Von Marie Masse

Mein Kind ist das schönste und klügste Kind dieser Welt. Ich weiß: Fast alle Eltern haben dieses eine schönste und klügste Kind! Aber für meins stimmt es absolut. Oder ist das eine Illusion?

 

Sicher ist: Dieses fünfjährige Wunder wird mir heute Abend beim Vorlesen des Märchens „Des Kaisers neue Kleider“ Löcher in den Bauch fragen. Ich habe da keine Hoffnung, dass ich einfach vorlesen kann. Unsere abendliche Zeit, gekuschelt auf seinem Bett, ist auch nicht dafür gedacht, dass es hopphopp gehen soll. Eigentlich liebe ich seine Fragerei. Manchmal komme ich dabei schön ins Schwimmen. Werde dadurch auch nachdenklich. Ja, es heißt oft, die Kinder benennen Sachen, die wir gern unter den Teppich kehren. Ach, unsere wunderbaren Kinder. 

 

*

 

Gut erahnt! Denn so lief unsere Lesestunde.

 

„Ich habe ein neues Bilderbuch für dich.“

„Juhu! Wie heißt es?“

„Des Kaisers neue Kleider“

„Des Kaisers? So wie das Brötchen? Oder so wie der, den du immer im Fernsehen singen hörst?“

Damit kann ich noch umgehen, für meinen Songgeschmack schäme ich mich nicht, Schlager ist ja wieder angesagt. Und in Österreich waren wir mehrmals in Urlaub.

„Ein Kaiser ist so etwas wie ein König.“

Mara weiß selbstverständlich, was ein König ist: der glückliche Mann einer wunderschönen kronentragenden Dame, die die wunderschönsten Kleider besitzt. Und in die sich mein Mädchen zum Fasching verwandeln durfte. Dass König und Königin nebenbei auch die „Chefs“ eines Landes sind, haben wir schon damals geklärt. Natürlich hat sie bedauert, dass es keine mehr in Deutschland gibt, es wäre doch so toll, wenn ein richtiges Königspaar beim Umzug mitmachte.

 

Mara ist jetzt ganz Ohr. Ich lese vor.

 

„Es war einmal ein Kaiser. Er liebte so sehr neue Kleider, dass er sein ganzes Geld dafür ausgab. Er wohnte in einer großen Stadt, in die viele Fremde kamen.“

„Was sind Fremde?“

„Leute, die sonst nicht da leben. Sie haben ihr Zuhause anderswo.“

„Wie Aya im Kindergarten mit ihrer Familie? Sie sagt, sie haben bei sich nichts mehr zu essen und es gibt Krieg.“

„Oder wie wir in Urlaub.“

„Ich will in den Ferien aber nicht Fremde sein! Wir haben doch Geld und wir wohnen da nicht zusammen mit anderen wie Aya.“

„Ja, es ist aber nicht zu Hause und man sagt, du bist fremd. Egal wie du wohnst oder ob du Geld hast oder nicht, du bleibst Mara und ich deine Mama.“

 

Ich tippe auf den Text, bevor ich weiterlese.

„Eines Tages kamen auch zwei Betrüger. Sie sagten, sie seien Weber und können die schönsten der schönsten Kleider weben. Die Stoffe seien nicht nur wunderschön, sie haben etwas Magisches: Für jeden Menschen, der seine Arbeit nicht gut mache, seien die Kleider dann unsichtbar.“

„Was ist ein Weber?“

„Jemand, der den Stoff für die Kleider macht.“

„So wie Oma, wenn sie einen Pulli strickt?“

„Ja, so etwa, oder wie die Person, die für Oma die Wolle macht.“

„Ach ja, als wir mit dem Kindergarten auf dem Bauernhof waren, haben wir der Dame zugeguckt. Es heißt filzen.“

Glück gehabt. Wenn es auch nicht ganz das gleiche ist, wird sich Mara problemlos die Weber an ihren Webstühlen vorstellen können. Danke Kindergarten.

 

Aber die nächste Hürde lässt nicht lange auf sich warten. Kaum habe ich erzählt, dass der Kaiser die Fremden für neue Kleider bezahlt, wundert sich Mara: „Aber du hast gesagt, Leuten, die ich nicht kenne, soll ich kein Geld geben.“

Ja, das habe ich ihr einmal verboten, als sie für den süßen Hund eines Bettlers ihre Eineuromünze vom Geburtstag verschenken wollte.

„Hier verkaufen die Weber etwas. Der Kaiser bestellt die Kleider.“

 „Wie du im Internet? Aber der Kaiser kennt die Weber gar nicht. Du sagst immer, man muss nur bestellen, wenn man es kennt.“

„Warte, was passiert. Du wirst sehen, warum ich Recht habe.“

Schön! Unter den verschiedenen Lektionen, die meine Tochter aus der Geschichte ziehen soll, hatte ich an diese Wendung mit dem Einkaufen per Internet nicht gedacht, aber warum auch nicht.

 

Damit komme ich zum Text zurück.

„Die Weber stellten zwei Webstühle auf und taten, als ob sie arbeiteten. Aber sie hatten gar nichts auf dem Stuhl. Das Material und das Gold, das sie dafür erhielten, steckten sie in ihre Taschen ein. Und sie webten auf den leeren Webstühlen bis spät in der Nacht.“

„Warum Gold?“

„Es ist eine alte Geschichte. Zu dieser Zeit hat man mit Goldmünzen bezahlt.“

„Wow, schade, dass ich nicht mehr Gold zum Bezahlen bekommen kann. Da hätte ich viel mehr Geld.“

Ich dämpfe ihre Begeisterung. „Nur die reichen Leute hatten Gold und die anderen oft gar kein Geld. Viele konnten nur sehr wenig kaufen, manchmal kaum zu essen genug.“

„Dann doch lieber nicht.“. Mara zieht enttäuscht eine Schnute.

 

„Der Kaiser wollte sehen, wie weit die Weber mit den Kleidern waren. Er dachte nicht, dass er für sein Amt nicht taugte, hatte dennoch Angst, dass er vielleicht die Stoffe nicht sehen würde. Er schickte einen seiner Minister, bei dem er glaubte, er sei ehrlich und mache seine Arbeit gut.“

„Was ist Amt?“

Sie merkt sich wirklich alle Wörter!

„Seine Arbeit.“ Ich warte kurz, ob sie was dazu sagt. Nein? Ich drehe die Seite.

 

Jetzt kommt natürlich der gleichzeitig erwartete und befürchtete Moment – die Geschichte habe ich ja nicht für nichts ausgesucht-: Die Lügen über das, was die Minister und später der Kaiser sehen, in dem Fall nicht sehen, fangen an. Wir sind noch beim ersten Minister, als es los geht:

„Aber der Minister ist doch kein Betrüger, er darf nicht lügen!“

Ein Betrüger zu sein ist anscheinend für sie eine Art Beruf. Da hätte sie bei einigen Berufen nicht ganz unrecht.

„Ja, es stimmt. Aber der Minister war überrascht und verunsichert. Er wusste nicht, was er sagen sollte, er hatte keine Zeit zu überlegen. Was er machte, war nicht gut, aber so ist die Geschichte. Warte, du wirst sehen, was passiert.“

Gleich beim zweiten Minister zieht sie die Schlussfolgerung: „Sind alle Minister Lügner?“

Damit ist sie wahrscheinlich nur eine von vielen, die sich manchmal diese Frage stellt. Als Zuständige für ihre Erziehung möchte ich aber nicht, dass sie zu solchen Verallgemeinerungen tendiert. Ich greife zu einer Gegenfrage: „Kennst du zwei Mädchen in deiner Kindergartengruppe, die oft nicht nett zu dir sind?“

„Klara und Antia, das weißt du doch!“

Ja, leider, denn sie beklagt sich oft über diese beiden. Ich bin keine Mutter, die ihrer Tochter immer Recht gibt, aber dass die Erzieherinnen es mit dem Geschwisterpaar nicht einfach haben, ist im Kindergarten bekannt.

„Trotzdem sind nicht alle Mädchen im Kindergarten gemein, oder?“

„Nein“.

„So ist es auch da, es gibt sicher ehrliche Minister.“

 

Ihre Empörung wird nur für kurze Zeit geschwächt.

Als ich bei der Lüge des Kaisers ankomme, der behauptet, die noch auf den Webstühlen liegenden Stoffe zu sehen, sagt mir ihre Miene, dass es in ihr brodelt. Ein Erwachsener, der lügt, ist schon für sie kaum vorstellbar, aber bei dem Chef der Welt! Das bringt ihre eigene Welt auf den Kopf. Ja, kleine Mara, solche Enttäuschungen wirst du in deinem Leben öfter erleben. Nicht alles ist Gold, was glänzt.

„Werden die Lügner nicht bestraft?“

Mein erster Impuls wäre mit einem ehrlichen „manchmal ja… oder auch nicht“ zu antworten. Da ich sie nicht dazu ermutigen will, sich auf das Glück zu verlassen unentdeckt zu bleiben, betone ich: „Doch, du wirst sehen.“

 

Ich lese weiter. Bald sind wir bei der Szene angekommen, in der der Kaiser seine alten Kleider ablegt. 

Mara starrt verwundert auf die Illustration. „O, er ist nackt! Und er ist gar nicht schön! Warum ist er denn Kaiser?“

„Um Kaiser zu werden braucht man nicht schön zu sein. Er soll vor allem seine Arbeit gut machen.“

„Aber du hast gesagt, ein Kaiser ist so was wie ein König. Wenn er nicht schön ist, soll er nicht Kaiser sein, sondern Präsident.“

Ihre Logik leuchtet mir nicht ein. Sie merkt, wie ich sie fragend angucke.

„Im Fernsehen sehen wir oft Präsidenten. Viele sind alt und nicht schön.“

„Bei den Königen oder den Kaisern gibt es auch schöne und nicht schöne. Das sagt nichts darüber, wie sie arbeiten.“

„Schade! Ich möchte, dass die Schönen gut sind und die Nichtschönen schlecht.“

Irgendwie hat sie Recht. Wenn die innere Schönheit immer ausstrahlen würde und die seelische Hässlichkeit nach außen sichtbar wäre, wüsste man gleich, woran man ist. Trotzdem kann ich nicht umhin, die Sache etwas anders auszudrücken: „Ja, das wäre praktisch, wenn die Schönen immer gut wären. Wichtig wäre, dass die schlechten Leute nicht schön sind. Du könntest gleich sehen, wer schlecht ist.“

Mara schaut mich zuerst mit gerunzelter Stirn an, bevor sie begeistert nickt: „O ja, dann ist Kira nicht schön, und alle sehen, dass sie böse ist. Dann kann nicht immer SIE zuerst ein neues Kind als Freund haben.“

Tja, leider fängt oft der Zickenkrieg schon im Kindergarten an!

 

„Der Kaiser, ist er gut?“, fragt sie nach einem kurzen Schweigen.

„Das wirst du mir selbst sagen.“ Ich lese weiter. Ihr Gesicht zeigt mir, wie empört sie über die Heuchelei ist. Sie versucht sich zurückzuhalten, denn sie weiß, dass ich nicht mag, wenn sie mich während des Vorlesens einer Seite unterbricht. Aber schnell ist es ihr wirklich zu viel und sie platzt: „Warum sagen sie denn nichts?“

Dass man Angst vor einem Staatsoberhaupt haben kann, ist für sie zum Glück kaum vorstellbar. Oder nur weit weit weg, da wo die Kinder sehr arm sind. Nachdem wir das geklärt haben, kann ich sie auf der nächsten Seite vertrösten. Darauf sieht man das Kind, das schreit, der Kaiser habe nichts an.

Mara ist damit zufrieden. „Siehst du Mama, die Kinder sind mutig! Wie Papa gesagt hat.“

Ich verstehe nicht ganz, was sie damit meint. „Papa?“

„Ja, letztes Mal in der Zeitung, mit der Greta!“

Eindeutig müssen wir auch beim Frühstück, währenddessen mein Mann die Zeitung liest und kommentiert, auf unsere Worte achten. Diesmal ist es in Ordnung, aber einige unserer Meinungen müssen nicht unbedingt von einer Fünfjährigen aufgeschnappt werden.

 

 

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