Von Maria Lehner

Ein illusionärer Bericht aus der Wunderwelt des Steampunk

Es sollte kein Tag wie jeder andere werden, dieser Märztag im Jahr 2012. Jedenfalls für uns. Die Zeitungsberichte waren unspektakulär.

 

Unsere Kostüme sind selbst entworfen und hergestellt. Die Kultobjekte atmen Individualität und Liebe zum Detail. Ich, Elmer, im anderen Leben der Spargelbauer Lars aus Arendsee, habe meine Melone aus dem Kasten geholt und ausgebürstet. Giannis, der Kellner, sucht im Speicher nach seinem khakifarbenen Tropenanzug mit Helm. Und natürlich die Goggles, denn schließlich wollen die Augen auf gefährlichen Zeitreisen besonders geschützt sein.

 

Wir tragen die Kleider mit ebensolcher Nonchalance wie unsere Steampunk-Namen und unsere viktorianische Gesinnung: Wellington mit Zylinder und Ledergamaschen und prüdem Gehabe sieht aus, als käme er geradewegs aus der Vergangenheit und nicht aus der Steuerberatungskanzlei. 

Cora in der selbst entworfenen Ledercorsage weiß, worauf es ankommt; sie strafft die Schnüre an den richtigen Stellen und bauscht die Ärmel der tief ausgeschnittenen Bluse. Merrit (eigentlich: Katja Wuttke), die mit den Goggles, hat einen Abschluss in Soziologie und findet immer, dass Frauen in der viktorianischen Zeit so dargestellt sein sollten: im Outfit einer Ingenieurin (sie zumindest deklariert es so).

 

„Steampunk-Days in Brandenburg an der Havel“, so hatte die Ankündigung gelautet und alles hatte auf diesen Termin hin gefiebert. Auf dem Altstädtischen Markt werden wir traditionell Halt machen und an der alten Kaserne in der Klosterstraße einen Kranz für Julius von Voß niederlegen. Ihm, den Autor des ersten deutschen Science-Fiction-Romans („Ini. Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert“, 1810), verdanken wir unser Lebensgefühl. Er hat uns immer schon inspiriert zum Träumen. Die Lehrerin Frau Bauschke (in der anderen Wirklichkeit: Harriet) stützt sich auf ihren silbernen Gehstock mit Pug-Kopf, untergehakt bei Archie; er kommt im Frack. Er ist es auch, der unser „Glaubensbekenntnis“ vor sich herträgt: „If you´re not having fun, you´re doing it wrong!“ Das hat die große Cherie Priest einst gesagt. Und wie recht sie hat. 

 

An diesem Tag kann man bekannte Persönlichkeiten aus der Steampunk-Szene erwarten. Eine besondere Attraktion soll heute „Karl Meyerbrinck“ sein. Sein Auftritt in Brandenburg würde einigen von uns unvergessen bleiben. Schräg, aber nicht ganz Steampunk: Verkleidet als Calliope in griechischem Stil, mit Toga, Schreibtafel und Griffel, ein Mann in Frauenkleidung mit Lorbeerkranz und kunstvoll drapierter Mähne. Er spielt eine Dampforgel, auch „Calliope“ genannt nach der Muse. 

 

Im Hintergrund werkt stets jemand.  Ein gewisser Johannes Schneider, der sich uns vorstellt. Meyerbrinck nennt ihn jovial (und ohne Namen) „mein Adlatus“. Schneider ist es aber, der in Wirklichkeit die Konstruktion der „Calliope“ nach alten Plänen vorgenommen hatte, nach Papieren aus 1855, wie er sagt. Wir finden:  Ein schmaler, schüchtern wirkender Mensch, blond, nett, unauffällig. Einer den man leicht übersieht und schnell vergisst. Er erklärt uns ungefragt das Prinzip der Dampfröhre, des Dampfkessels, der Gasfeuerung, der Ventile, der Feder und der teilweisen Kondensation des Dampfes, wodurch beim Orgelspiel Dampfschwaden sichtbar werden. Solche Details interessieren keinen von uns. Uns genügt „die Magie“. So viel ist uns klar: Das Ding kann auch Melodien ableiern, man muss nicht auf der Klaviatur spielen. Wir lassen Johannes Schneider zurück, nicken ihm noch kurz freundlich zu. 

Meyerbrinck befehligt zwei weitere Arbeiter (oder soll man sagen: Sklaven?) „für´s Grobe“. Sie bleiben diskret bei den Dampfkesseln. Niemand sieht sie, niemand kennt sie. Sie bilden mit Schneider zusammen eine Gruppe von Leidensgenossen.

 

Heute wird Schneiders großer Tag sein. Vieles geht ihm durch den Kopf: Wie das war, als er im Laufe der Zeit die Dampfregulierung verfeinert hatte und wie Charles das nie anerkannt hatte und nur mehr im Leierkasten-Modus hatte spielen wollen „als Herr und Dirigent der zu meiner Rechten stehenden Maschine“, im Calliope-Aufzug mit Schreibgriffel dirigierend. Alles ist dampfbetrieben, der Dirigent ist Fake.  Wenn die wüssten. Schneider hatte in den letzten Wochen die Plattenlochung manipuliert: Es gibt jetzt „Schussimpulsvorrichtungen“, einfach erklärt als Dampfkatapulte. Die Orgel wird linksseitig mit mehreren Schusskanälen (in „Herzhöhe“, „Lungenhöhe“ und „Kopfhöhe“) versehen und mit Patronen befüllt. Schiene, Schlitten, Verbindungsstück zur Kraftübertragung, Einrastsystem, Abzugsgeschwindigkeit, Positionshaltestange, Ende des Katapultweges, Wasserverdrängung, Bremswirkung – das alles hat Schneider im Kopf, die Werkzeichnungen sind vernichtet, die Erfindung ist ausgereift. Die „dampfgetriebene Plattenaerophonpistole“ (so würde er sie nennen, würde ihn jemand fragen) hat die Generalprobe bestanden. Schneider hatte nämlich die manipulierte Blechplatte mit den „Orgelvariationen le coq est mort“ eingelegt und eine Rampe gebaut, auf der ein irgendwo entwendeter Gockelhahn mittels hingestreuter Körnchen an der Calliope vorbeigeführt und auf diese Weise erlegt worden war. Der prachtvolle Teppich war dabei leicht beschmutzt worden, das Blut des Hahns ist jedoch in der opulenten Musterung nicht zu sehen. Alles wie immer. Es müsste also funktionieren. Zumindest diese eine Schusshöhe in der Herzgegend von Meyerbrinck.

 

Das Fest ist auf seinem Höhepunkt. „Das letzte Musikstück für heute“ wird angekündigt, aber die Leute haben sich schon verflüchtigt. In Brandenburg kann man die Begeisterung für diese Attraktion nicht teilen. Drei von uns bleiben, eher anstandshalber, aber enttäuscht: ein ödes Stück, doch eigentlich mehr ein Kanon. Es gelingt uns ein schöner Schreittanz und beim „cocodi-cocoda“ neigen wir uns einander elegant zu. Das sieht gut aus. 

 

Wir werden ein wenig unaufmerksam, Cora stolpert beinahe, denn plötzlich ist ein fliegender Waschzuber über dem Platz zu sehen. Ein Mensch sitzt drin, soviel kann man im Vorbeifliegen erkennen. Ein schmaler Blonder mit einem Dutzendgesicht. Der Zuber dampft in eleganten Schleifen über die Menge hinweg; heruntergeworfen werden abwechselnd Geldscheine und Blumen. Die einen rennen den Geldscheinen nach, die anderen versuchen verzückt, eine Blume zu ergattern. Der unermüdlich dirigierende Meyerbrinck bekommt von all dem nichts mit, obwohl das Johlen der Menge beinahe die Dampfkesselmusik übertönt. 

 

Was kurz vor dem Schlussakkord des Aerophons geschieht, begreifen wir drei dann nicht gleich, wir tanzen sogar noch weiter. Der Automat – perfekt justiert wie immer rechts vom Dirigenten, der sich seinem Seitenteil zuwendet – schießt auf Charles Meyerbrinck. Cool! Was für eine Idee! Ja, wirklich eine Attraktion!

 

Wir sehen seinen ungläubigen Ausdruck und finden den gut gemimt, viktorianisch-edel sein Röcheln, großzügig dimensioniert das Theaterblut aus dem Calliope-Kostüm (ah deshalb das Cremeweiß: wegen des Effekts). Und wir hören den letzten verklingenden Ton. Dann sein rasselnder Atem, der auch irgendwie dampfbetrieben klingt. Gut gemacht! 

Charles Meyerbrinck liegt jetzt auf dem Boden. Also, das ist jetzt aber schon sehr echt! Bis Merrit als Erste begreift und Cora und mich wegzieht, dorthin wo die Menge sich um Geldscheine und Blumen streitet. Wir sehen, schon im Weggehen, zwei Männer, die blitzschnell aus dem Untergrund auftauchen. Sie rollen in den eleganten großen Teppich Meyerbrincks Leiche ein und schleppen das Bündel davon. Nur wir drei und diese zwei wissen, was geschehen ist. 

 

Das Fest geht weiter an diesem Tag im März 2012. Zeitungsberichte von einem dampfbetriebenen Waschzuber gelten als unglaubwürdig, umsomehr als keine Fotos davon existieren. Ein Mensch soll dringesessen haben? Das sei technisch gar nicht möglich, befanden die, die es wissen mussten. Von Geldscheinen ist nicht die Rede. Vertrocknete Blumen finden sich allemal nach einem Fest. Alles wird abgebaut, nur das Aerophon steht eine Weile herum. Meyerbrinck und sein Adlatus (von den beiden Sklaven weiß ja keiner) sind unauffindbar. Zurück bleibt der Planwagen mit Kleidern des Meyerbrinck. Keine Kasse… Man nimmt an, Dirigent und Adlatus werden sich nach dem Misserfolg abgesetzt haben. Das Zeug wird schließlich auf Kosten der Stadt abtransportiert. Dort steht es im Depot. Einen künstlerischen Wert hat es nicht, somit ist es nicht von Interesse für das Stadtmuseum.

 

Wir erwerben das Aerophon ein paar Jahre später und bauen es um bis zur Unkenntlichkeit. Da wird herumgeschraubt und patiniert, es werden Zahnradsysteme, Kupfer- und Messingteile an der Außenseite angebracht. Ein schmaler blonder junger Mann (der kam eines Tages von irgendwo her, war wohl auf der Walz und scheint sich mit solchen Dingen auszukennen) unterstützt uns. Wir werden auf Jahrmärkten auftreten. Das erste Mal in Treuenbrietzen am 14. August. Da werden wir sogar zu den „Orgelvariationen le coq est mort“ unseren Schreittanz aufführen. Und dann beim Schlussakkord machen wir das mit den „Bomben“-Kugeln aus Erde, Ton und Blumensamen: Guerilla-Gardening. Trainiert haben wir es schon. Es funktioniert gut mit dem Dampfsystem, weil das die erste Schicht schon während des Abschießens aufschließt. Der Schreck, der sein wird. Der Aufruhr. Und die Verwunderung dann Wochen später, wenn auf all den Betonflächen, in Baulücken und Geröllhalden die Wildblumen zu sprießen beginnen. Und wenn in den penibel bepflanzten Vorgärten das Chaos blüht.

 

Aber das wird alles unbedeutend sein gegen den Medienrummel der fast gleichzeitig rund fünfzig Kilometer entfernt ausbrechen wird, weil bei Umbauarbeiten in einem abgelegenen Speicher zwischen dem Rietzer See und der Stadt Brandenburg an der Havel eine vermoderte männliche Leiche – in einen Teppich eingerollt  – gefunden werden wird.