Von Lea Naum

Frühling = Fliegen

 

Michael hockt in der Astgabel des blühenden Birnbaums wie in einer halb geöffneten Hand. Es ist sein Lieblingsplatz. Hier kann er alles sein. Astronaut, Ritter, Gangsterboss oder Bestimmer über die ganze Welt. Heute ist er Pilot. In seinem blütenweißen Helikopter wird er zum Ende der Welt fliegen. Es ist eine halbe Stunde Eisenbahnfahrt entfernt. Bei klarem Wetter kann er es beinahe sehen. Es liegt hinter den Hügeln, die sich zu seiner Rechten am Horizont aufwölben.

Schschschschsch! Die Dampflok am naheliegenden Bahnhof atmet weißen Dampf aus. Gleich stampft sie mit ihren Waggons zum Weltende. Michael weiß das, weil alle Züge nach einer Stunde oder auch ein bisschen länger wieder zurück geschnauft kommen. Also muss da die Welt zu Ende sein. Dort steht bestimmt ein Eisenbahnermann auf dem Bahnsteig und winkt aufgeregt mit seiner Kelle. Er ruft: »Halt, hier ist das Ende der Welt! Sie müssen umkehren, sonst fallen Sie runter!« Der Lokführer bremst dann ganz stark, weil er Angst hat, abzustürzen. Es quietscht dabei so laut, dass man sich beide Ohren zuhalten muss.

Schschschsch … schschschsch. Die Lok fährt los. Michael kann sie nicht sehen, weil dichtes Gebüsch den Bahndamm verdeckt. Aber er sieht ihre Atemwolken, die über den Büschen aufsteigen. Langsam zieht er den Steuerknüppel zu sich heran. Er muss vorsichtig sein. Der kleine Ast darf nicht abbrechen!

Brummmmmm! Der Blütenschrauber steigt auf, höher und höher, bis die Lok mit ihren Waggons so klein ist, wie die im Schaufenster vom Spielwarenladen. Der Hubschrauber folgt der Lok. Sie schnauft immer geradeaus, zwischen den Feldern hindurch, durch ein Wäldchen, immer weiter, bis Michael die eiserne Wand sehen kann. Sie ist sehr hoch und liegt wie eine dunkle Schlange über allen Bergen, Wiesen und Feldern. Michael kann keinen Anfang und kein Ende sehen. Über der Wand ist ein hohes Netz gespannt, dass nach oben auch kein Ende hat. Das ist wichtig, damit keine Flugzeuge und Hubschrauber aus der Welt fallen können. Aber Michael kann hindurchsehen. Dahinter ist alles von einem undurchdringlichen Schwarz, wie ein Nachthimmel, dem die Sterne ausgegangen sind.

Gestern beim Abendbrot wollte Michael wissen, warum alle Züge, die zu den Hügeln fahren, wieder zurückkommen.

»Da ist die Grenze«, hatte sein Vater gebrummt.

»Was für eine Grenze?«

»Halt die Klappe und iss!«

 

Sommer = Waldmeisterbrause

 

Jeden Morgen verschluckt der Bus die kreischenden Ferienkinder. Quietschend und stöhnend schleppt er sie den steilen Berg hinter der Stadt hinauf und spuckt sie auf dem Parkplatz vor dem Waldbad wieder aus.

Die Waldmeisterbrause sieht giftig grün aus und schmeckt köstlich. Sie sprudelt alles weg. Das Brennen auf den Schultern vom Sonnenbrand, die blauen Lippen vom zu lange im Wasser sein und das Piksen in den Fußsohlen, vom Anstehen auf den Schottersteinchen vor dem Stand des dicken Brausewirts.

»Klein oder groß?«, will der Brausewirt wissen.

»Groß!«, sagt Michael stolz, weil er heute 50 Pfennig reich ist. Noch am Stand nimmt er hastig die ersten Schlucke. Es prickelt im Mund und kitzelt in der Nase. Was für ein Glück!

Michael hat seine Decke abseits der anderen ausgelegt. Auf dem Boden des Brauseglases schimmert nur noch ein blassgrüner Fleck. Das Glück ist alle. Jetzt kommt die Furcht. Michael graust vor der Rückfahrt. Da wird ihm immer übel. Nach dem Aussteigen muss er sich jedes Mal übergeben. Schwallweise verlässt die Brause seinen Körper. Sie ist dann gelblich mit einem grünen Schimmer. Die Erzieherinnen verziehen angeekelt ihre Mundwinkel. Die anderen Kinder nennen ihn Kotzi. Und jeden Nachmittag der gleiche Gedanke: Hätte er doch die Brause nicht getrunken!

»Ey, gib das Glas her. Wir machen gleich zu!«

Michael schreckt hoch und blickt auf den dicken Bauch vom Brausewirt.

»Warum bist Du nicht bei den anderen?«, fragt der Bauch.

Michael hält dem Bauch das Brauseglas entgegen.

»Heh, ich hab` Dich was gefragt!«

Michaels Unterlippe zuckt.

»Bist Du taub, stumm oder beides?«

Michael schluckt und schnieft. Dann sprudelt ein Wortgebräu aus Bus, übel, eklig, schämen und Kotzi aus seinem Mund.

»Hmm, Hmm …«, brummt der Bauch. »Geht mir im Bus auch so! Ich gucke dann immer geradeaus und denk an was Schönes! Schnitzel, Bockwurst, Leberkäse oder so! Dann klappts!«

Der Bauch stapft unter Brauseglasgeklapper auf den wuchtigen Beinen vom Brausewirt davon.

»Groß oder klein?«

Der Brausewirt zieht fragend seine Augenbrauen nach oben.

»Lakritzstangen, Waffeln mit Vanillegeschmack, Erdbeeren mit Milch und Zucker und groß natürlich!«, sagt Michael.

»Siehste, geht doch!« sagt der Brausewirt.

 

Herbst = Hexe

 

Frau Herbst wohnt unten in dem zweistöckigen roten Backsteinhaus. Über ihr wohnt Oma. Bei Oma gibt es eine Küche mit einem Plüschsofa, ein Wohnzimmer, das nur selten benutzt wird und ein Schlafzimmer. Alle Zimmer haben rostrot gestrichene Dielen.

Bei Oma muss man leise sein. Sonst kommt Frau Herbst! Michael hat deshalb dicke Filzlatschen an und darf nichts fallenlassen. Oma hat neun Kinder. Für Micheal macht das fünf Onkel und drei Tanten. An Feiertagen versammeln sich alle. Oma öffnet das Wohnzimmer und es wird laut. Alle reden durcheinander, lachen und manchmal singen sie auch. Es ist sehr lustig. Dann passiert es: »Tack, tack, tack« macht es im Treppenhaus. Alle hören es gleichzeitig, als hätten sie schon drauf gewartet. Sie reißen die Augen auf und halten die Luft an. Das Tacken verstummt.

»Die blöde Herbsten wieder mit ihrem Stock! Alte Hexe, die!«, sagt der Onkel mit den Tatzenhänden.

»Sei still, wenn sie das hört!«, zischelt die Tante, deren Haare die gleiche Farbe wie die Dielen haben.

»Soll sie doch!«, muckt der Tatzenhandkonkel auf. Er sieht sich grinsend um. Alle schweigen und schauen auf ihre Teller. Opa, den sie in seinem Lieblingssessel an den Esstisch geschoben haben, hebt sein Likörglas und flüstert »Prost, Euch allen!«

Das »Tack, Tack, Tack« im Treppenhaus entfernt sich. Das Flüstern bleibt.

Frau Herbst ist also eine Hexe! Michael hat das immer geahnt. Klar: Sie geht gebeugt am Stock, wie eine Hexe. Sie ist alt, wie eine Hexe und alle haben Angst, wie man sie vor einer Hexe haben muss. Frau Herbst geht fast nie aus ihrer Wohnung. Nur morgens und abends, wegen der Hühner. Tagsüber hext sie hinter ihren dichten Gardinen. Ihre Hexerei geht mitten durch die Backsteinwand bis in den riesigen Garten. Alles hat sie mit Bann belegt. Den Bach hinter den Büschen, alle Obstbäume, das Gras, die Hühner und den Schuppen. Alles ihr`s. Nirgendwo darf Michael hin und schon gar nichts anfassen.

Die Rollläden im Erdgeschoß sind heruntergelassen. »Frau Herbst ist tot.«, flüstern die Erwachsenen. Können Hexen einfach so sterben? Michael hat sowas noch nie gehört. Sie können sich in Kröten verwandeln, in Geister oder in Dornenbüsche! Aber einfach sterben?

Die Herbsthexe liegt in einem dunkel glänzenden Sarg in der Dorfkapelle. Michael wollte unbedingt mitkommen. Während der Pastor spricht, starrt Michael auf den Sarg. Eine Rauchwolke, ein rabenschwarzer Vogel, ein weißes Gespenst – irgendwas muss doch jetzt erscheinen!

Hinter Michael Getuschel: »Die Gute hatte es aber auch schwer. Erst bleiben die beiden Söhne im Krieg und dann beschlagnahmen die noch ihr halbes Haus! Alles wegen dieser Polacken! Neun Bälger! Das muss man sich mal vorstellen! Die reine Zumutung, sowas!«

 

Winter = Ruhm

 

»Und unser Michael hat wieder mal den Vogel abgeschossen!«, sagt Frau Hennig. Alle Kinder lachen. Sie wirft das Matheheft wie einen dreckigen Lappen auf Michaels Tisch. Noch im Flug erkennt er das viele Rot, das zwischen den blau beschrieben Seiten aufblitzt. Er schaut zum Fenster. Es schneit wie verrückt. Heute wird er den Pol erobern! Genau! Die werden alle schon noch sehen!

Michael kämpft sich vorwärts. Der Schnee ist pappig und klebt in großen Klumpen an der Unterseite der Ski fest. Er hätte sie nochmal wachsen sollen, aber egal. Mit solchen Widrigkeiten mussten Amundsen und Scott auch fertig werden. Frau Polsterer aus der Bibliothek hat ihm das Buch gegeben. Sie mag ihn, das kann er spüren. Sie trägt ein warmes Lächeln und eine dicke Hornbrille, damit sie alles ganz genau lesen kann. Frau Polsterer wäre garantiert stolz auf ihn. Aber erst muss er den Pol erobern. Nur wo? Michael beschließt, dass sich der Pol bei der einzelnen Weide am Bach hinter dem Auwald befindet. Das ist weit genug, um keine Memme zu sein, aber auch nah genug, um zu Hause anzukommen, bevor es richtig dunkel wird!

Die Kälte beißt mit spitzen eisigen Zähnen in Michaels Hände und Füße. Bei jedem Einatmen kleben die Nasenflügel zusammen, als hätte jemand Leim rein geschmiert. Michael schnauft. Er darf nicht anhalten, sonst erfriert er, wie der arme Scott. Der Gedanke lässt ihn erschauern. Allerdings würden dann alle daran denken müssen, wie böse sie zu ihm waren und dass sie es jetzt nicht wieder gut machen können! Und sie würden bitterlich weinen und wären bestraft für ihr ganzes Leben! Eine warme Zufriedenheit durchströmt ihn. Er versinkt so tief darin, dass ihm nicht auffällt, wie die Sonne vom Himmel verschwindet und die Schneeflocken dicker werden.

Als Michael zitternd und erschöpft an der Weide ankommt, ist es stockdunkel. Der Pol ist zugeschneit und sieht aus, wie ein großer finsterer Pilz. Und kein Glücksgefühl weit und breit! Nur Angst ist da, Angst vor dem Rückweg, vor dem, was sein Vater sagen wird und vor den traurigen Augen seiner Mutter.

Blaue Lichter durchzucken das Schneegestöber wie matte Blitze. Schatten huschen ins Haus und wieder hinaus. Beim Näherkommen erkennt Michael die riesenhafte Gestalt seines Vaters. Sein rechter Arm weist in schneller Folge auf den Himmel, die Polizeiautos und dann in Richtung Wald. Dann erstarrt die Bewegung.

Michaels linke Wange brennt noch immer. Aber es macht ihm nichts aus. Es ist warm im Bett. Aller Heldenmut und aller Stolz sind jetzt aufgetaut und Michael badet in dieser Wohligkeit, bis ihn der Schlaf samt seiner Berühmtheit behutsam in die Arme schließt.

V2