht, woher. Auch sein Zungenschlag kam ihr bekannt vor.

„Gott sei Dank! Ich dachte schon, ich wäre der einzige Banause hier.“

„Keine Sorge, da gibt  es sicher einige. Darf ich Sie etwas fragen? Sie kommen nicht zufällig aus Neuburghausen? Oder zumindest dort aufgewachsen?“

„Richtig! Wie haben Sie das erraten?“

„Ihr Dialekt.“ Mehr und mehr Puzzlesteine begannen sich zusammenzufügen. Die Narbe an seiner linken Augenbraue fiel ihr jetzt auf, seine leicht schiefe Nase – war es tatsächlich er?

„Ich mache jetzt einmal einen Schuss ins Blaue: Ihr Name ist Manfred Altmayer, Sie haben in der

Leopoldstraße 22 gewohnt und sind aufs Beethovengymnasium gegangen.“

„Das wird mir jetzt ein wenig unheimlich. Woher wissen Sie das alles?“

Bingo. „Barbara Hochner.“

„Tut mir leid, ich weiß im Moment wirklich nicht, wo ich Sie hintun soll“, entgegnete er verdutzt.

„Wir waren mal zusammen.“

„Bitte? Und wann soll das gewesen sein?“

Das war jetzt nicht wahr. „Du erinnerst Dich nicht? Ernsthaft? Wir haben uns damals in der Tanzschule kennengelernt. Es waren dann immerhin vier Jahre.“

„Das kann nicht sein. In der Tanzschule war ich nie. Ich war überhaupt nur einmal mit einer Frau länger zusammen, und das war auf der Uni.“

„Betriebswirtschaft, richtig? Schwerpunkt Internationales, damals neu.“ Sie ließ nicht locker. Konnte er sich nicht erinnern oder wollte er nicht? Egal, ab jetzt war es eine Prinzipsache.

„Stimmt.“

„Wir hatten ein extrakurrikulares Tutorium bei Professor Liebknecht“, fuhr sie fort.

„Bei Dozent Bergmann“, konterte er.

„Hmm… Dann scheine ich mich tatsächlich geirrt zu haben“, gab sie vor einzulenken, gespannt wie es weiterging.

„Sie war eine umwerfende Frau, humorvoll, gebildet, wunderschön“, redete  er unvermittelt weiter und kam ins Schwärmen, wobei seine Augen seltsam emotionslos blieben. Die Sache wurde immer mysteriöser.

„Und wie ist es dann auseinander gegangen – wenn ich fragen darf?“ Sie fühlte sich in ihrer investigativen Rolle zunehmend wohl.

„Ihr war das Studium zu trocken und …hausen und unsere Beziehung zu eng“, antwortete er bedauernd, „sie hat nach einiger Zeit beschlossen, woanders ihr Glück zu suchen.“

„Das ist schade“, meinte sie mitfühlend.

„Ja… Es war ziemlich plötzlich, ich habe nie wirklich verstanden, warum. Wir waren eigentlich ein klasse Team. Und so beengend war Neuburghausen ja jetzt auch nicht, da gab es schon einiges anzusehen und zu tun.“

Es war Zeit für den Generalangriff. „Stimmt. Vor allem das Schachturnier.“

Er sah sie mit einer Mischung aus Verblüffung und Entsetzen an. „Schachturnier?“ stammelte er, „welches Schachturnier? Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich kann mich an kein Schachturnier erinnern.“

Jetzt hatte sie ihn.

„Na, das Schachturnier, bei dem ich dich so gründlich vernichtet habe“, ließ sie die Falle zuschnappen, vielleicht etwas härter als sie eigentlich beabsichtigt hatte. Seine Gesichtsfarbe nahm einen ungesund bleichen Ton an.

„Das Schachturnier“, wiederholte er tonlos.

„Kommt’s wieder?“ fragte sie lauernd.

______________________________

 

So schwindlig war ihm noch selten zuvor gewesen. Was passierte hier gerade? Langsam aber sicher kam die Erinnerung zurück, kreiste in Brocken in seinem Hirn und fügte sich nach und nach unbarmherzig zu einem schrecklichen Ganzen zusammen.

„Schach war meine Passion“, begann er stockend, „Taktik, Strategie, immer vier, fünf Züge voraus denken… Es hatte mich vollkommen gefangen. Spätestens mit neun, zehn Jahren habe ich Bücher verschlungen, legendäre Partien nachgespielt und durfte dann endlich im Schachclub anfangen. Irgendwann tat ich in meiner Freizeit nichts anderes mehr. Nur Schach, Schach, Schach. Es war eine regelrechte Sucht. Gleichaltrige hatte ich schnell alle durch, mit den Älteren hatte ich nach kurzer Zeit auch keine Probleme. Bald gab es in der Stadt keine wirkliche Herausforderung mehr für mich, ich fühlte mich wie der König der Welt. Dann kamst du. Und  ich dachte ‚Warum eigentlich nicht?‘ und habe es dir beigebracht. Auch als etwas, das wir gemeinsam hatten. Fand ich einen schönen Gedanken, solange ich dir immer einen Schritt voraus war. Du hast dich wirklich gut gemacht. Als sie dann ein überregionales Turnier angekündigt hatten, war ich begeistert und habe uns beide angemeldet. Es lief bei mir erwartungsgemäß gut, dann das Finale. Ich muss gestehen, ich war überrascht, dich mir gegenüber zu sehen, habe mir aber noch keine großartigen Gedanken gemacht. Nachdem du mich vollkommen zerlegt hattest, schon. Egal, kann mal vorkommen. Blick nach vorn. War wahrscheinlich nur Zufall. Revanche zuhause. Verloren. Nächster Versuch. Wieder auseinandergenommen. Schlussendlich zehnmal hintereinander. Da ist dann irgendwas in mir kaputtgegangen.“ Er redete wie ein Wasserfall und empfand es richtig befreiend. Langsam fing er sich wieder.

„Wow. Ich wusste nicht, dass dich das so fertig gemacht hat“, sagte sie überrascht.

„Ich war am Boden. Also habe ich irgendwann die einzige für mich folgerichtige Konsequenz gezogen: raus aus der Stadt. Alles vergessen, was zu vergessen war. Kein Schach, keine Frauen. Aufgehen im Beruf. Hat bis vor kurzem auch funktioniert.“

„Jetzt wird ein Schuh draus. Aber warum hast du nie mit mir darüber geredet? Und was sollte das eben mit nie auf der Tanzschule und so weiter?“

Erschöpft erstattete er Bericht.

„Nicht im Ernst.“

Beide schwiegen. Neben ihnen unvermittelt ein Räuspern.

„Entschuldigen Sie, wir schließen jetzt und…“ meldete sich der Portier des Veranstaltungszentrums. Tatsächlich schon halb elf. Folgsam gingen beide vor die Tür.

„Und was jetzt?“ fragte sie.

„Was schon? Jetzt nehme ich psychotherapeutische Hilfe in Anspruch.“

„Melde dich.“

„Wohl besser nicht.“

„Ich lasse dich auch gewinnen.“

 

V3